Corona-Tagebuchnotizen von Arne Willander: Living In A Ghost Town
Anmerkungen zu einem neuen Song der Rolling Stones
Gegen Mittag schickte Apple Music eine Mitteilung: Mick Jagger und Keith Richards sagen etwas zu ihrem neuen Song „Living In A Ghost Town“. Es war eine längliche, sachliche Überschrift, die eine große Sache verbarg. In mehreren Kapiteln äußert sich Mick Jagger zu dem Lied, das er in zehn Minuten schrieb, zur gegenwärtigen Situation und zur Konkurrenz mit den Beatles, eine Kalamität, die noch einmal aufs Tapet kam, als Paul McCartney kürzlich gegenüber dem drängenden Howard Stern bestätigte, die Beatles seien die bessere Band gewesen. In einem einzigartigen Akt diplomatischer Schläue entgegnet Jagger nun, und zwar zweimal: „He’s a sweetheart.“
Das wäre ein guter Songtitel, aber „Living In A Ghost Town“ ist auch nicht schlecht. Es ist die erste, nun: Single nach „Doom And Gloom“ vor acht Jahren, einem Schmankerl auf der Anthologie „Grrr!“, diesem Gorilla-Album. Die letzte richtige Platte ist so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist: „A Bigger Bang“ erschien vor 15 Jahren. Auch Jagger bekümmert das. Aber je länger dieses Album zurückliegt, desto unwahrscheinlicher wird eine neue Platte, desto mehr wachsen die Erwartungen, und zwar auch Jaggers Erwartungen: Dieses Album müsste großartig sein. Und so gibt es keines.
Aber die Rolling Stones sind natürlich vor allem ein beweglicher Staat, der sich durch Tourneen, Spekulationen um Tourneen und Abschiedstourneen, geplante und verschobene Tourneen konstituiert. Deshalb erläutert Jagger auch ausweichend den Vergleich mit den Beatles: Er sei unzulässig, denn die Beatles gaben nach 1966 keine Konzerte mehr (ausgenommen eines auf einem Hausdach), und sie traten nie in einem Stadion auf, in dem sie sich selbst oder andere sie hören konnten. In Wahrheit hält Mick Jagger diese Frage für den langweiligsten Unfug auf Erden. Am Ende sagt er: Die Beatles gibt es seit 1970 nicht mehr. Er ist ein Sweetheart.
„Living In A Ghost Town“ ist genau die verschleppt vibrierende, bedrohliche Art von Rolling-Stones-Shuffle mit Shanty-Chor und Mundharmonika, die sie auch als Geister spielen könnten wie niemand sonst. Nachdem der Sänger sich als Gespenst vorgestellt hat (und einem nötigen Verweis im Intro auf „Ghost Town“ von den Specials), fasst er die missliche Lage zusammen: „Life was so beautiful/ Then we all got locked down.“ Angeblich war die Luft an diesem Ort einst erfüllt von Trommeln, Trompeten schmetterten, Saxofone röhrten, und niemanden kümmerte es, ob es Tag oder Nacht war. Mick Jagger erzählt also von einem Mick-Jagger-Ort.
Rolling Stones – „Living in a Ghost Town“:
Nun aber geht er nirgendwohin und ist ganz allein: „So much time to lose/ Just staring at my phone.“ Nach diesem herzzerreißenden Bild kommt der Sänger zur eigentlichen Sache. „Every night I’m dreaming/ That you’ll come and creep in my bed.“ Prediger predigten, Politiker verhandelten, Diebe stahlen – aber der Erzähler ahnte immer, dass alles zusammenbrechen würde. Und nun ist Ausnahmezustand, niemand ist in seinem Bett: „You can look for me/ But I can’t be found.“
Das Lied endet mit majestätischer Larmoyanz. „We were so beautiful/ I was your man about town/ Living in this ghost town/ Ain’t having any fun/ If I want a party/ It‘s a party of one.“ Hat man je ein traurigeres Poem gehört?
Als Antidot hörte ich sofort „Just Another Night“ von Jaggers Platte „She’s The Boss“ aus dem Jahr 1985: „I was lonely till I saw you at the station/ Give me just another night/ Cause I‘m freezing in this hundred dollar hotel room.“ Die Trommeln, die Trompeten und Saxofone, die einst die Luft erfüllten, sind also Metaphern!