Classic-Rock mit dem Kanzler-Gütesiegel
August 2000 Der „Wind Of Change“ war verweht, die Karriere ins Straucheln geraten. Also bedienten sich die Scorpions einer ebenso alten wie unappetitlichen Idee und traten mit den Berliner Philharmonikern auf der Expo auf. Unter den Gästen: Gerhard Schröder. von Jörg Gülden
Alle waren sie da: der Kanzler, Frau Schröder-Köpf, der Ministerpräsident, der Oppositionsführer, die Expo-Übermutter Breuel, Karl Dall, Heinz Rudolf Kunze, Thomas Koschwitz, Darius Michalczewski und, und, und. Ingo und ich, wir waren auch da. Nur die beiden großen Scorps-Biografen Edgar Klüsener und Hollow Skai glänzten durch Abwesenheit. Dabei sollten doch Sarstedts finest hier und heute ihren definitiven „Moment Of Glory“ haben: „Rock meets Classic“, fünf Scorpions gegen 90 Berliner Philharmoniker, ein musikalisches Scharmützel, das die ewig sprachlose ewige Moderatorinnen-Hoffnung Désirée Nosbusch später zu dem Satz „Es ist doch wirklich klasse, dass sich E-Musiker und E-Gitarren so gut verstehen“ hinriss.
Doch der Reihe nach: Um Punkt 20 Uhr bricht in der Preussag-Arena am Expo Plaza der „Hurricane 2000“ los (früher mal als „Rock You Like A Hurricane“ bekannt). Die Philharmoniker hocken schwarzbefrackt wie die Pinguine im Hintergrund der riesigen Bühne, streichen den Darm, stoßen ins Horn und hauen auf die Pauke. Und vorne zeigen Klausi und die Seinen den 10.000 Zuschauern, wo der Metal-Hammer hängt. Man ist zwar nur zu fünft, hat aber die Finger am Potentiometer und kann’s beliebig laut krachen und Tubas zu Kazoos schrumpfen lassen.
Und man steht in der ersten Reihe und kann dem Volk zeigen, wie so richtig gerockt wird und wie man sich von Sarstedt aus die Welt Untertan macht. Zu guter Letzt hatte das mit der globalen Eroberung nicht mehr so richtig geklappt, denn das Album „Eye To Eye“ entpuppte sich (trotz Bekenntnis zum immer höher werdenden Haaransatz) als bummer, und die Scorps-Homepage brachte dieses Dilemma gar mit erschreckender Offenheit auf den Punkt. „Irritierend frisch“ sei die Platte, hieß es hier, und man verstand: Die Scorps fanden sie frisch, die Fans hingegen wohl ziemlich irritierend.
Heute nun soll die Scharte ausgewetzt werden, es gilt schließlich den Ruf der erfolgreichsten deutschen Rockband zu retten. Folglich fährt man allerschwerstes Show-Geschütz auf: Klausi, das Kangaroo-Käppi keck auf dem Kopf, fegt in seinem bordeauxroten Bratenrock wie Catweazle auf Acid über die Bühne und hat dank Viagra auch heute noch eine prima Dauererektion im rechten Zeigefinger. Matthias Jabs hingegen macht uns den mucho macho axeman, da backt selbst ein Slash nur mickrige Brötchen. Seine glänzend schwarzen Hosen sind feinstes Bondage-Latex, sein offenes Hawaii-Hemd gibt eine stolz geschwellte, rasierte und eingeölte Brust frei – Motto: schaut her, wie hart ich schon vom ersten Song an reinhaue -, und den Kopf ziert das obligatorische Piratentuch. Und natürlich lässt Jabo keine noch so ausgelutschte Oldschool-Pose aus: Mit gespreiztem Gebein drischt er auf die Jabocaster ein, die Physiognomie lässt uns jedes hohe C mit durchleiden, und wenn ihn wieder mal das Tier packt, dann wird die Klampfe in 90-Grad-Haltung malträtiert. Doch was bitte ist bloß mit uns Rudi los? War der nicht früher das Tier? Gefletschtes Gebiss, die Flying V immer schussbereit im Hüftanschlag? Heute steht rockin‘ Rudi wie angenagelt auf der Bühne, spielt sichtlich lustlos seinen Striemel runter und kriegt die Beißer nur mühsam auseinander. Bis Ingo und mir ein Licht aufgeht: Der Mann leidet! Leidet unter seiner Hose. Denn das Teil, das schon auf 20 Meter steif wie ein Brett wirkt, muss aus Carbon-Faser sein. Da muss sich der Scorps-Haus-Couturier, der Gaultier sonst wie einen Änderungsschneider aussehen lässt, arg in der Stoffwahl vertan haben.
Die beiden Herren Rieckermann und Kottak, im Scorps-System eh nur Statisten, tun das, was sie zu tun haben: Der eine zupft den Bass, der andere drischt wie irre auf sein Trommel-Arsenal ein. Was uns von der Optik wieder zum „Moment Of Glory“ bringt, denn das, was uns nun an Gästen und musikalischen Überraschungen offeriert wird, dürfte als „Metal Moiks Musikantenstadl“ alle, aber auch alle TV-Quoten sprengen. Zur „Glory“-Expo-Hymne bittet Klausi nämlich die Gumpoldskirchener Spatzen, einen leibhaftigen Kinderchor, und die Expo Singers, ein paar Sanges-Profis aus dem niedersächsischen Underground, auf die Bühne. Und dann wird gebalzt und geschmalzt, dass die ersten Hundertschaften schon zum Feuerzeug greifen, und nachher sagt der Klausi artig „dankä schään“.
Kaum haben die legendären Gumpoldskirchener Spatzen das Feld geräumt, zerrt Klausi auch schon den nächsten Stargast auf die Bühne: Italiens Joe Cocker, Zucchero. Mit dem erfleht er erst „Send Me An Angel“ und gestattet ihm dann – wohl in gänzlicher Unkenntnis der Dinge -, Verdis „Va Pensiero“ im Scorps-kompatiblen Viervierteltakt zu vergewaltigen. Dass es sich hier um einen Gefangenenchor aus, ,Nabucco“ handelt, ist bis dato noch nicht bis nach Sarstedt gedrungen – was man mit provinzieller Krähenwinkelei entschuldigen kann; unentschuldbar aber ist, dass der weltweit gefeierte „Klangkörper“ aus Berlin diese Traves-tie fiedelnd und bummsend mitmacht. Man lernt: Hochkultur ist nicht nur käuflich, sondern geht, gegen entsprechende Entlohnung, sogar auf den Strich. Wie sprach diesbezüglich Sir Simon Rattle, demnächst Chef der Berliner Fremdgänger, doch so richtig: „Eine grauenhafte Idee. Aber nun sollen sie es durchziehen und einsehen, dass es eine grauenhafte Idee war.“
Da die 90 Mann keine Anflüge von Selbstzweifeln zeigen, nein, die grauenhafte Idee gar sichtlich genießen, zerrt Klausi erneut die Spatzen-Schar auf die Bühne. Dirigent Christian Kolonovitz, dem die Welt die Milestones und Schoenherz verdankt, glättet seinen Echtlederfrack, erhebt den Taktstock – und ab geht’s mit einem direkt ins Herz fahren – den „We Don’t Own The World“. Désirée verschlägt’s glatt die Sprache, nur so etwas, das wie „global village“ klingt, kommt ihr über die Lippen, und Klausi fragt kämpferisch: „Hey, wie seid ihr drauf da draußähn?“ Meint er uns, die Touris auf dem Expo Plaza, nee, er muss wohl „the world“ meinen. Inzwischen ist die Stunde gekommen, da Kinder und Spatzen ins Bett müssen, jetzt darf’s (nach niedersächsischen Maßstäben) ruhig so’n bisschen jugendfreier werden. Also eskortiert Klausi für das „Here In My Heart“-Duett eine Schnitte auf die Bühne, deren Talent ihm nur beim Studium des „Playboy“-Kalenders offenbar geworden sein kann. Lyn Liechty heißt die Dame, die auch singen kann, aber die anschließenden Begeisterungsstürme primär dadurch auslöst, dass sie einen weißen Overall trägt, der oben so weit offen steht, dass ihre prallen Halbkugeln bei der geringsten Bewegung ins Freie zu hüpfen drohen. Tun sie aber nicht, und aufs „ausziehn, ausziehn“- Ballermann-Niveau sind Gentleman Ingo und ich noch nicht gesunken.
Wenn schon nicht Phil Collins, dann soll’s wenigstens irgendeiner von Genesis sein! Das müssen sich die Scorps wohl geschworen haben, als sie den gesichts- und farblosen Ray Wilson, den „Neuen“ am Mikro der Bombast-Dinosaurier, nach Hannover baten. Arm in Arm mit Klausi darf der nun „Big City Nights“ mitschmettern – und Rudi wagt trotz Carbonfaser-Hose den Pete Townshend-Jump mit angezogenen Knien. Sieht aber voll Kacke aus … Apropos Dinosaurier: Ist das mit Schmuck behängte Urviech, das das Cover der „Glory“-CD schmückt, etwa als Statement à la „wir sind noch da“ oder als Ironie der ganz feinen Scorpsschen Art zu verstehen? Ich tippe mal auf Ersteres, denn als Klausi und Rudi am Tag zuvor von Ministerpräsident Gabriel das Niedersächsische Verdienstkreuz Erster Klasse verliehen bekamen (Matthias musste mit dem Verdienstkreuz am Bande vorliebnehmen, obwohl er so hart arbeitet), da jubelte Klausi: „Wir haben schon viele Preise bekommen, aber zu Hause geehrt zu werden, ist schöner als jede Platinauszeichnung. Das ist Herzenssache.“
Nee, das hat sich nicht Franz Josef Wagner aus den Fingern gesogen, das ist O-Ton Klausi und in intellektueller Schlichtheit auch völlig ernst gemeint. Ich habe die Helden aus dem Kuhdorf Sarstedt anno ’72 erstmals zu Gesicht bekommen. Damals fuhren sie noch kollektiv im VW-Bus (aber schon mit Scorps-Logo) vor und sollten hier in Hamburg der Gartenparty eines Klein- Verlegers etwas Schwung verleihen. Das taten sie zwar auch sehr laut, aber derart hölzern, dass ich bald vor dieser Schülerkapelle Richtung Heimat floh.
Heute sind die Scorps weltweit bekannt, haben waggonweise Platten verkauft und haben sicher – jeder für sich – ein paar Milliönchen auf der hohen Kante. Doch obwohl man sie daheim mit Orden behängt und Klaus Meine (szeneintern Maus Kleine genannt) gar Busenfreund von Kanzler Schröder ist, der Witz ist der: Sie sind immer noch eine Schülerband, wenn auch eine megaberühmte. Fragt mich nicht, warum das so ist, aber für diese Tingeltangel-Klamotten, dieses Neandertal-Gepose und das nach 30 Jahren immer noch nach Baumschul-Abschluss klingende Englisch würde man jede andere Band teeren und federn.
Nicht aber unsere Scorps. Als nach endlosem Tröt- und Fiedel-Intro Klausi endlich den „Wind Of Change“ anpfeift, da bricht in der gesamten Halle das Pandämonium aus. Scheißegal, wie man sich hinterher die Kippe anzünden soll, die Bic-Lighter glühen was der Gastank hergibt, die standing ovations werden von tausendfachen Zeigefinger-Erektionen à la Klausi noch getoppt, und dann fegt der nicht enden wollende Urschrei Ingo und mich glatt vor die Preussag- Arena-Pforten.
Schade, die Zugaben „Still Loving You“ – und damit’s auch der letzte Schnarchsack schnallt: „Moment Of Glory“ zum Zweiten – müssen ohne uns zelebriert werden, doch dafür erfahren wir am nächsten Tag via TV aus kundigen Mündern, dass wir Zeugen waren, als Musikgeschichte geschrieben wurde. Der Kanzler: „Das hat Vorurteile auf beiden Seiten abgebaut.“ Seine Gattin: „Es war schwierig, sitzen zu bleiben.“ Und Classic-Rock-Experte H. R. Kunze an die Adresse von Klausi und Rudi: „Ihr habt nicht so verkackt wie Deep Purple!“ Der Mann blickt durch; in Sachen Optik macht „Brille“ halt keiner was vor.
Ach ja, fast hätte ich’s schamhaft vergessen: In den gut zwei Stunden mit den Scorps haben Ingo und ich immer wieder Tränenbäche (ob vor Lachen oder vor Weinen, das soll hier nun nicht verraten werden) unterdrücken müssen, und daher verspürten wir draußen vor der Tür einen mächtigen Harndrang. Wir wollten erst einen gekonnten Ernst August machen, der ist (oder war) ja wie die Scorps Expo-Botschafter. Doch mit Rücksicht auf die ethnischen Preussag-Minderheiten und die mit Fotoapparaten herumstreunenden Schulkinder haben wir uns dann in einem Expo-Urinal erleichtert. Für eine Mark pro Kopf, der dritte „Moment Of Glory“ und mit Abstand der größte.
Jörg Gülden war von 1994 bis 2001 einer von zwei Chefredakteuren der deutschen Ausgabe des ROLLING STONE. Vorher arbeitete er bei „Sounds“ und „Rock World“ und als Übersetzer. Er starb 2009.