Das Gefühl Schimanski

Zum 40. Jubiläum der „Tatort“ -Reihe wird hoffentlich der Mythos von Duisburg gefeiert.

Jetzt, da es diese Imbissbuden und diese Amtsstuben mit Waschbecken und diese Spielzeuggeschäfte nicht mehr gibt (und diese langen Flure mit Linoleumboden nur noch beim Bezirksamt) – jetzt vermisse ich sie. Früher fand ich das alles scheußlich. Manchmal gehe ich in einen kleinen schäbigen Waschsalon (nicht mit Automaten, sondern mit mürrischer Frau hinterm Tresen) oder eine muffige Änderungsschneiderei, und dann ist es wieder da: das Schimanski-Gefühl. Das Schimanski-Gefühl ist wie Nachhausekommen. Es ist eine regennasse Straße in Duisburg. Es ist die Industriekulisse, die Schimanski vor seinem Fenster sieht, wenn er in „Duisburg-Ruhrort“ aus dem Bett steigt. Es sind die trüben Kneipen mit dem Billardtisch und den schmierigen Fenstern, in denen er mitten am Tag sitzt und Schnäpse trinkt und manchmal erwacht, wenn der Morgen graut.

Die „Tatort“-Reihe war nicht so gedacht, aber sie ist ein Seismograf der bundesdeutschen Wirklichkeit geworden. Nicht die Kriminalhandlungen sind das Bemerkenswerte, sondern die Schauplätze: Bürofluchten und Reihenhäuser, Kaschemmen und Kegellokale, Busse und Bordelle, Fußballplätze und Werkstätten. Die föderale Struktur der ARD bedingt es, dass diese Stätten über Deutschland (und Wien) verteilt sind – und der „Tatort“ ist immer am besten, wenn das Lokalkolorit kräftig gezeichnet wird. Dominik Grafs legendärer Film „Frau Bu lacht“ von 1996 zeigt München in Verbindung mit einer thailändischen Mädchenhändlerbande, Schmetterlinge fliegen herum, der Dolmetscher behauptet, in Schokoladenbonbons seien getrocknete Frösche verarbeitet (und es knackt): So sieht man bis zum Schluss kaum einen sinistren Mörder oder finsteren Ganoven, sondern wird verzaubert von der schieren Fremdheit der Sitten und Gebräuche – und wundert sich plötzlich über die Gewohnheiten und Merkwürdigkeiten der Polizisten Batic und Leitmayr.

Die Schimanski-Filme von Hajo Gies, zumal die frühen, zeichnen sich durch oft absurde, unübersichtliche und unglaubwürdige Plots aus – und es ist gerade dieses Dickicht, das Götz George die Freiheit lässt für seine erstaunlichen Einblicke in das Wesen eines Soziopathen. Aber erst durch den anstrengungslos genialen Eberhard Feik als Thanner bekam Schimanski die richtige Fallhöhe – den Antipoden, der das Deutsche, die Bürokratie, das Spießertum und den Amtsschimmel verkörpert. Interessanterweise ist Thanner bis heute beim Publikum beliebter als Schimanski selbst. Das hängt damit zusammen, dass Feik immer eine negative Identifikationsfigur war: Der Zuschauer will zwar wie Schimanski sein, aber nicht so leiden müssen – und tief im Inneren weiß er auch, dass er eigentlich Thanner ist. In der Geschichte der großen Tandems haben George und Feik durchaus den Rang von Laurel und Hardy, Karlstadt und Valentin, Pat und Patachon, James Garner und Noah Beery in „Rockford“. Feiks Tod im Jahr 1994 war der niemals zu kompensierende Verlust der Reihe: Erst vor dem Horizont von Thanners deppertem und nutzlosem Bildungsbürgertum blühen Schimanskis Intuition, seine Brutalität und Maßlosigkeit auf. Thanner repräsentiert den Staat und setzt die Grenzen, damit Schimanski sie überschreiten, überspringen, überleben kann: der letzte Barbar unter lauter Domestizierten. Zu dem „Mädchen auf der Treppe“ hat er sofort eine instinktive Nähe, die nicht erotisch ist, denn Schimanski ist ja niemals erwachsen geworden. Unheimliche, rätselhafte Frauen wie die heißkalte Tänzerin in „Gebrochene Blüten“ und Maja Maranow im „Fall Schimanski“ täuschen ihn und nutzen ihn aus, er ist ihnen nicht gewachsen. In „Zabou“ kämpft er um die Liebe seiner Tochter, um die er sich jahrelang nicht gekümmert hatte und die jetzt Drogen und Verbrechen verfallen ist. In schmerzlichen Schwarzweiß-Rückblenden zeigt der Film den Schimanski der 60er-Jahre, die Fahrten ans Wasser, das Drachensteigen, das offene Auto. Joe Cocker röhrt immer wieder „Now That You’re Gone“. Es muss die Liebe gewesen sein, die Horst Schimanski für immer versehrt hat.

Doch niemals endet die Hassliebe zu Christian Thanner. In den Szenen, in denen Thanner bei Schimanski wohnt und mit umgebundener Kochschürze das Abendbrot zubereitet, sehen wir das Elend der Bindungsunfähigkeit des Menschen: Schimanski stibitzt sich Wurst aus dem Kühlschrank und bemerkt die Bemühungen seines Partners gar nicht. Der gekränkte Thanner will daraufhin das Experiment aufgeben. Wie so oft kommt allerdings Chiem van Houweninge als Hänschen, der holländische Clown und Mediator, hinzu. Er teilt mit Schimanski die Grundeinsicht, dass alles Leben volatil ist, folglich auch ihr Beruf, und dass es am Ende gleichgültig ist, auf welcher Seite des Gesetzes man steht. Über Thanners biedere Ambitionen lachen sie. Ulrich Matschoss (und später Peter Fitz) als Kriminaloberrat stehen für den Amtsapparat, der hierarchisch quietscht und knarzt und mit Sanktionen droht, während auf den Straßen jederzeit Anarchie droht. Es ist wunderbar, wenn Matschoss über die Amtsleitung nach Köln telefoniert und dort die Urlaubsvertretung eines Beamten verlangt, aber nur an die Sekretärin und Unbefugte gerät.

Im nächsten Jahr wird Schimanski 30 Jahre alt. Und er wird sich wieder in Unterhose aus dem Bett quälen, vor dem Fenster das trostlose, großartige Panorama des Spätindustrialismus, die Stahltürme und Schornsteine, und die Sonne wird diesig aufgehen. Und die Shangri-Las werden wieder „Leader Of The Pack“ singen – ein Lied, das Horst Schimanski niemals hören würde.

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