Cumbia und Chaosforschung: So waren Giant Giant Sand in Berlin
Am Mittwoch spielte Howe Gelb mit seiner zu Giant Giant Sand ausgewachsenen Band im Berliner Lido. Frank Castenholz und Fotograf Martin Minges waren für uns vor Ort.
„Keine Ahnung, aber vielleicht wird daraus ja eine Band“, sinnierte ein sichtlich euphorischer Howe Gelb, als er letzten Sommer anlässlich des WasserMusik-Festivals in Berlin erstmals in einer um Mitglieder von Sergio Mendozas Orkestra erweiterten Formation von Giant Sand auftrat. „Diese Jungs sind wirklich cool, großartige Musiker! Es ist toll, sie an der Spitze einer vibrierenden neuen Szene in Tucson zu sehen.“ Ein Jahr später ist aus den gelegentlichen losen Jams mit Brian Lopez, Gabriel Sullivan und Jon Villa tatsächlich ein richtiges grenz- und generationenübergreifendes Kollektiv, Giant Giant Sand, geworden. Howe erweitert damit seinen eklektischen Sound um ungestüme Latin-Elemente und schlägt nach einem Gospel-Projekt, Aufnahmen mit spanischen Gyspies und seiner dänischen Stammformation ein weiteres Kapitel in der ewig evolvierenden Band-Geschichte auf. Und ist mehr denn je „all over the map“, wie der Titel einer Giant Sand-LP von 2004 verhieß.
Wer nun allerdings melancholischen bis schmissigen Breitwand-Tex-Mex-Schönklang erwartet, wie ihn Gelbs ehemalige Bandkollegen Joey Burns und John Convertino mit Calexico patentiert haben, mag sich täuschen. Zwar klingt die aktuelle Doppel-LP „Tucson (A Country Rock Opera)“ über weite Strecken eingängig, anschmiegsam und für Howes Verhältnisse ziemlich kohärent und geschliffen – ist also, wie man in schöner Regelmäßigkeit über etwa jede zweite Veröffentlichung seit ca. 2001 lesen darf, mal wieder sein „vielleicht zugänglichstes“ Werk seit seligen „Chore of Enchantment“-Tagen. Doch heute Abend drängelt sich ein knappes Dutzend emsiger Klangforscher samt Hau-, Zupf- und Streich-Instrumentarium (und die bezaubernde Lonna Kelley mit ihrem roten Märchen-Kleid) auf der Bühne, um die Glasur der Klangkonserve aufzubrechen. Nachdem Howe sich eingangs mit einer hemdsärmeligen „Jumpin‘ Jack Flash“-Aufwärmübung eingegroovt hat, wird ein Großteil des Albummaterials mit wirbelnden Gitarren, schneidender Trompete, viel Feedback, einer ordentlichen Dosis kreativem Chaos und Howes ewigem Schalk ordentlich aufgemischt. Gerade der glorreich groovende Cumbia-Feger „Carinito“ mit Villa, Lopez und Sullivan an den Vocals profitiert enorm auf der Bühne und bringt den akustisch eher rustikalen Saal des Lido mit seinen von Sommerhitze und Arbeitswoche eher träge gestimmten Berlinern endgültig zum Wippen und Beben. Auch Songs wie Jeanettes „Porque Te Vas“ und „Out of the Blue“ von The Band haben die letzten Jahrzehnte offenbar nur auf die Frischzellenkur von Giant Giant Sand gewartet.
Die große Formation wirkt disziplinierend auf Gelb, er leistet sich an diesem Abend (die von seinen Kritikern stets bekrittelten) Spontanitäten und Schrulligkeiten nur mit Augenmaß. So behält er bei dieser Menge an Stimmen und Instrumenten, die alle ihre verdienten Solo-Spots erhalten, die Übersicht, bleibt jedoch so frei, sich nicht allzu sehr um ein durchchoreographiertes Set mit publikumsgefälligen Spannungsbögen zu scheren, sondern im Zweifel stets der guten Laune des Moments zu folgen. Seine Zweifler wird er damit nicht bekehren. Doch bewahrt er so auch in diesem großen Rahmen die spezifische musikalische Laborsituation eines jeden Giant Sand-Konzerts, bei der Versuch und Irrtum, das Spiel mit Erwartungen und die schlitzohrige Herausforderung von Band und Publikum unverzichtbarer Teil der Versuchsanordnung sind.
Howe selbst nennt das Ergebnis trefflich erosion rock: „Das macht für mich wirklich mehr Sinn als desert rock, denn es beschreibt genau, was auf der Bühne passiert. Das Material zerfällt einfach in seine Elemente.“ Und der Hörer darf sich aus den verstreuten Puzzleteilen ruhig sein eigenes Bild basteln. Wer einmal diesem Prinzip erlegen ist, wird dies den meisten einer verlässlichen Dramaturgie folgenden, den Hörer bei der Hand nehmenden und an seiner Erwartungshaltung ausgerichteten Auftritten “professioneller“ denkender Bands vorziehen – insbesondere wenn sich aus dem Moment immer wieder solche beglückenden neuen Perspektiven auf Howe Gelbs vielseitiges Songbook eröffnen wie an diesem schönen Sommerabend.