Dancer In The Dark
von Lars von Trier ab 28. September
Vom Dogma dieser verrückten Dänen spricht auch keiner mehr. Wieviele Filme waren es eigentlich? Fünf, sechs mit diesem Franzosen Barr und seiner Videoromanze? Man erinnert sich kaum noch. Jedenfalls sollte alles anders werden, ungeschminkt und ungekünstelt, wie das wahre Leben eben. Keine Montagen, kein Marketing, keine Körper-Doubles beim Gruppensex und Funzeln statt Studiospots. In den Feuilletons begeisterten sich die Cineasten über die verwackelten Handkamerabilder, als wäre der Film neu erfunden, mindestens eine echte Alternative zu Hollywood gefunden worden. Man braucht nur in diese Multiplex-Bunker zu gehen, wo die Massen an den Popcornmaschinen anstehen. Das ist Realität. Und nun bittet Lars von Trier, der gottgleiche Vorsteher dieser Heilsbringer aus dem Norden, man möge das Ende von „Dancer In The Dark“ nicht verraten. Im Namen der Kunst? Oder ist das schon Marketing? Aber: bitte schön.
Dafür verraten wir den Anfang. Man sollte nicht mit dem Filmvorführer seines Stadtteilkinos schimpfen, wenn fast sinfonische Popmusik erklingt, zu der man Kameraschwenks über eine Landschaft oder durch Straßen erwartet, die Leinwand aber minutenlang schwarz bleibt. Ich sage nur: „Dancer In The Dark“. Wie symbolisch! Und subversiv! Aber dann geht es los. Grobkörnige, zittrige Bilder, dass einem die Augen schmerzen. Und Björk mit Brille. Sie heißt Selma und schummelt beim Sehtest, um an der Maschine einer Metallfabrik arbeiten zu dürfen. Noch weiß niemand, dass die tschechische Immigrantin langsam erblindet. So sieht man die unscharfen Bilder quasi mit Seimas Augen. Und je dunkler für sie nicht nur die Umgebung, sondern es auch in ihrem Leben wird, desto klarer erscheint dem Zuschauer die Symbiose von Inhalt und Dramaturgie des Films.
Von Wahrnehmung handelt „Dancer In The Dark“ also, und damit auch von Aufrichtigkeit und Lügen und Träumen. Selma lebt mit ihrem zehn Jahre alten Sohn Gene in einem Wohnwagen auf dem Grundstück des freundlichen Polizisten Bill (David Morse). Der traut sich nicht, seiner Frau Linda (Cara Seymour) zu offenbaren, dass sie sein kleines Erbe verprasst hat. Er ist pleite und beobachtet dann Selma dabei, wie sie heimlich jeden Dollar in eine Keksdose stopft. Denn Gene hat, ohne es zu wissen, das gleiche Augenleiden. Von dem Ersparten will sie seine Operation bezahlen.
Für Selma ist es dafür zu spät. Deshalb weist sie auch das Werben des linkischen Jeff (Peter Stormare) zurück, der an jedem Feierabend vor der Fabrik geduldig auf sie wartet. Ihre einzige Leidenschaft sind Musicals, die sie mit ihrer Kollegin und Freundin Kamy (Catherine Deneuve) im Kino sieht. In dem schönsten Moment des Films beschreibt Kamy ihr die Tanzszenen, indem sie die Schritte mit den Fingern auf Seimas Handfläche nachstellt. Zudem spielt Selma die Hauptrolle in einer Laienaufführung mit dem Titel „The Sound Of Music“.
Und wenn jemand nach ihren Eltern fragt, behauptet sie, die uneheliche Tochter des mal populären tschechoslowakischen Steptänzers Oldrich Novy zu sein. Um Rhythmus geht es hier also auch. Denn „Dancer In The Dark“ ist tatsächlich ein Musical, jenes künstlichste aller Kinogenres, bei dem Menschen wie auf Wolken schweben und im Regen trällern und „immer etwas Schreckliches passiert“, wie Selma meint. Jeff versteht deshalb nicht, warum „die plötzlich immer tanzen und singen. Das mache ich doch auch nicht“. Und damit bleibt ihm Seimas Welt verschlossen. Denn immer, wenn sich ihre Situation verschlimmert, flüchtet sie in ihr eigenes Musical. Sie wirft die Brille weg und strahlt, die Bilder klaren auf in satten Farben und alles ist Musik. Das Klappern der Fabrikmaschinen und Rattern von Eisenbahnwagons. Drum’n Bass nach Dogma-Art. Björk hat den Soundtrack geschrieben, die „Selma Songs“, und sie singt mit ihrer glasklaren, verwunschenen Stimme in anrührender Einfachheit über Gefühle, die Selma sonst scheu und selbstlos in ihrer Seele verbirgt. Auf den ersten Blick mag „Dancer In The Dark“ sperrig und schrecklich sentimental wirken, doch fließt hier alles zur Essenz des Kinos zusammen. Seimas Schicksal wird so unfassbar tragisch, dass am Ende selbst ihr Musical nicht mehr hilft. Mehr wird nicht ausgeplaudert Man muss Szene für Szene erfahren, erfühlen. „Ich habe immer das Kino vor dem letzten Song verlassen“, sagt Selma einmal. „So ging der Film für mich immer weiter.“
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