Corona: Der Rock’n’Roll und das Virus
Die Pandemie ist wie ein gigantischer Betriebsunfall für das Popbusiness. Einige Anmerkungen zur Kultur, wenn sie gerade nicht stattfindet – von Arne Willander.
Wie sehr die sogenannte Unterhaltungsbranche unser Leben schöner macht, merken wir jetzt schmerzlich, da sie gerade nicht unterhält. Man kann auch von Kultur sprechen, denn das alles ist uns nun verwehrt: das Kino und das Theater, die Ausstellung und das Konzert, das Museum und der Club. Schon wird auf die einsamste Kulturtechnik verwiesen: Wir werden womöglich wieder Literatur lesen! Albert Camus und Blaise Pascal, die Philosophen der Seuche und des Alleinseins, führen die Empfehlungs-Charts des Ausnahmezustands an. Früher sagte man: „Ich sollte mal wieder ein gutes Buch lesen.“ Freilich, heute gibt es Netflix.
„Sag alles ab“, sangen Tocotronic im Jahr 2007 auf dem Album „Kapitulation“, und das ist jetzt der Stand der Dinge, wenn auch im passiv: Alles wird abgesagt. Eben – das war in der vergangenen Woche – sollte es noch öffentliche Versammlungen unter 1000 Menschen geben, nun entfällt die kleine Tournee des amerikanischen Sängers Jeb Loy Nichols, zu dessen Konzerten in Deutschland vielleicht je 150 Leute gekommen wären. Vorbei! Manche Konzerte werden auf den Herbst verschoben. Der Herbst ist nun eine Sehnsuchtszeit. Manche Tourneen wurden gleich aufs Jahr 2021 verlegt. Das ist beinahe eine Utopie, eine ferne Hoffnung. Erste Home-Office-Konzerte werden spontan geplant. James Blunt trat in der Hamburger Elbphilharmonie ohne Publikum, aber vor Kameras für den Stream auf. Wird Nick Cave für uns singen? Die Veranstalter der großen Festivals, die naturgemäß im Juni beginnen, gehören zu den Zuversichtlichen: Hurricane und Southside, Rock im Park und Rock am Ring sollen stattfinden. Man wird da keinen Abstand von anderthalb Metern halten können, aber es ist an der freien Luft.
Zu den Unwahrscheinlichkeiten der Pandemie gehört das Verschieben von Alben, die ja in physischer Form kaum noch vorkommen. Man könnte die neuen Platten der Psychedelic Furs, von Jarvis Cocker, von Haim durchaus hören, auch in Quarantäne. Eine opake Macht verfügt die Verzögerung dieser Alben. Und wir, die Kulturverfolger beim ROLLING STONE, sehen in unseren heimischen und mobilen Büros bestürzt, wie die Domäne des zu Berichtenden über Gegebenes täglich schrumpft, während die der Nachrichten über Entfallenes wächst. Der Konjunktiv des Vergangenen: „Es wäre gewesen.” Aber wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch, wie Max Horkheimer schreibt. David Byrne singt: „Everything is very quiet/ Everyone has gone to sleep/ I’m wide awake on memories/ These memories can’t wait.”
Wir, die Redaktion des ROLLING STONE, sitzen derweil im Home Office, produzieren weiter digitale und gedruckte Beiträge, und denken, dass unsere Leser gerade jetzt Musik brauchen – und das Schreiben über Musik.
Am nächsten Freitag erscheint (voraussichtlich!) Hilary Mantels tausendseitiger Roman „Spiegel und Licht“. Und die neue Platte von Rustin Man, „Clockdust“. Wer würde verzagen?