Das fünfte Element

Man will es nicht glauben, aber Lou Reed und Metallica haben tatsächlich eine gemeinsame Platte aufgenommen. Wir trafen die Musiker in London.

Wollen Sie das Gespräch mit diesem Ding da aufzeichnen?“ Lou Reed zeigt auf das vor ihm liegende Smartphone und blinzelt gefährlich. Alt ist er geworden. Die wettergegerbte Reptilienhaut durchziehen immer tiefere Krater. Im März feierte der Musiker seinen 69. Geburtstag, und als er eben den Flur entlanggeschlurft kam, war man einen Moment lang erschrocken. Der Rücken gramgebeugt, die Schritte bedächtig, die Konzentration ganz auf die Fortbewegung gerichtet. Einmal das Telefon erblickt, ist er jedoch voll da. Seine Augen taxieren Gerät und Gesprächspartner mit einer Mischung aus verschmitztem Grinsen und angriffslustigem Argwohn.

Ganz grundsätzlich gilt: Wenn dieser Mann sich zu Beginn eines Interviews nach dem Aufnahmegerät erkundigt, ist das kein besonders guter Start. Reed mag von der Last der Jahre und seinem früheren Lebensstil gebeugt sein, trotzdem ist der alte Luchs immer noch in jeder Sekunde wachsam, wenn es um das geht, was er sein Leben lang nicht ausreichend gewürdigt empfand: sein Genie. Spätestens seit der überwiegend vernichtenden Rezeption seines dritten Solo-Albums „Berlin“ hält er die meisten Journalisten für ignorante Parvenüs, nicht willens oder in der Lage, den Großkünstler Lou Reed zu durchdringen. Folglich macht er sich einen Spaß daraus, das Wissen seiner Interviewer zu testen, sie auflaufen zu lassen – und bei vermeintlicher Ahnungslosigkeit in der Luft zu zerreißen.

Hinzu kommt im konkreten Fall, dass man sich Lou Reed nicht unbedingt als Liebhaber moderner Technologien und digitaler Aufnahmemethoden vorstellen kann. Aber dann die erste Überraschung an diesem Nachmittag: Diese modernen Smartphones seien außerordentlich praktisch, verkündet er nach einer längeren Pause mit beinahe säuseliger Stimme. Er selbst bediene sich solcher Geräte seit längerer Zeit, um Songideen festzuhalten. Lou Reed daheim mit der Gitarre vorm iPhone – eine beinahe ebenso absurde Vorstellung wie der Anlass des heutigen Gesprächs.

Es ist ein sonniger Julitag. Reed und Metallica haben ihre jeweiligen Europa-Tourneen unterbrochen, um sich in einem Londoner Hotel erstmals zu einem abenteuerlichen Unterfangen zu äußern: Die auf den ersten Blick völlig gegensätzlichen Musiker haben sich tatsächlich zu einer Art Loutallica zusammengetan und ein gemeinsames Album aufgenommen, „Lulu“.

Vorstellen muss man die beiden Parteien nicht mehr: Metallica erfanden in den 80er-Jahren gemeinsam mit einigen anderen den Thrash Metal, überführten ihren zwischenzeitlich gemäßigteren Stil später in die Stadien und haben sich, nach einer Krise Anfang des Jahrtausends, endgültig als größte Metal-Band aller Zeiten konsolidiert.

Lou Reed indes ist natürlich der große Pionier der avantgardistischen Rockmusik. Ewiger Misanthrop, auf exemplarische Weise lakonischer New Yorker, ein literarischer Songschreiber der Sonderklasse und insgesamt einer der besten, die wir haben. Ganz ehrlich: Man hätte nicht gedacht, dass Lou Reed weiß, dass es eine Band namens Metallica überhaupt gibt.

Mr. Reed, wie lange kennen Sie Metallica schon?

Lou Reed: Schon immer. Ich bin ihr größter Fan.

Interessant. Welches Ihrer Alben schätzen Sie denn am meisten?

Reed: Ich liebe sie alle gleichermaßen, jedes einzelne von ihnen.

Ist Ihrer beider Begeisterung für das Werk von Lou Reed ähnlich ausgeprägt, Lars Ulrich und James Hetfield? Sie werden ja sicher bereits mit seiner Musik in Berührung gekommen sein, als Sie noch jünger waren …

Reed: Was meinen Sie damit, „als Sie jünger waren“, was soll das bedeuten?

Nun, dass sie bereits in Ihrer Jugend mit Ihrer Musik vertraut waren, also lange, bevor Sie sich wirklich kennenlernten …

Reed: Ach so.

James Hetfield: Als ich an der amerikanischen Westküste aufgewachsen bin, war Lou Reed für mich ein Synonym für New York. Ich war ein junger kalifornischer Skater, der keine Ahnung von der Ostküste hatte. Also stellte ich mir einen typischen New Yorker exakt so vor wie Lou Reed. Damals war ich natürlich längst noch nicht so weit in meiner musikalischen Entwicklung wie heute und auch noch nicht so offen. Erst in den vergangenen Jahren ist mir die unglaubliche Tiefe bewusst geworden, die in Lous Texten liegt. Das lässt sich schwer beschreiben …. Aber seine Sachen ließen mich ein Universum anzapfen, von dem ich als Skateboard-Kid keine Ahnung hatte.

Die Verehrung, die aus diesen Worten Hetfields spricht, war im Oktober 2009 förmlich greifbar. Damals waren die ungleichen Musiker einander erstmals begegnet. Anlässlich eines gemeinsamen Auftritts im Rahmen der Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum der Rock And Roll Hall Of Fame spielten sie die Reed-Klassiker „White Light/White Heat“ und „Sweet Jane“. Man findet das dazugehörige Video noch im Internet und kann sich also von dem an Demut grenzenden Res-pekt überzeugen, mit dem Metallica an jenem Abend agierten. Die gestandenen Metal-Musiker und Plattenmillionäre wirkten in der Gegenwart des Alten beinahe wie unmündige Schulbuben.

Auch im Gespräch sind die Rollen klar verteilt: Reed sitzt vornübergebeugt auf einem Stuhl, James Hetfield und Lars Ulrich ein Stück dahinter auf der Couch. Kirk Hammett und Rob Trujillo geben ihre Interviews getrennt in einem anderen Raum. Die Metallica-Musiker sprechen insgesamt mehr als Reed, aber immer, wenn Onkel Lou seine Stimme erhebt, schweigen sie ehrfürchtig und beobachten ihn mit bewundernden (Hetfield), teilweise aber auch besorgten Blicken (Ulrich).

Wie zu hören ist, hat der Metallica-Manager Peter Mensch Ulrich instruiert, ein bisschen darauf zu achten, dass Reed sich in den gemeinsamen Interviews benimmt. Ein Job, den der umsichtige Schlagzeuger höflich, aber doch spürbar erledigt, indem er immer wieder relativierend und erklärend eingreift, wenn Reed garstig oder allzu albern wird. Mensch ist in London übrigens ebenso zugegen wie der Fotograf Anton Corbijn sowie die Frauen und Kinder von Ulrich und Hetfield, was der eigentlich hochprofessionell durchorganisierten Veranstaltung die trügerische Anmutung eines relaxten Familienausflugs verleiht.

Beim Ansehen des Mitschnitts Ihres Konzerts in der Rock And Roll Hall Of Fame wirken Sie alle zunächst etwas gehemmt. Der Respekt voreinander ist deutlich zu spüren.

Reed: (grinst spöttisch)

Erst nach einer Weile scheint sich die Stimmung gelockert zu haben. Ein korrekter Eindruck?

Reed: Wir leisteten an diesem Abend einen Blutschwur, dass wir irgendwann …

Lars Ulrich: … In den Gedärmen des Madison Square Garden. Blut spritzte, als wir davonrannten.

Reed: Alles zerfetzte …

Ulrich: Als ich zu meinem Auto ging, rief mir Lou hinterher, dass wir irgendwann mal eine Platte zusammen machen sollten. Ich fand, das sei eine hervorragende Idee.

Was unterscheidet Metallica von anderen Musikern, mit denen Sie im Verlauf Ihrer Karriere zusammengearbeitet haben, Mr. Reed?

Reed: Sie sind die Brüder, die ich immer gesucht habe. Sie haben Power. Meinetwegen können Sie das Metal nennen oder Punk oder wie auch immer. Aber diese Jungs können wirklich spielen. Und zwar auf einem Niveau, nach dem ich mich stets gesehnt hatte. Als wir gemeinsam diese Show im Madison Square Garden gespielt haben, fügte sich plötzlich alles zusammen.

Dabei unterscheidet sich die Herangehensweise von Metallica ja grundlegend von der der meisten Rock-, Blues- oder Jazz-Musiker. Ihre Songs basieren auf Riffs, die sie zu Hunderten aufnehmen und aus deren Versatzstücken dann Songs konstruiert werden.

Reed: James ist ein Riff-Monster!

Ulrich: Das ist allerdings nur ein Teil des Ganzen. Natürlich basiert das Meiste auf Riffs, aber ich lege schon Wert auf die Feststellung, dass am Ende immer ein richtiger Song steht.

Hetfield: Normalerweise beginnen wir Songs mit einem Riff und einer Melodie. Dieses Mal haben wir uns komplett nach den Texten gerichtet. Eine andere Herangehensweise, die insbesondere mir als Texter ganz neue Möglichkeiten eröffnet hat.

Stimmt es, dass Sie Ihren ursprünglichen Plan, weniger bekannte Songs aus dem Katalog von Lou Reed zusammen neu einzuspielen, zugunsten der „Lulu“-Neubearbeitung verworfen haben?

Reed: Nein, das ist nicht ganz korrekt. Eigentlich war geplant, ausschließlich Songs von Paul McCartney nachzuspielen.

Von dem gibt’s ja auch ein paar ganz gute Songs …

Reed: Exakt. Trotzdem haben wir dann beschlossen, die „Lulu“-Stücke, die ich für Bob Wilson geschrieben hatte, aufzunehmen. Das Stück wird übrigens in Ihrem Heimatland aufgeführt.

Sogar in meiner Heimatstadt, ich komme aus Berlin.

Reed: Na also!

Ich plane einen Besuch im Berliner Ensemble. Können Sie das Stück empfehlen?

Reed: Selbstverständlich, ich habe extrem viel Zeit damit verbracht, für dieses Stück zu schreiben. Sie wissen, wovon wir hier reden, oder?

Natürlich.

Reed: „Lulu“ von … Wie heißt der Autor noch mal? Wilsons Inszenierung basiert auf einem Stück des Mannes, der auch „Frühlings Erwachen“ geschrieben hat.

Ulrich: Er heißt Frank Wedekind.

Reed: Genau. Wie wir wissen, hat er zwei Dramen mit der Figur der Lulu geschrieben, die in Bob Wilsons Inszenierung zusammenflossen. Und ich habe versucht, die Handlung zu vertonen. Damit war die Sache eigentlich erledigt. Aber als es jetzt an das Projekt mit Metallica ging, rief ich Lars an und erzählte ihm von diesem überaus interessanten Stoff. Musik, die bis dahin noch niemand gehört hatte – außer 133 Leuten in Berlin.

Ulrich: Lou fragte uns, eine Woche bevor wie loslegten, ob wir bereit seien, etwas zu wagen, ein Abenteuer einzugehen.

Reed: Eigentlich war die Frage eher: Seid ihr bereit, eure Karriere zu riskieren?

Hetfield: (lacht) Bei jedem Album!

Als Lou Reed die Metallica-Musiker im April 2011 mit der Idee überraschte, statt neuer Versionen einiger Reed-Klassiker doch lieber ein Album auf der Grundlage seines „Lulu“-Materials einzuspielen, waren die Reaktionen noch nicht ganz so euphorisch. Die ursprünglichen Beiträge, die Reed für die besagte Wedekind-Inszenierung seines alten Freundes Robert Wilson am Berliner Ensemble geschrieben hatte, bestehen aus dronenhaft abgründigen Meditationen über sexuelles Verlangen, menschliche Verwerfungen und die Bigotterie und Doppelmoral des Bürgertums, durchzogen von sinistren Elektro-Kaskaden.

Also nicht unbedingt die Art von Musik, für die Metallica normalerweise bekannt sind. Insbesondere Hetfield war zunächst skeptisch, doch irgendwann packte es den Metallica-Sänger: „Der Schlüssel zum Verständnis dieser Musik waren die Texte“, sagt er. Reed ließ den neuen Mitmusikern maximale Freiheit, indem er ihnen erklärte, dass sie seine Songs nicht als starre Vorgaben, sondern als groben musikalischen Rahmen, in dem nur die Texte fix seien, begreifen sollten. So schrieb die Band neue Riffs, Arrangements und Melodien, um die misanthropischen Betrachtungen Reeds in ihrer Wirkung zu verstärken. Aufgenommen wurde „Lulu“ zusammen mit den Produzenten Hal Wilner (Lou Reed) und Greg Fidelman (Metallica) überwiegend live im HQ. Jenem Studio in Nordkalifornien also, das Metallica 2003 für die Produktion von „St. Anger“ gebaut hatten, und das durch den Film „Some Kind Of Mons-ter“ weltweite Bekanntheit erlangte.

Wie hat die Zusammenarbeit funktioniert?

Hetfield: Dieser eine große Moment, den ich immer in meinem Herzen tragen werde: Als Lou und seine Leute ins HQ kamen, um sich alles anzusehen, begannen wir spontan mit den Aufnahmen und hatten binnen kürzester Zeit sieben Songs im Kasten. Das war eigentlich als ein erster Kennenlern-Termin zum gegenseitigen Abtasten geplant. Doch ehe wir uns versahen, hatten wir fast das komplette Album fertig.

Reed: Wir sind sehr vorsichtig miteinander umgegangen, sehr behutsam. Regel Nummer eins: Niemand darf hier rein. Totale Konzentration auf das Projekt, keine Außenmeinungen, keine Ablenkung durch wen oder was auch immer, kein Blabla. Die alte Schule: die da draußen – und wir hier in diesem Raum. Innerhalb weniger Stunden platzte der Knoten.

Dabei könnte man ja durchaus denken, dass Sie absolut nicht zusammenpassen.

Reed: Es gibt praktisch niemanden, der besser zusammenpasst als wir.

Ulrich: Langsam gehen mir die Vorbehalte der Leute, die unsere Zusammenarbeit seltsam finden, ziemlich auf die Nerven. Wir bei Metallica waren niemals konform, haben keine Erwartungshaltungen bedient und sind stets musikalische Risiken eingegangen. Wir leben in unserer eigenen Welt, es kümmert uns nicht, was die anderen machen. Und bei Lou ist es genauso: Er hat immer sein Ding gemacht, egal, ob das gerade angesagt war oder nicht. Was unsere Philosophie betrifft, sind wir uns also sehr ähnlich, Lou Reed und wir sind quasi Seelenverwandte.

Reed: Wir wussten sofort, dass wir wie füreinander geschaffen sind. Ohne jede Frage, eine absolut einmalige Situation.

Hetfield: (erregt) „Warum machen sie das, warum sollte Lou so etwas machen, was denken sie sich dabei?“ Ich liebe diesen eindimensionalen Schwachsinn, das spornt mich nur noch zusätzlich an, diese Sache durchzuziehen.

Nun, Sie kommen aus sehr unterschiedlichen musikalischen Richtungen, da wird die Frage wohl erlaubt sein …

Hetfield: Die einzige Frage, die sich gestellt hat, war: Können zwei Einzelgänger miteinander klarkommen? Und bis jetzt lautet die Antwort Ja. Lou hat uns mehr geholfen, als ihm wahrscheinlich bewusst ist. Als Musiker, was das Zusammenspiel betrifft, vor allem aber als Menschen. Von der ersten Note bis zu den Fotos war das Ziel, sich der Magie des Moments hinzugeben. Es geht um das, was es ist, nicht um das, was es sein könnte.

Aber was ist es denn nun? Eine Frage, auf die wir leider keine zufriedenstellende Antwort geben können. Zum Interview ist die Platte noch nicht fertig. Angesichts der wenigen Songs, die vorab zur Verfügung gestellt werden, lässt sich aber sagen: „Lulu“ ist eindeutig schwere Kost. Ein Album, das weder das Reed- noch das Metallica-Lager befriedigen dürfte, das verstören, teilweise sogar belustigen wird. Auf den ersten Blick hat das Material mehr von einem Mash-up als von einer Symbiose. Man denkt jedenfalls nicht unbedingt, dass hier aus verschiedenen Welten stammende Musiker gemeinsam musikalisches Neuland betreten haben.

Sollte das fertige Album diesen Eindruck vertiefen, könnte genau darin der Grund liegen, aus dem Lou Reed und Metallica natürlich doch bestens zusammenpassen: Wenn eine der beiden Parteien in der Vergangenheit versucht hat, sich besonders kunstsinnig und experimentell zu gebärden, kam dabei nicht selten schlechte Musik oder unhörbarer Schrott heraus. Das gilt für Reeds ewiges Paradebeispiel „Metal Machine Music“ ebenso wie für Metallicas „St. Anger“. Andersrum gelangen beiden immer wieder herausragende Alben, wenn sie einfach nur das getan haben, was in ihnen steckt. Ohne großes Konzept oder übertriebene Ambition. Allerdings: Dass es ausgerechnet „Lulu“ an Ambition mangelt, wird keiner behaupten wollen.

Wedekinds Lulu-Dramen sind schwierige Stoffe, nahezu alle Inszenierungen gelten als gescheitert, quasi nicht adäquat auf die Bühne zu bringende Stücke … Wie haben Sie sich dem Material genähert, Mr. Reed?

Reed: Ich hatte absolut nichts mit der Inszenierung zu tun, das ist Bob Wilsons Problem. Ich kann nur über die Musik für das Stück und die Platte mit Metallica sprechen, und da gab es absolut keine Probleme.

Auch Sie werden sich in die Charaktere eingefühlt haben, um die Erlebniswelt der verschiedenen Personen auf Ihre Musik übertragen zu können, oder? Einige der Songs sind etwa deutlich aus der weiblichen Perspektive der Lulu erzählt. Wie leicht ist es Ihnen gefallen, diese einzunehmen?

Reed: Die Hauptfigur ist eine Frau, und nach allem, was wir wissen, bin ich wohl ein Autor. Man erwartet von mir, andere Perspektiven einnehmen zu können, das ist mein Job.

Mag sein. Aber es könnte doch trotzdem interessant sein, zumal für Leute, die selbst nicht schreiben, einen Einblick in Ihre Methodik zu erhalten …

Reed: Nun, wenn Sie das so toll und bemerkenswert finden, können Sie genauso gut einem Ukulele-Spieler dazu gratulieren, dass er eine Anfänger-Nummer wie „Twinkle, Twinkle Star“ beherrscht.

Ulrich: Das ergibt Sinn. (lacht)

Hetfield: Ich spiele ein bisschen Ukulele, aber nur ein bisschen.

Nachdem Sie sich den Stoff also offensichtlich ohne Probleme angeeignet haben: Was für eine Frau ist Lulu in Ihrer Interpretation? Opfer, Hure, Femme fatale oder womöglich gar eine frühe Vorkämpferin der Emanzipation?

Reed: Letzteres wohl kaum! In Georg Wilhelm Pabsts Verfilmung „Die Büchse der Pandora“ hat Loui-se Brooks die Lulu gespielt, ihre Interpretation der Figur diente mir als Grundlage. Die schnelle Abfolge verschiedener Liebhaber und die Art, wie sie mit diesen Männern umgegangen ist, war das Lustige an der ganzen Sache.

Nicht zuletzt wegen dieser für die Zeit ungewöhnlich starken Frauenrolle wurde Wedekinds Stoff zum Zeitpunkt seines Entstehens kontrovers diskutiert, das Stück entlarvte die bürgerliche Doppelmoral. Am Ende wird Lulu zum Opfer männlicher Besitzansprüche.

Reed: Lulu ist das Gegenteil all dieser Dinge. Alle sind verrückt nach ihr, was sie selbst nicht im Gerings-ten kümmert. Sie unterwirft sich eben nicht.

Trotzdem wird sie zum Schluss umgebracht – von einem Mann.

Reed: Ja, sie wird bestraft. Aber nicht von irgendeinem Mann, sondern ausgerechnet von Jack The Ripper.

Ein Vorgang, den Sie in dem Song „Pumping Blood“ relativ drastisch instrumentieren, die Grausamkeit des Mordes ist quasi körperlich spürbar.

Reed: Das ist einer unserer besten Songs. Sprechen wir über die geschäftlichen Aspekte dieses Projekts. Soweit ich informiert bin, hat keiner von Ihnen aktuell einen gültigen Plattenvertrag …

Ulrich: Es gibt nichts Unwichtigeres als Plattenverträge.

Reed: Ich spreche in Interviews grundsätzlich nicht über geschäftliche Dinge. Ich bin absolut nicht der Meinung, dass meine geschäftlichen Belange irgendjemanden etwas angehen. Ich äußere mich zu meiner Musik, dazu können Sie mich befragen.

Es gibt ein Zitat von Ihnen aus einem vorangegangenen Interview, in dem Sie diesem Aspekt eine besondere Bedeutung einräumen, deshalb die Frage. Es ging darum, herauszufinden, inwiefern diese Ausgangssituation etwas mit der künstlerischen Freiheit zu tun hat, auf die Sie hier im Gespräch so viel Wert legen.

Hetfield: Wir bei Metallica waren zu jedem Zeitpunkt unserer Karriere absolut frei in unseren künstlerischen Entscheidungen, mit oder ohne Plattenvertrag. Wird es Konzerte geben?

Reed: Man darf nicht vergessen, wie viel Kraft es gekostet hat, diese Sache richtig zu machen. Die Vorstellung, das nun auf die Bühne zu bringen, jagt mir ein bisschen Angst ein. Diese Songs verlangen mir eine Menge ab, da gibt es einige Stellen, für deren Umsetzung ich einen sehr dunklen Ort in mir aufsuchen muss. Die Songs sind nicht nur aus Lulus Perspektive geschrieben worden, es gibt auch einige Sachen, die aus der Sicht jener Leute erzählt werden, die Lulu verletzt und sie letztlich auf dem Gewissen haben. Während man so etwas spielt, durchlebt man all diese Dinge. Wir sind ja keine Maschinen.

Bisweilen wirken Sie wie eine, auch im fünften Jahrzehnt Ihrer Karriere sind Sie überaus umtriebig. Was treibt Sie immer noch an?

Reed: Ich spiele nun einmal gerne. Das ist alles?

Reed: So ziemlich. Ich schätze, ich bin wohl mit 14 in meiner Entwicklung stehen geblieben.

Ulrich: Dann bist du immerhin ein paar Jahre älter als wir. (lacht) Reed: Was mich mein Leben lang interessiert hat, war, die traditionellen A-B-A-B-Standards im Songwriting zu durchbrechen und eine andere Form des Gesangs zu etablieren als in der Pop- und Rockmusik üblich. Aber ich habe nie die Leute getroffen, mit denen ich das optimal umsetzen konnte. Mit diesen Jungs habe ich es endlich erreicht.

Mr. Ulrich, Sie wollten gerade noch etwas sagen?

Ulrich: Ach Gott, irgendwas will ich immer sagen. Ich kann meinen Mund nicht besonders lange halten, da ist es nicht so schlimm, wenn ich mal nicht das letzte Wort habe – ich weiß, wo mein Platz in dieser Konstellation ist.

Und dann war die Zeit vorbei. Ein bisschen schade: Gerne hätten wir Lou Reed noch gefragt, was wohl John Cale zu seiner letzten Antwort sagen würde.

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