Das europäische Ich
Der I7’jährige Jean Giraud war gerade von der Pariser Academie des Beaux’Arts aufgenommen worden und hatte auch schon erste Illustrationen zu publizieren begonnen, als er sich erst mal eine achtmonatige Auszeit gönnte, um seine in Mexiko wieder verheiratete Mutter zu besuchen. Dieser Aufenthalt, 1955/56, bescherte ihm ein Initiationserlebnis, das er später, in seiner Aubiografie „Histoire de mon double“, wortreich zu illuminieren versteht. „Auf der Suche nach ein wenig Kühle und Wasser war ich in eine Kneipe am Straßenrand eingetreten. Die Hintertür war offen. Durch diesen leuchtenden offenen Rahmen im Halbschatten sah ich die Wüste sich erstrecken, bis an den Horizont. Ein absolutes Bild.“ Und noch dazu ein Comic-Bild — mit der Türzarge als Rahmen! „Dort habe ich mein Bündnis mit dem Western geschlossen, mit der unendlichen Wüste und ihrem Zauber. Diesen beispiellosen Sinneseindruck, diesen Blitz, habe ich immer in meine Comics zu übertragen versucht… Es ist, als hätte meine Entdeckung der Mexikanischen Wüste kein anderes Ziel gehabt, als mich darauf vorzubereiten, das Universum von ,Blueberry‘ zu zeichnen.“ Aber eben nicht nur das. Auch der schweigsame Wüstenkrieger Arzach und Major Gruber, die beiden Protagonisten aus den gerade bei Cross Cult wieder aufgelegten kanonischen Science-Fiction-Alben „Arzach“ und „Die luftdichte Garage“, die sich sein Alter ego Moebius ausgedacht hat, durchqueren immer wieder ästhetische Filiationen dieser mexikanischen Ur-Wüste. In dieser kargen, unwirtlichen, aber auch vogelfreien und den Menschen auf die elementaren Prinzipien reduzierenden Topographie finden Giraud und Moebius, diese beiden Artistenpersönlichkeiten, die gegensätzlicher nicht sein könnten, wieder zusammen. Ein Doppelleben fürwahr!
Giraud erneuert mit der 1963 begonnenen und über vier Jahrzehnte betreuten „Lieutenant Blueberry“-Serie die amerikanische Tradition der Abenteuercomics, dessen Rezeption von den Nazis schlagartig unterbunden wurde, und führt sie zur Vollendung. Seine detailreichen, akribisch getuschten und durch die vielen Schraffuren, Linien, Punkte und schwarzen Flächen immer etwas dunklen, schmutzigen Zeichnungen schaffen eine kongeniale Visualisierungder harten Western-Realität, in der sich Michael Steve Donovan behaupten muss, der gebürtige Südstaatler, der unter dem falschen Namen Blueberry auf Seiten der Unionstruppen gekämpft hat und auch nach deren Sieg in der Armee Dienst schiebt. Und Giraud erweitert das formale Repertoire des Abenteuercomics: Er lässt. seinen Helden sukzessive altern – ein absolutes Novum in der Comicgeschichte, das erst Jahrzehnte später von Frank Miller und anderen nachgeahmt wird.
Seine Farbgebung geht nicht mehr auf in ihrer klassischen Funktion als Dekor der Handlung, sondern bildet Stimmungen und Seelenzustände ab – am deutlichsten sichtbar im „Tombstone“-Zyklus, dem späten Höhepunkt der Serie. Und er gibt die schematische Aufteilung der Seite, das „Kino im Comic“, auf zugunsten einer immer größeren Vielseitigkeit der Panel-Gestaltung, Giraud nimmt sich Raum für große Landschaftspanoramen oder montiert Bilder in Bilder vor allem nach dem Tod des Szenaristen Jean-Michel Charliers 1089, in dessen Folge Giraud für Blueberry allein verantwortlich war. Mit der gerade begonnenen splendide aufgemachten und gut bevorworteten Werkausgabe, den „Blueberry-Chroniken“ (Ehapa), lässt sich diese qualitative Entwicklung Girauds leider kaum nachvollziehen, weil sie die Bände nicht in der Reihenfolge ihres Erscheinen ediert, sondern einer inhaltlichen Chronologie gehorcht. Sie beginnt mit den Jugendabenteuern Blueberrys, die Ende der 6oer Jahre erstmals erschienen sind, da hatte sich Girauds Kunst bereits ziemlich entwickelt.
Und dann ist da eben noch Moebius, der in den Siebzigern mit seinen Arbeiten für das eigene Comic-Magazin „Metal hurlant“ – bzw. dessen Ableger „Heavy Metal“ und „Schwennetau“ -, vor allem mit „Arzach“ den Archetyp moderner Science Fiction schuf. Moebius’archaisch-psychedelische Fantasy-Imaginationen haben sich ins kollektive Bildgedächtnis eingebrannt, ohne sie wäre beispielsweise die gesamte „Star Wars“-Ausstattung-oder „Alien“ oder „Das fünfte Element“, für die man ihn dann auch gleich um Hilfe gebeten hat -gar nicht denkbar gewesen wäre. Wenn heute irgendwo auf dieser Welt eine Zukunftsszenario visualisiert wird, partizipieren deren Zeichner und Filmer oder auch Literaten bewusst oder unbewusst an dessen Bildwelten.
Moebius ist das europäische Ich des Künstlers. Er entwickelt einen flüssigen, freihändigen Stil, ein „dessin automatique“ analog zur „ecriture automatique“
— die „meditative Linie“, die nie misslingt.
„Moebius kann keine Fehler machen“, konstatiert er ebenso selbstbewusst wie folgerichtig, denn die können ja nur dem passieren, der das zu erreichende Ziel vorher schon kennt.
Vielleicht ist es auch eine Frage der künstlerischen Ökonomie, wenn sich Giraud nach der konsequent kalkulierten Arbeit an „Blueberry“, nach der zeichnerischen Mühsal, die solche handwerkliche Perfektion notwendig nach sich zieht, immer wieder in Moebius verwandelt, um sich an einer freieren, offeneren Ästhetik abzuarbeiten. „Wenn man ein Bild zeichnet, bewegt es sich nicht mehr, es ist in der Zeit erstarrt“, hat er einmal bedauert. Um diese Erstarrung der Bilder zurückzunehmen, versucht er sich selbst mittels Improvisation zu überraschen und vermeidet strukturelle Geschlossenheit. Er erzählt bewusst episodisch, fragmentarisch und lässt so Interpretationsspielräume zu. In einem früheren Vorwort von „Die luftdichten Garage“, dieser legendären Kurzgeschichten-Serie, klopft er sich dafür selbst auf die Schulter: ,“Die luftdichte Garage‘ ist kein geschlossenes Werk. Sie verbirgt sich in Ouvertüren und Übergängen zu anderen Systemen. Solche expandierenden Universen erlauben es einem, sich alles vorzustellen.“
Hier spricht nicht zuletzt der Metaphysiker und ewige Hippie, der mit diversen halluzinogenen Substanzen experimentiert hat. In der Kunst durchaus mit Gewinn, im Lebensweltlichen nicht immer. So hing er ein volles Jahrzehnt an den Lippen des Ufo-Propheten Appel-Guery und konnte es gar nicht abwarten, dass endlich die Aliens kommen und ihn mitnehmen in ferne Sonnensysteme. Vom Zeichnen hat ihn aber auch diese Episode nicht abgehalten. Der sechsteilige Zyklus um den Weltraumdetektiv „John Difool“ entstand in diesen Jahren, ein weiterer Klassiker, der kurioserweise aus einem gut bezahlten Werbecomic für Citroen hervorging. So ganz sicher schien er sich offenbar nicht zu sein, ob sie denn wirklich kommen.