Da rockte der Bär
Die Meute der Fans und Neugierigen steht dichtgedrängt vor dem Grand Hyatt, aus einer Boombox dröhnt, wie passend, eine belämmert deutsche Version von „The Last Time“ titels „Das darf doch nicht wahr sein“. Dann Hälserecken, Geschubse, spitze Schreie, als die schwarzen Limos vorfahren. „We love you“, kreischt eine Frau, Mick Jagger winkt hinüber, Keith Richards gibt ein paar Autogramme. „Volksnah“, bemängelt ein Radioreporter, hätten sich die Stones „nicht gerade gegeben“, das sei nun mal „nicht ihre Stärke“.
Drinnen beim Photo-Call wirft sich die Band drei Minuten lang blendend gelaunt in Positur, den kleinen Martin Scorsese in der Mitte, dann geht es nach nebenan zur Pressekonferenz. Die dermaßen überfüllt ist, dass man – ein Novum bei der Berlinale – den Saal eine Stunde vor Beginn bereits schließen musste. Den rechtzeitig erschienenen Medienvertretern gefällt der folgende halbstündige Austausch von Artigkeiten so gut, dass anderntags mehrfach von einem „Glücksfall für das Festival“ die Rede sein wird. Jagger verlautbart, die Stones fühlten sich „geehrt“, dass mit „Shine A Light“ erstmals ein Dokumentarfilm die Berlinale eröffne. Scorsese erklärt, dass die Musik der stones nicht nur Soundtrack seines Lebens gewesen sei, sondern auch den Rhythmus seiner Regiearbeit mitbestimme. „Gimme Shelter“ habe er in einigen seiner Filme eingesetzt, weil es eine so bedrohliche Stimmung erzeuge. Der einzige Film von „Marty“, flachst Jagger, in dem „Gimme Shelter“ nicht vorkomme, sei „Shine A Light“. Allgemeine Heiterkeit. Noch ein paar blöde Fragen, noch mehr humorige wie nichtssagende Antworten, Beifall. „Die Stones blödeln in Berlin prächtig herum“, überschreibt „Welt Online“ ihren PK-Report, und das Boulevardblatt „B.Z.“ kalauert zum Jagger-Titelfoto in riesigen Lettern: „Mick bin ein Berliner“.
Abends, beim Auftrieb zur Weltpremiere, auf dem roten Teppich, outen sich sämtliche geladenen Gäste, ob danach gefragt oder nicht, als Stones-Fans. Nein, nicht alle. Einer ist ehrlich, steht trotzig zu seiner Biografie noch inmitten des Blitzlichtgewitters. Er habe zu den Beatles gehalten, so Berlins Regierender tapfer, seinerzeit, als die Lager unversöhnlich gegeneinander standen. Verzeihlich, denn da war er gerade zwölf. Je älter er geworden sei, so „Wowi“, desto mehr habe er sich mit den Stones „angefreundet“, denn die hätten ja auch „eine Menge toller Lieder“. Jedenfalls sei er „glücklich“ und finde es „großartig, dass es Berlinale-Direktor Dieter Kosslick geschafft hat, die Rolling stones in unsere Stadt zu holen“. Berlin rücke damit „ins Zentrum der weltweiten Öffentlichkeit“.
Die Prominenz des Premierenpublikums ist freilich wenig weitläufig. Sicher, Goldie Hawn ist eigens angereist, Brian de Palma auch. Man kennt die Senta Berger und den Mario Adorf, weiß, dass dieser zähnebleckende Schrank von einem Mann, der gerade kundtut, sein Lieblingssong sei „Satisfaction“, in diesem Gladiatorenfilm mitgewütet hat. Auch die Gesichter von Hannelore Elsner und Heike Makatsch haben hinreichend Wiedererkennungswert. Um die vielen anderen Darsteller und Selbstdarsteller, die sich den Kameras und Mikros andienen, mit einem Namen versehen zu können, muss man wohl „Brisant“ gucken oder „Gala“ lesen. Alle so austauschbar wie ihre Antworten auf die FAQs der Klatschreporter: Klar, immer schon wahnsinnig gerne Stones gehört. Am liebsten? Natürlich „Angie“!
Patti Smith und Neil Young, beide ausgewiesene Stones-Fans, beide beinahe inkognito hinter ihren Sonnenbrillen, haben ihre Plätze ohne Aufhebens erreicht. Wobei Patti bei ihrer eigenen PK kräftig auf den Putz haute, Bob Dylan persiflierte, das Podium verließ, sich zu den Journalisten hinunter begab und „Because The Night“ anstimmte. Ihren größten Hit, der im Film jedoch keine Verwendung fand, weil das zu teuer geworden wäre. Die Rechte hält Co-Autor Bruce Springsteen. Anlass war Smiths eher intime Dokumentation „Dream Of Life“, die tumultarische Inszenierung schützte sie immerhin vor allzu vielen idiotischen Fragen. Neil Young hatte die PK zu seinem politisch motivierten Dokumentarfilm „CSNY: Deja Vu“ trocken durchgezogen, gab ergeben Auskunft, mürrisch zwar und einsilbig, aber nicht ohne Humor. Um alles aufzuzählen, was ihm an George W. Bush missfalle, so Young, fehle leider die Zeit. Was den Präsidenten positiv auszeichne, sei dagegen schnell gesagt: Er befinde sich in guter körperlicher Verfassung. Die Sorte Sarkasmus, die überall ankommt. Sogar im Weißen Haus.
Das Premierenpublikum erhebt sich zu Ovationen, als Scorsese und die Stones ihre Plätze einnehmen. „Beifallsstürme“ registriert „Spiegel Online“ nach der „Wahnsinnsshow“ und resümiert: „Die Berlinale rockt“.
So war es, genau so.