Das andere Wunderland
Alan Moore hat schon vielen Comic-Genres zu neuem Glanz verholfen. Mit „"Lost Girls" widmet er sich dem wohl einzigen, das noch fehlte: der Pornografie
Was mag Alan Moore, Träger des diesjährigen Max-und-Montz-Preises für sein Lebenswerk sowie eines kolossalen Bartes, eigentlich noch vorhaben? Man war geneigt zu glauben, er hätte als Szenarist im Comic-Genre ohnehin alles erreicht und revolutioniert: „Watchmen“ sprengte die Konventionen des Superhelden-Genres, „From Hell“ reanimierte subversiv die Graphic Novel, „V wie Vendetta“ zeichnete einen futuristischen britischen Überwachungsstaat, der immer gegenwärtiger erscheint, und „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ ließ derart tolldreist das Personal diverser Science-Fiction- und Horror-Klassiker zusammentreffen, dass einem vor lauter Anspielungen auf zum Teil abwegigste Schauergeschichten Hören und Sehen verging.
Dass sich Moore von bislang allen Verfilmungen seiner Werke distanzierte und sowohl auf Nennungen im Vor- und Abspann als auch auf jegliches Honorar verzichtete, trug zu seiner Glaubwürdigkeit in Kennerkreisen nicht unerheblich bei — und machte ihn trotz der nicht namentlichen Erwähnung weit über eingeschworene Fan-Zirkel hinaus bekannt. 2009 soll übrigens auch die „Watchmen“-Saga- obwohl von Terry Gilliam als „unverfilmbar“ bezeichnet und trotz eines schwelenden Rechtsstreits zwischen Warner Bros, und Fox – die Kinosäle erobern. Ohne Moore natürlich.
Mit seinem neuen Opus dürfte der aus Northampton stammende Moore allerdings abermals für Aufsehen sorgen, auch wenn eine Verfilmung in diesem Subgenre recht unwahrscheinlich ist. Schon immer hat er mit unterschiedlichen Zeichnern kooperiert — die neueste Künstlerin hat er aber gleich geheiratet. Zeit, sich zu verlieben, war schließlich genug. Denn mit Melinda Gebbie hat er immerhin 16 Jahre an „Lost Girls“ gearbeitet, das geradezu suggeriert, dass es nur einander sehr nahestehende Menschen fertigstellen konnten. Denn „Lost Girls“, in drei prachtvollen Bänden im Schmuckschuber erschienen (auf Deutsch bei Cross Cuft, 75 Euro), ist ein pornografischer Comic. Er entfernt sich jedoch stilistisch so weit von allem, was man mit Schmuddelheftchen und gynäkologisch versierten Nahaufnahmen verbinden mag, dass sogar als prüde geltende amerikanische Kritiker trotzig ein Kunstwerk darin erkannten.
Zum einen liegt dies sicher am, wie Moore es nennt, „polymorphen Blick“ auf die Sexualität, der also männliche und weibliche Perspektiven vereint, wodurch Chauvinismen und stereotype Zuschreibungen weitgehend vermieden werden. Zum anderen überzeugt „Lost Girls“ in ästhetischer wie inhaltlicher Hinsicht. Die Geschichte verknüpft, wie schon „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“, Figuren aus bekannten literarischen Werken, die fortgeschrieben, umgedeutet oder variiert werden. Erst am Ende des ersten Bandes stellen sich die Protagonistinnen einander beim Vornamen vor: Alice, Wendy und Dorothy. Zuvor gab es aber bereits etliche bildliche Verweise auf die Vorlagen: „Alice im Wunderland“, „Peter Pan“ und „Der Zauberer von Oz“.
Die entsprechend der Entstehungszeit ihrer Vorbilder älter gewordenen Hauptfiguren begegnen sich 1913 im österreichischen Hotel „Himmelgarten“, entdecken eine Art Scelenverwandtschaft und beginnen, einander erotische Abenteuer und Träume zu erzählen: ein weiblich geprägtes, grafisches, manchmal von Opiumschwaden umwölktes Dekameron. Diese expliziten Panels liefern hintergründig anzügliche, mehrfach gespiegelte Lesarten der verwendeten Figuren und literarischen Werke, offenbaren in Schattenspielen geheime Sehnsüchte vermeintlich verklemmter Ehemänner, spielen auf die gerade aufkommende Psychoanalyse an, thematisieren die Problematik des Erinnerns oder nehmen die Premiere von Strawinskis Ballett „Le sacre du printemps“ in Paris zum Anlass, den intellektuellen Kunstgenuss mit sinnlicheren Genüssen kurzzuschließen. So entwerfen Moore und Gebbie beiläufig ein weites historisches Panorama, das auf zeichnerischer Ebene vorwiegend von epochentypischen Spielarten des Jugendstils oder des Expressionismus gekennzeichnet wird. Jedes Kapitel verpflichtet sich einem anderen Gestus, sodass unter anderem Maler und Illustratoren wie Aubrey Beardsley, Alfons Mucha, Franz von Bayros und Egon Schiele subtil zitiert werden, von denen nicht wenige ob ihrer freizügigen Darstellungen zeitlebens als Erotomanen verschrien waren. Und auch Alan Moore und Melinda Gebbie gelingt es geschmackvoll, vieldeutig und zärtlich an das Gehirn als erogene Zone zu appellieren.