Daniel Lanois im Interview: „Wenn Brian Eno der König des Ambience ist, bin ich der Prinz“
Produzentenlegende Daniel Lanois im Interview über sein neues Album „Heavy Sun“, seine Liebe zu Gospel, seine Arbeit mit Bob Dylan und U2 sowie den „House-Sound“.
Daniel Lanois ist nicht nur einer der unverkennbaren Klangarchitekten der Rockmusik, sondern auch ein musikalischer Brückenbauer zwischen Tradition und Moderne. Egal, ob mit seinen eigenen Projekten oder Arbeiten für Bob Dylan, U2, Emmylou Harris oder Neil Young — der Franko-Kanadier ist gewissermaßen gleichzeitig Musikwissenschaftler, Soundforscher, akustischer Forensiker und Vordenker. Seine Projekte haben, bei allen musikalischen Unterschieden, eines gemeinsam: Den vertrauten, atmosphärischen Lanois-Sound, der, laut des Produzenten selbst, auf dem aus der Fotografie stammenden Konzept der Schärfentiefe fußt.
Besagte Brücke zwischen Tradition und Moderne baut Lanois auch mit seinem neuesten Werk einmal mehr. Auf „Heavy Sun“ widmet er sich, gemeinsam mit dem Gitarristen und Sänger Rocco DeLuca, dem Orgelspieler/Sänger Johnny Shepherd und dem Bassisten/Sänger Jim Wilson, der Gospelmusik. Heavy Sun, so heißt auch die Band, ist gewissermaßen ein modernes Gesangsquartett, das ein Instrument ganz besonders in den Vordergrund stellt: die Orgel. Ein reines, traditionelles Gospel-Album ist „Heavy Sun“ dabei aber nicht geworden. Präsent sind auch elektronische Fragmente, die Lanois in einem von ihm als „House-Dub-Technik“ bezeichneten, recht komplexen Verfahren konzipiert. Im Gespräch mit ROLLING STONE erklärte Lanois seine Arbeitsweise und sprach auch über besondere Momente mit Bob Dylan und U2.
Mister Lanois, lassen Sie uns zu Beginn über Gospelmusik sprechen. Da gibt es in Ihrer Karriere ja seit Anfang an etliche Berührungspunkte.
Ganz, ganz früher, in meinem ersten Studio, das ich mit meinem Bruder Bob betrieb, hatten wir einen Deal mit einer christlichen Organisation laufen. Sie brachten Bands und Gesangsquartette zu uns, die meist gerade auf Tournee in Kanada waren. Innerhalb von zwei Tagen nahmen wir mit diesen Bands ganze Alben auf. Ich bekam dadurch eine Menge von diesem großartigen Gesang zu hören und lernte viel über die Platzierung von Harmoniestimmen. Ich war immer sehr berührt von der Struktur dieser Musik. Außerdem habe ich in Kirchenchören gesungen, auch im Schulchor.
Sie spielten auch gemeinsam mit dem Schlagzeuger Brian Blade in der Gospel-Band The Hallelujah Train.
In Louisiana leitete der Vater meines guten Freundes Brian Blade die Zion Baptist Church. Ich durfte ein paar Mal in der Band mitspielen und die Kirchenkultur in Louisiana kennenlernen. Und in dieser Welt wird wirklich sehr, sehr lautstark mitgesungen!
Erzählen Sie etwas über die Entstehungsgeschichte von „Heavy Sun“ – und wie die Bandbesetzung zustande kam.
Ich lernte Johnny Shepherd durch die Zion Baptist Church kennen. Er war der Chorleiter, Organist und selbst ein großartiger Sänger. Als sich seine Amtszeit in der Kirche dem Ende zuneigte, lud ich ihn ein, mit mir, Rocco DeLuca und Jim Wilson ein Quartett zu gründen. Wir wollten dem Spirit der Gospelmusik folgen, diesen Sound machen, der den Leuten, die die Platten hören, offensichtlich Freude bringt.
Die Orgel ist das zentrale Element von „Heavy Sun“.
Ich habe die Hammond-Orgel immer schon geliebt. Die Hammond-Orgel – für diejenigen, die es nicht wissen – nahm den Platz der Pfeifenorgel in jenen Kirchen ein, die sich keine richtige Pfeifenorgel leisten konnten. So wurde sie in den 1940er- und 1950er-Jahren in Amerika und in vielen Kirchen des Südens ein sehr beliebtes Instrument. Sie entwickelte ein ganz eigenes Standing in der Gemeinde, weil sie nicht nur in den Kirchen gespielt wurde, sondern auch Teil der Bands der Soulmusik-Ära Nordamerikas wurde. Als es diese Art von Kirchenmusik mit Sam Cooke und anderen Künstlern in die Charts schaffte, wurde die Orgel ein wesentlicher Teil des Popmusik-Sounds. Ich selbst war schon als Kind in die Hammond-Orgel verliebt. Ich hatte immer eine im Studio herumstehen. Als Johnny zu uns nach Los Angeles kam, haben wir die Orgel entstaubt. Sie wurde Teil des Heavy-Sun-Sounds. Sie hat etwas an sich, durch das das Sakrale in einem wachgerüttelt wird. Man wird durch sie ein Teil der Gospelmusik.
Sehr prominent vertreten auf „Heavy Sun“ sind auch elektronische Klangelemente. Wie gingen Sie an diese Parts heran?
Die elektronischen Parts ein schönes Beispiel dafür, wie man Tradition mit neuer Technik mischt. Es gibt eine Technik, die ich im Studio verwende, ich nenne sie meine House-Dub-Technik: Ich extrahiere Sounds aus dem Multitrack, modifiziere diese Sounds, um sie dann wieder in die entsprechenden Teile einzufügen. Oft kann ich aus einem dieser kleinen Samples ein nach menschlicher Stimme klingendes Orchester machen, indem ich sie umbaue und neu positioniere. Ich erzeuge also extern ein harmonisches Orchester und füge es anschließend wieder in das Multitrack ein. Das ist eine sehr mühsame Technik, ich würde sie niemandem empfehlen, aber es ist Teil dessen, was ich mache. Im Grunde ist es wie Sampling, aber wir nutzen es auf unsere ganz eigene Art und Weise.
Die Platte ist von einer positiven Botschaft durchzogen. Ist es Ihnen wichtig, den Menschen Mut zu machen?
Ich mag das Wort Mut, weil das etwas ist, das man nicht lernen kann. Es ist etwas, das man versucht, sich anzueignen, zu adaptieren. Die Songs haben, denke ich, eine unterschwellige Botschaft von Hoffnung und Entdeckung in sich. Ich höre immer wieder, dass diese Platte zu einem guten Zeitpunkt herauskommt, weil sie irgendwie als Mittel gegen die Isolation und Einsamkeit dienen könnte, die durch die Pandemie entstanden ist. Vielleicht inspiriert so ein Album einen dazu, die Türen offenzuhalten und ein wenig frische Luft reinzulassen.
Ihr Studio in Toronto war einmal ein buddhistisches Kloster. Spielt Religion eine Rolle in ihrem Schaffen?
Das mit dem buddhistischen Tempel, in dem ich gerade sitze, das war einfach ein Zufall: Dass die Mönche umzogen und sie diesen Tempel verkauften und wir ihn übernahmen. Wir ließen das, was sie gebaut hatten, weitestgehend so. Hoffentlich ist dieser Geist immer noch in diesen Wänden da. Ich bin katholisch aufgewachsen, war als Kind Ministrant. Aber das trage ich nicht mehr wirklich mit mir herum. Wir versuchen einfach, gute Menschen zu sein, unsere Werte zu leben. Ich mag den Gedanken, dass wir als Menschen versuchen, uns zu verbessern. Wenn die Leute diesen Spirit auf diesem Album spüren, wäre das schön.
Wie planen Sie eigentlich ihre nächsten Projekte? Folgen Sie einfach ihren Instinkten und Launen — oder haben Sie eine Art Masterplan?
Ich hatte nie einen Masterplan, außer dass ich auf Einladungen reagiere, wenn ich welche erhielt. Wenn diese Einladungen interessant waren, dann sagte ich zu. Ich denke, dass ich immer im Hinterkopf habe, ein Meisterwerk vorzulegen zu wollen. Ich würde keine Platte aufnehmen wollen, wenn ich nicht denken würde, dass ich für die Künstler, mit denen ich zusammenarbeite, oder für mich selbst einen Unterschied machen kann.
Wann wissen Sie, dass es sich um einen großen Wurf handelt? Nehmen wir als Beispiel Bob Dylans „Time Out Of Mind“, das sie produzierten: Wann war Ihnen da bewußt, dass Bob Dylan und Sie etwas Großem auf der Spur sind?
Nun, es gab ein paar Punkte bei der Entstehung von „Time Out Of Mind“, an denen ich das Gefühl hatte, dass uns gerade ein Meisterwerk auf die Schulter klopfte. Ich wusste, dass Bob einige fantastische Texte geschrieben hatte. Er wollte eine Platte machen, die einige der tiefgründigen und dreckigen Klänge hatte, die er bei Rock’n’Roll-Platten liebte, und mit denen er aufgewachsen war. Wir haben uns sehr sorgfältig darauf vorbereitet. Wir hatten Brian Blade und Jim Keltner am Schlagzeug und Tony Garnier am Bass — zwei der besten Musiker Amerikas. Wir hatten außerdem Jim Dickinson und Augie Meyers an der Orgel, zwei sehr unterschiedliche Spieler, beide fantastisch. Und ich wusste, dass wir von Dickinson etwas Himmlisches bekommen würden und von Augie dieses Tex-Mex-Rock’n’Roll-Gefühl. Und dann war da noch ich, dieses kanadisches Kind, das hungrig war, all das zu erleben, sich in den Süden zu wagen und eine Art Musikwissenschaftler zu werden. Ich wusste, dass all das einen sehr schönen Mix ergeben würde. Wir wollten etwas fantastisches für Bob machen.
Gab es in ihren Produktionen jemals gravierende Meinungsverschiedenheiten — also dass ein Künstler in die eine Richtung gehen wollte, Sie aber in eine ganz andere und sie möglicherweise nachgeben mussten?
Ich kann mich nicht erinnern, dass es zu solchen Meinungsverschiedenheiten gekommen wäre. Bei „Time Out Of Mind“waren Bob und ich von diesen wunderbaren Platten aus den 1940er- und 1950er-Jahren begeistert, auf die wir auf diesem Album verweisen. Da gab es keine Meinungsverschiedenheiten. Es gab auch keine Meinungsverschiedenheit über die Rhythmusgruppe. Man möchte an einen Ort gelangen, an dem man etwas Besonderes schafft. Mit Leuten, die ihr Talent einbringen können — und ich glaube nicht, dass Streit ein Weg wäre, dorthin zu gelangen. Ich bewundere Bob dafür, dass er vieles weiß, das ich nicht weiß. Und ihm geht es umgekehrt genau so. Das ist ja der Grund, warum wir angefangen haben, zusammenzuarbeiten. Wenn ich mit U2 arbeite, wissen sie, dass ich eine bestimmte Art von Musikalität habe. Ich habe meine Fähigkeiten auf eine bestimmte Art und Weise geschult, die sie nicht haben — weil sie ihre Band so jung begonnen haben. Während sie das taten, habe ich eine Menge Platten mit vielen verschiedenen Leuten gemacht. Also brachten sie mich ins Boot, weil ich Erfahrung habe und diese Form von Arrangements verstehen kann.
Weil Sie gerade von U2 sprachen: Die wollten mit „No Line On The Horizon“ ja auch futuristische Gospel-Hymnen erschaffen. Ich denke da ganz besonderes an den Song „Moment Of Surrender“, den Sie ja nicht nur gemeinsam mit Brian Eno produzierten, sondern auf dessen Aufnahme sie auch mitspielten.
Ich muss ehrlich sagen, dass für mich alle U2-Sessions ineinander verschwimmen, ich habe bei so vielen mitgemacht. Aber bei „No Line On The Horizon“ erinnere ich mich, dass es im Bandraum sehr voll war. Es gab immer mehrere Räume: den Denkraum und dann den Inferno-Raum. Der Inferno-Raum ist jener Raum, wo man seinen Feuerschutzanzug anziehen muss, um reinzugehen. Drinnen geht es nämlich wild zu, Larry Mullen haut auf die Trommeln und du solltest besser für alles bereit sein. An diesem Punkt kannst du keine philosophischen Gedanken haben, an diesem Punkt kämpfst du einfach um dein Leben und hoffst, dass dir etwas einfällt, während The Edge deine Gehirnzellen zerstört, weil du zu nah an seinem Vox AC30 stehst. Und ich war mittendrin, kämpfte um mein Leben, spielte Percussion und fuchtelte mit den Armen, um mich an das Arrangement zu erinnern.
Alles andere passiert dann im Poesie-Raum. Das ist der Raum, in dem eine Couch und ein Mikrofon für Bono bereitstehen. In diesem Raum hören wir die Songs über Kopfhörer oder jagen sie durch die Lautsprecher. Wenn wir Glück haben, wird ein beseelter Jam daraus. Dann geht es los. Dann machen wir uns ans Entdecken. Ich wünschte, ich könnte Ihnen erklären, dass es da eine große Strategie gibt, zum Beispiel jene, Gospel und all das neu zu entdecken. Das sind die Dinge, über die wir nach der Arbeit im Hotel bei einem Pint Guinness reden. Aber wenn wir im Studio sind, geht es nur darum, was einem die Haare auf dem Arm aufrichten lässt.
Es heißt, dass Sie den Refrain für „Moment Of Surrender“ geschrieben haben.
Haben Sie den Track vor sich? Können wir den mal anhören?
[Wir hören etwa ein Viertel des Songs an]
Die Vocals sind ganz fantastisch, gut gemacht, Bono. Und die Akkorde sind wundervoll. Es erinnert mich ein wenig an das, was wir in „Heavy Sun“ eingebaut haben. Nur dass das, was hier bei U2 wie eine Orgel klingt, eigentlich nur Studio Processing war — etwas, in dem Brian Eno sehr gut ist. Wenn er der König der Ambience ist, dann bin ich hier der Prinz der Ambience. Und der Chorus, nun: Wir haben ihn alle zusammen gesungen, ich kann dafür nicht die Verantwortung übernehmen. Hier geht es einfach nur um vier sehr talentierte Leute, die sich zwei andere sehr talentierte Leute geholt haben, um ihnen zu helfen. Genau das haben wir getan.
Angeblich hat sich Brian Eno ein wenig darüber aufgeregt, dass U2 die Originalversion des Songs gekürzt haben und gemeint haben: „Sie erkennen ein Wunder nicht mal dann, wenn es ihnen ins Gesicht schlägt“.
Ich habe von Eno nie etwas derartiges gehört, dass müssten Sie ihn selbst fragen. (lacht)
In Ihrer Autobiographie beschreiben Sie immer wieder, wie Sie sich wochenlang mit Details beschäftigen. Sie kaufen Equipment, wie Effektpedale, und verbringen Wochen damit, sich die Sounds zu eigen zu machen. Oder üben tagelang nur Fingerpicking, bis ihre rechte Hand die Präzision eines Chirurgen hat, wie sie das in etwa formulierten. Wann haben Sie das letzte Mal so richtig auf eine Sache „abgenerdet“?
Jeden Tag. Ich nerde derzeit sehr viel am Klavier ab. Ich bin kein Pianist, aber ich komponiere am Klavier, lasse meinen Sinn für Melodien die Richtung diktieren. Mit dem Wort „abnerden“ haben Sie echt den Nagel auf den Kopf getroffen. Das ist genau das, was wir [Lanois meint mit „wir“ in diesem Fall sich und seinen Studio-Assistenten Wayne Lorenz, Anm.] jeden Tag im Studio machen. Wir nutzen nicht wirklich viel verschiedenes Equipment, aber das was wir haben, versuchen wir optimal zu nutzen. Wir haben unsere Piano modifiziert. Ich mag das untere Ende des Klavierklangs nicht, weil ich finde, dass es nicht genug nach Bass klingt. Aus diesem Grund haben wir Stoff und Geschirrtücher zwischen die Hämmer und die Saiten gesteckt. Das ergibt diesen schönen, weichen Klang. Und die hohen Töne sind mehr wie Glas. Das ist nicht leicht, das so hinzubekommen, weil niemand ein schönes Klavier ruinieren will. Aber uns macht es nichts aus, mit Gaffer-Tape und Handtüchern ranzugehen, ich überziehe die Hämmer sogar mit Kondomen. Bis wir den House-Sound bekommen.
Was ist der House-Sound?
Nun, das ist ein Klang, den niemand zuvor je gehört hat — eben ein Sound, der dem Haus gehört. Und genau so haben wir stets unsere Entdeckungen gemacht. Das sind die Klänge, die uns die Richtung vorgeben, wie eine Platte zu klingen hat. Das klangliche Rezept, das genau zu diesem Koch, zu dieser Küche und zu dieser Zeit gehört. Das ist nichts, das wir über eine App gekauft haben oder dafür in den Musikladen gegangen sind, um es zu kaufen. Wir entwerfen unsere eigenen Sounds.