Comeback von The The: Matt Johnsons bebender Alterszorn

Mit „Ensoulment“ erscheint das erste The-The-Album seit 24 Jahren.

24 Jahre hat Matt Johnson alias The The kein Gesangsalbum veröffentlicht. Verspürt er Druck? Muss raus, was lange in ihm gearbeitet hat? Johnson zitiert Nina Simone: „Wie kann man Künstler sein und nicht die Zeit widerspiegeln? Das ist für mich die Definition eines Künstlers.“ Und seit der Vorgängerplatte „Naked Self“ hat sich viel getan. Johnsons Sorge um die Welt ist groß. Deshalb erscheint sein neues Werk: „Ensoulment“.

Seit Karrierebeginn 1981 ist Johnson politischer Künstler. Dank seines mit Industrial-Collagen ausgekleideten Debüts „Burning Blue Soul“, die Vertonung einer Spoken-Word-Wut über Kapitalismus, galt der 19-Jährige als Wunderkind des britischen Post-Punk. Später kritisierte er Militär-Interventionen im Nahen Osten („Sweet Bird Of Truth“) und die Tory-Partei, die sein Land runterwirtschaftet („Heartland“). Wie Terry Hall oder Joe Strummer beleuchtete Johnson im Thatcher-Jahrzehnt sein Mutterland von links, nannte es „51st State of the USA“.

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Ab den 2000ern wollte sein Label fertige Alben nicht veröffentlichen, was ihn über Jahre verstimmte. Im Eigenvertrieb brachte Johnson Instrumentalsoundtracks heraus, die dennoch als Polit-Statements funktionieren. Wie zur Doku „Moonbug“, die das amerikanische Space Race der 1960er als Taktik zur atomaren Weltbeherrschung darstellt.

Nun also „Ensoulment“: in der Religionsphilosophie jener Moment, in dem die Seele nach der Geburt in den Körper wandert. Emotion und Intellekt entsteht – und daraus Verantwortung. „Ensoulment“ ist eine gute Platte. An den Texten feilte Johnson ausgiebig, man hört es sofort. Sie sind Appelle zur Rückbesinnung auf einen Urzustand, in dem der Mensch nichts Böses kennt. Ist das naiv? „Meinetwegen! Doch wir stehen vor dem Dritten Weltkrieg“, sagt er. Den gelte es doch zu verhindern. In „Kissing the Ring of POTUS“ attackiert er seine alten Widersacher. Die US-Regierung. Und die Neokonservativen.

Was heißt es heute, links zu sein?

„Left is right“, singt er. Was heißt es heute, links zu sein? Wie verhält man sich etwa zur Ukraine? Johnson betont, die Amerikaner zu mögen. Aber sein Feind sitzt nun mal im Westen. „Die NATO hätte sich nach Ende des Warschauer Pakts auflösen müssen. Das wäre ein Wendepunkt in der Geschichte gewesen. Alle strecken die Waffen nieder. Nun aber expandiert sie bis an die Grenzen Russlands und Chinas.“ Die Frage, wie der Ukrainekrieg beenden werden könnte, beantwortet Johnson unverbindlich, wohl auch, wie man fairerweise sagen muss, weil er mit einer solchen Frage nicht gerechnet hat. Sein Vorschlag: „Diplomatie und Kompromisse.“

So verlaufen Gespräche mit ihm. Von der Musik geht es in vereinfacht dargelegte Weltpolitik: „Eine Minderheit von Psychopathen hat die Kontrolle über das Weiße Haus übernommen und verfolgt eine unerbittliche militärische Expansion, die zu ewigen Kriegen führt.“ Das Wort „Verschwörung“ fällt nicht, doch sind Johnsons Theorien Bubble-verdächtig. Johnson hat sogar eine eigene Bubble. Er spricht im Sender „Radio Cineola“ vor treuen Hörern. Programmchef: Johnson selbst. Manche „Ensoulment“-Lieder singt er mit seiner tiefen Radiostimme.

Matt Johnson, The The
Matt Johnson, The The

Zumindest sind jene politischen Manifeste, die zwölf neuen Songs auf „Ensoulment“, treffsicher verfasst. Wie mit dem Lineal gezogen. „People Overeducated To The Point Of Stupidity / Many Lost Their Spirit As Well As Their Liberty“, heißt es in „Down By The Frozen River“. Dabei ist Johnson kein Besserwisser. Immer schon hat er Selbstzweifel ausgestellt. Besonders Gedanken zur Sterblichkeit. „We Can’t Stop What’s Coming“ sang der heute 63-Jährige nach dem Tod seines Bruders. „Where Do We Go When We Die?“, ein neues Schlummerlied, trifft mit seinem Billie-Eilish-artigen, unschuldig-direkten Titel ins Herz. Johnson kann sowas. Sein 1993er-Album „Dusk“ ist ein süchtig machendes Teenageralbum für Erwachsene, da war er bereits 32. Er sang: Everybody knows what’s wrong with the world / I don’t even know what’s going on in myself.“

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Auf „Ensoulment“ führt er den Gitarren-Vintage-Sound von „Naked Self“ fort. Einige Songs klingen ölig, verraucht, Arbeiterklassen-rockistisch. Analysen seiner Musik sind lustig, denn der Einschätzung zur neuen Platte widerspricht Johnson vehement: „Nein, das sind keine Bluesrock-Songs, und ich mache auch keinen Bluesrock! Ich bin keine Bluesrock-Band!“ Hat er vielleicht Angst, als Bluesmusiker für konservativ gehalten zu werden?

Man denkt an ein populäres Cartoon-Meme: „Old Man Yells At Cloud“. Darin brüllt Grandpa Simpson eine Wolke an und richtet die Faust gen Himmel – trauriges Sinnbild für sinnlosen, fehlgerichteten Alterszorn. Wer als junger Mann wütend ist, wirkt tatkräftig. Wer als älterer Mann wütend ist, wirkt oft verzweifelt und unbelohnt. Johnson hat das Zähnefletschen nicht verlernt. Er weiß jedoch, wie schnell man als „alter weißer Mann“ gilt.

Boomer-Momente gibt es auch auf „Ensoulment“. Johnson karikiert mit bebender Stimme Trends, denen Menschen folgen, die 40 Jahre jünger sind und denen es sicher egal ist, was der Herr Johnson dazu sagt. In „Zen & The Art of Dating“ geht es um Tinder: „Swipe To The Left / Swipe To The Right / She Needs Somebody Tonight“. Vokabular der Digital-Ära, das weder wir noch der wortgewandte Systemkritiker Matt Johnson vor 20 Jahren hätte kontextualisieren können. Genau wie „downranked“ oder „untagged“. Keywörter, die er fast rappt, um sie alle unterkriegen zu können.

Matt Jonson: „Ich kritisiere die Jungen nicht“

„Und in 20 Jahren erfährt ‚Swipe‘ wieder eine neue Bedeutung!“, sagt Johnson. „Aber: Ich kritisiere die Jungen nicht. Ich kommentiere sie nur. Ich beobachte. Mein ältester Sohn tindert.“ Das Lied sei sein Kommentar zur „Sehnsucht nach Intimität im Zeitalter der Entfremdung.“ Zen meint: aufhören zu suchen, lieber „man selbst sein“, dann komme das Glück von allein. Ganz so locker klingt das Stück aber nicht. Diskussionen über den unheimlichen Erfolg von Tinder führte man vor fünf Jahren. Daran merkt man, dass manche Themen bei Johnson lange liegen geblieben sind.

Dagegen „A Rainy Day in May“: der Nostalgierückblick auf ein analoges Leben ohne Besuchsmöglichkeiten digitaler Profile, eine Zeit, als Abschiede von Zufallsbekanntschaften noch ein Nimmerwiedersehen bedeuteten – „A chance meeting on a train / will I ever see you again?“.

Der Schlüsselsong auf „Ensoulment“ ist einer, dessen Stimmung allein der Titel offenbart: „Some Days I Drink My Coffee By The Grave Of William Blake“. Johnson besucht das Grab des englischen Dichters regelmäßig. Er spricht es nicht aus, aber sieht sich wohl als Wesensverwandter. Ein Anti-Rassist, Anti-Sexist. Ein Revolutionär.

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„Blake war eine Identifikationsfigur des anti-establishment. Heute leben wir in der Ära der Zensur und des Autoritarismus. Gegenbewegungen werden kriminalisiert.“ Johnson betrachtet es ironisch: „Zeit seines Lebens wurde Blake angefeindet. 200 Jahre später feiern wir ihn als einen der größten Poeten.“

Außerhalb des Friedhofs herrsche Chaos. Das London, in dem Johnson groß wurde, existiere nicht mehr. „Korrupte Städteplaner bauen den historischen Kern um. Einwohner werden ausgetauscht. Gentrifizierung. Die Leute, die jetzt im Old London wohnen, interessieren sich nicht für London. Folgen irgendwann dem Lockruf des Geldes und ziehen weg. Die, die nachkommen sind nicht besser.“ Deshalb Blake. Ur-Londoner. Gute alte Zeit. Das Grab. Johnson davor, mit Kaffeebecher in der Hand. Der Friedhof als Ruhestätte. Nicht nur der Toten, sondern auch der Lebenden. Beschützt vor der brüllenden Welt.

William Blakes Größe wurde postum erkannt, erst hundert Jahre nach seinem Tod 1827. Das wird Matt Johnson nicht passieren. Seine Anerkennung hat er schon erfahren. Kann er mit dem ersten The-The-Album seit mehr als zwei Jahrzehnten etwas bewegen – entdeckt ihn eine neue Generation? Oder spricht er nur zu denen, die ihn längst verehren?

Sein 1983er-Hit „This is the Day“ lief in „Guardians of the Galaxy, Vol.3“. Ein Marvel-Film, superamerikanisch, das ist ihm egal. Sogar das alte Musikvideo, damals war er noch Wuschelkopf, wurde restauriert. Hipster feierten das. Aber es ist unklar, ob die Marvelfans wissen, was dieser Mann namens The The heute macht. Eine exzentrische Stimme unserer Zeit: Das bleibt Matt Johnson so oder so.

Andy Paradise
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