Das einzige Zuhause
Greil Marcus schrieb eine glänzende Studie über Bob Dylans "„Like A Rolling Stone" und den Weg durch die Zeit
Ein gelehrter Mann räsoniert auf etwa 200 Seiten über ein Lied, das 40 Jahre alt, sechs Minuten und vier Strophen lang ist Und dabei untersucht er gar nicht die Worte selbst, sondern alles das, was um sie herum ist: die Musik, die Atmosphäre, die Musiker, der Produzent, die Plattenfirma, die Journalisten, das amerikanische Radio, der Tod von John F. Kennedy, die Rolling Stones, die Beatles, Phil Spector und jene mysteriöse Entität, die wir Bob Dylan nennen und die den Song angeblich imaginiert hat. Im Prolog zitiert Greil Marcus den Komponisten Michael Pisaro, der über „Like A Rolling Stone“ nachgedacht hat: „Was ist das für eine Entscheidung, die Dylan vor Augen hat? (…) Das Bemerkenswerteste an Dylans Song besteht darin, daß er nicht nur dich (und mich) persönlich dazu auffordert, diese Entscheidung zu treffen, sondern daß er praktisch das ganze Land dazu auffordert, dies auf der Stelle zu tun. (…) Auf mich wirkt das wie der Aufruf zu einer spontanen Revolution – nicht unbedingt einer gewaltsamen, aber zweifellos einer sehr merkwürdigen. Wie würde ein Land von ‚Napoleons in Lumpen‘ wohl aussehen? Wie würde das Leben dort aussehen? Haufenweise arme Leute, die durch das Land vagabundieren, Reden halten und Barbecues veranstalten?“
Das Land hat sich am 16. Juni 1965, dem Tag der Aufnahme, nicht geändert und auch nicht, als „Like A Rolling Stone“ Platz zwei der Charts erreichte. Dennoch war das Stück eine Ein-Mann-Revolution, was sichtbar wird, wenn Greil Marcus die – großartigen – Hits des Jahres 1965 aufzählt: Petula Clarks „Downtown“, Sam Cookes „A Change Is Gonna Come“, „You’ve Lost That Lovin‘ Feeling“ von den Righteous Brothers, „Ticket To Ride“ von den Beatles. Es war Spector, der behauptete, „Like A Rolling Stone“ sei bloß „eine Idee“, keine „Platte“; dem Song fehle ein satterer Sound, naturgemäß der Spector-Sound. Umgekehrt kann man sagen, daß Spector stets Platten produzierte, aber keine Ideen.
In dieser scharfsinnigen Studie über eine Gestalt, die auf schlechte Parodien geschrumpft ist, scheint etwas auf, das Marcus‘ früheren Arbeiten meist fehlte: Humor. In einer Zeitschrift entdeckte Marcus 1997 das Inserat für ein Dylan-Konzert: „Heute abend, leibhaftig, in eigener Person: der legendäre‘ Bob Dylan (ßlowing In The Wind‘).“ Das ist exakt alles, was die Öffentlichkeit über Bob Dylan weiß und je wissen wird. Davon handelt der Film „Masked & Anonymous“, dessen Interpetation durch Marcus freilich vergnüglicher ist ab der Film selbst. Und davon handeln Dylansche Sentenzen wie „Alle meine Songs hören mit, Viel Glück‘ auf.“
Greil Marcus geht zurück auf „Bringing It All Back Home“, das Album, das „Rolling Stone“ vorausging, und analysiert wunderbar „Highway 61 Revisited“, die Platte, die von dem Stück eröffnet wird. Dazwischen beleuchtet er noch die bizarrsten Coverversionen von „Like A Rolling Stone“ (das auf Ritchie Valens‘ „La Bamba“ rekurriert), stellt „MacArthur Park“ ins Umfeld des Jahrhundert-Songs und betrachtet das traurige Schicksal des Gitarristen Michael Bloomfield, dessen Spiel die Aufnahme ebenso prägte wie Al Koopers improvisierte Orgel und der seinen Sound 15 Jahre später, längst ein gebrochener Mann, nicht mehr reproduzieren konnte, sowie die Produzenten Tom Wilson und Bob Johnston, der ihn ablöste.
Schließlich rekapituliert Marcus die berühmteste Legende der Rockmusik. Natürlich sind die Haß-Bekundungen und die England-Tournee 1966 bis in die Verästelungen interpretiert worden, aber Marcus erzählt das Unglaubliche noch einmal mit größter Lust. „Sie sind alle Dichter“, so stellte Dylan am 27. Mai 1966 in der Londoner Royal Albert Hall seine Musiker vor. Und die Manchester Free Trade Hall, das „Judas“-Konzert. Als Dylan von der Bühne ging, sah er aus, „als hätte er gerade einen Autounfall gehabt“.
Ferner interpretiert Marcus „Blood On The Tracks“, streift unvermutet „Go West“ von den Pet Shop Boys und schließt mit dem Song „Highlands“ und diesen fabelhaften Sätzen: „Das einzige Zuhause, das man haben kann, liegt in der Vorstellung davon, wo man herkommt (…) Der Sänger durchstreift jenes Land schon lange. Er hätte nichts gegen ein wenig Gesellschaft einzuwenden, doch er kommt auch ohne sie aus. Hin und wieder hört er seinen alten Song im Radio, und das Land ist wieder neu. Das wird reichen müssen.“