Citizen Michael
Um den toten Künstler wurde eine kultische Farce inszeniert -— der Kitsch verdrängte die gruseligen und bizarren Aspekte eines verpfuschten Lebens. Der Freak Michael Jackson wird für das grandiose Misslingen geliebt.
Der Titelheld war gerade gestorben, als die britische Musikzeitschrift „Q“ ausgeliefert wurde. „Michael Jackson Unmasked“ verspricht das Blatt, „the greatest Comeback ever“. Der Text im Inneren ist mit „This is it“ überschrieben, jenen berühmten doppeldeutigen Worten, mit denen sich der König von seinem Volk verabschiedete, insistierend die schlichte Sentenz wiederholend und den Finger in die Luft stoßend. Das Gesicht auf dem Titelblatt von „Q“ sieht aus wie eine angemalte Maske, nicht wie das Antlitz eines Mannes, der das größte Comeback seit Jesus feiert. Und er feierte es ja auch nicht.
Nachdem Michael Jackson gestorben war, rückte jener Clan wieder zusammen, der – sehr zu Recht – als dysfunktionale Familie gegolten hatte: Vater Joseph, ein geldgieriger und brutaler Haustyrann; Mutter Katherine, die stumme Matrone, der Michael das Sorgerecht für seine Kinder übertragen hatte; die Brüder, eine Bande massiger Ludentypen; die zickigen Schwestern, die eifrig an Verschwörungstheorien mitwirkten. Dass der weltberühmte Bruder sich regelmäßig eine private Apotheke mit Schmerzmitteln und schweren Narkotika injizieren ließ, wollen sie nicht gewusst haben. Schon spekulierte man über den Verbleib der sterblichen Überreste, ob Jacko mit oder Hirn im Sarg lag, ob er überhaupt im Sarg lag, ob der Forest-Lawn-Friedhof von Hollywood tatsächlich seine letzte Ruhestätte sein würde, ob der vergoldete Sarkophag einbetoniert werden sollte, um Grabräuber abzuwehren.
Dann scharte die trauernde Familie ein paar Getreue um sich, die im Staples Center von Los Angeles das Requiem inszenierten: Der ehemalige Basketball-Spieler Magic Johnson erinnerte sich daran, wie er mit Michael und den Kindern frittierte Hähnchen von Kentucky Fried Chicken gefuttert hatte („Der größte Augenblick meines Lebens!“). Brooke Shields hatte mit dem jungen Michael gealbert und gekichert und bei einer späten Hochzeit von Liz Taylor durch den Türspalt gespäht, als die Diva ihr Brautkleid anprobierte, außerdem sei das Lieblingslied (wie auch das Lebensmotto) des öffentlich selten lächelnden Freundes „Smile“ von Charlie Chaplin gewesen (und Brooke Shields lächelte unter Tränen). Stevie Wonder spielte fahrig Klavier und sang dazu schräg zwei seiner alten Lieder. Der meschuggene Prediger Al Sharpton nutzte bellend die Gelegenheit, um Jackson zu einem Vorkämpfer für die Rechte der Schwarzen zu stilisieren und forderte Mahnwachen für den komischen Heiligen: Seltsam sei nicht der Mann gewesen, der sich zu einem Weißen umbauen und seine Kinder im Reagenzglas zeugen ließ – seltsam sei die Welt, in der er leben musste. Berry Gordy machte auf einen einzigen Fehler Jacksons aufmerksam: die Trennung von Gordys Firma Motown im Jahr 1975. Mariah Carey sang ein Jackson-Lied. Eine Kongress-Abgeordnete aus Texas bebte und belferte, erinnerte an Martin Luther King und zeigte dann eine Urkunde her, auf der vom amerikanischen Kongress bestätigt wird, dass Michael Jackson ein Jahrhundertkünstler oder dergleichen gewesen sei. Lionel Richie dirgierte einen Gospel-Chor, der behauptete, dass Jesus uns liebt. Und am Ende sülzten alle den Schmachtfetzen „We Are The World“, bevor Bruder Marion weinend seinen Zwilling im Himmel grüßte und Jackos Tochter Paris ans Mikrofon gezerrt wurde, um – von Heulkrämpfen geschüttelt dem liebsten Papa der Welt zu danken.
Die Kommentatoren waren sich zunächst darin einig, dass dieser Auftritt der bewegende Höhepunkt der grotesken Trauerfeier gewesen sein müsste – bis man erfuhr, dass die Jackson-Schwestern die Kleine zu der Exposition gedrängt hatten.
Fortan wurde darüber spekuliert, wer der wirkliche Vater der drei Kinder sein könnte (der Hautarzt?) und wer die echte Mutter der beiden älteren, wenn nicht doch Debbie Rowe, und die biologische Mutter des Nesthäkchens Blanket, das dem späteren Michael ein wenig ähnelt. Man rätselte über die Schulden des großen Verschwenders und wie viel Vermögen noch zu holen sei und wie hoch die Umsätze sein würden, jetzt, da die Platten von Michael Jackson die ersten Platze der Charts belegten und bereits nachgepresst werden, während Biografien, Sonderhefte, Memorabilia und neue Compilations auf den Markt drängen.
Zur Neverland-Ranch pilgerten arme Menschenwesen, die sich als Jacko verkleiden, den „Moonwalk“ beherrschen oder wenigstens ein Gekrakel von Jacksons Hand besitzen oder ein T-Shirt mit seinem Konterfei. Wie trostlos muss eine Kindheit gewesen sein, damit jemand eine lange Flugreise unternimmt, um vor dem Tor eines privaten Vergnügungsparks mit Gleichgesinnten an eine unglückliche Elendsgestalt – nämlich sich selbst – zu erinnern? In Endlos-Schlaufen wiederholte das Fernsehen Martin Bashirs Dokumentation über Citizen Michael in seinem Prunkschloss, beim Go-Cart-Fahren, beim Kind-aus-dem-Fenster-Halten und Zoo-Besuch in Berlin, beim Shoppen in Las Vegas. Ein verschrobener Kindskopf ist dazu sehen, der gickelt und quietscht, der scheu seinen Tanz zeigt und stolz all den teuren Nippes, den er in einem Kitsch-Laden schon gekauft hat, der die kosmetischen Operationen leugnet, bis die Nase abfällt, der eine Pigmentkrankheit erfindet und schrill fordert, alle Welt solle süß mit Kindern im Bett liegen, heiße Milch trinken und aus Märchenbüchern vorlesen.
Es fehlt nur Rosebud, der Schlitten, der in Orson Welles‘ „Citizen Kane“ die verlorene Kindheit symbolisiert. Und der am Ende im Totenpalast Xanadu auf einem Haufen Plunder verbrennt.
L.A. seine eigene Festung gebaut, die als „Neverland“ bekannt wurde, mit Erlebnispark und Fahr-Attraktionen wie in Disneyland. Hierher holte er sich die Welt, oder zumindest den Teil der Welt, der ihm wichtig zu sein schien, und das waren vor allem Kinder – die Menschen, wie er sagte, bei denen er sich am meisten zu Hause fühlte. Ein Teil von ihm wollte die Kindheit nacherleben und teilen, die ihm sein Vater und die Karriere vorenthalten hatten. Doch dieser Hunger nach der Gesellschaft von Kindern schuf auch die beklagenswertesten Probleme seines Lebens. 1993 erschienen Artikel, wonach Jackson vorgeworfen wurde, er habe einen 13-Jährigen sexuell belästigt. Eine furchtbare Anschuldigung, und angesichts seiner Vorliebe für den Umgang mit Kindern schien sie vielen nur allzu glaubhaft. Die Geschichte wurde auch von den seriöseren Medien aufgegriffen. Anzeige wurde nicht erstattet, doch als er die Sache 1994 außergerichtlich regelte, wirkte das auf viele wie ein Schuldeingeständnis. Jackson stritt das kategorisch ab und sagte dem britischen Journalisten Martin Bashir später, er habe die Angelegenheit einfach nur hinter sich bringen wollen. Seinem Ansehen schadete die Geschichte enorm. Seiner Seele vielleicht nicht weniger. Es war in dieser Zeit, dass er eine Abhängigkeit von Medikamenten entwickelte, die er den Rest seines Lebens nicht mehr los wurde.
Im selben Jahr heiratete er völlig unerwartet Lisa Marie Presley, die Tochter von Elvis Presley. Manche unterstellten, Jackson wolle sich damit nur zwecks Rehabilitation und Imagepflege als normaler Heterosexueller darstellen – und seinen Namen mit einem noch berühmteren verbinden. Die Ehe hielt 18 Monate. Presley hat sich nie negativ, sondern immer nur positiv über Jackson geäußert und sagte nach seinem Tod, sie habe ihn damals nur verlassen, weil sie das Gefühl hatte, ihn nicht vor sich selbst retten zu können. Jackson heiratete 1996 ein zweites Mal, diesmal die Krankenschwester seines Dermatologen, Debbie Rowe. Das Paar bekam einen Sohn und eine Tochter, Prince Michael Jackson und Paris Michael Katherine Jackson, beide waren, so Rowe später, durch künstliche Befruchtung gezeugt worden. Das Paar ließ sich 1999 scheiden, und Rowe gab das Sorgerecht für die Kinder auf.
Im Lauf dieser Geschehnisse verließ Jackson sein musikalischer Drive. Was er veröffentlichte, war nur noch sporadisch gelungen, und oft genug schien er vor allem darum bemüht, sich zu rechtfertigen. In „Childhood“, einem Song aus „HIStory: Fast, Present And Future“ ‚von 1995 verteidigte er sein Anderssein: „No one understands me/They view it as such Strange eccentricities … It’s been my fate to compensate/For the childhood I’ve never known/Before you judge me, try hard to love me/Look within your heart, then ask/Have you seen my childhood?“
Trotz guter Momente – zwischen zu vielen süßlichen und selbstherrlichen – spielte Michael Jacksons Musik in den Neunzigern keine große Rolle in der ständig voranschreitenden Popkultur. Sein letztes Album, „Invincible“ von 2001, enthielt ein paar abenteuerlustige Tracks, aber das reichte nicht, um den Albumtitel zu rechtfertigen. Er blieb durchaus ein großer Star, die Legende jedoch war entstellt: Man kannte ihn nun vor allem für seine Exzesse und seine Fehlentscheidungen. Er lebte in einem Schloss. Er kam zu einem weiteren Baby, Prince Michael II (dessen Mutter nie bekannt wurde) – und dann ließ er dieses Baby in Berlin von einem Balkon baumeln. Erschien nicht das geringste Gespür dafür zu haben, wie seine Handlungen auf die Welt wirken mussten. Was vielleicht nicht einmal weiter schlimm wäre – außer man erwartet von dieser Welt bedingungslose Liebe.
Am folgenschwersten verkalkulierte sich Jackson in dem berühmten Fernseh-Interview mit Martin Bashir 2003, als er erzählte, er teile sein Bett in „Neverland“ immer noch mit Kindern, die nicht seine eigenen waren. In einer Szene hielt er die Hand eines 13-jährigen Jungen, der eine Krebserkrankung überstanden hatte, und erklärte, wieso er derlei Verhalten einfach nur unschuldig und liebevoll finde. Die Öffentlichkeit reagierte hyperkritisch. Dieser Jackson, dachten viele, tat offenbar auch nach den Vorwürfen von 1993 ungestraft schlimme Sachen. Er selbst empfand die Reaktionen als so vernichtend, dass er Gerüchten zufolge versuchte, eine Überdosis Morphium zu nehmen. Den Karriere-Selbstmord hatte er da bereits begangen, wurde kommentiert.
Die Kontroverse erhitzte sich noch, als der Junge im Film Jackson vorwarf, dieser habe ihn begrapscht. Diesmal kam die Sache vor Gericht. Das grauenhafte Drama, in dem Jackson gelandet war, passte zu den obsessiven Themen seines Lebens und seiner Kunst: Ruhm, Geheimnis, Hybris, Angst und geraubte Kindheit. Wenn die Anklage zutraf, dann musste man sich fragen, wie Michael Jackson die Kindheit anderer sah. War er fähig, ihre Unschuld so zu missachten, wie man seine einst ruiniert hatte? Traf die Anklage nicht zu, dann war die Frage eher, welche Befriedigung sein Ruin bringen konnte.
Die Verhandlung wurde 2005 zu dem Spektakel, das alle erwarteten – ein Melodram über Gerechtigkeit und Berühmtheit, Sex und Skandal, Moral und Hautfarbe. Und je länger es sich hinzog, desto klarer wurde, dass die Ankläger zwar laute Empörung, aber wenig Stichhaltiges zu bieten hatten. Der Prozess war eine Farce – schon dass der Fall überhaupt bis vor Gericht kam, schreit zum Himmel -, und Jackson wurde in allen Punkten freigesprochen. Aber diesmal war der Schaden endgültig. Jackson verließ den Gerichtssaal als erschütterter, entkräfteter Mann.
Auch sein Reichtum zerfiel: Jahre lang hatte er Unsummen ausgegeben und sein Geld schlecht verwaltet, wozu bei einem so gewaltigen Vermögen einiges gehört. Der größte Star der Welt war vom höchsten Gipfel gestürzt. Er verließ die USA und ging nach Bahrain, und man sah oder hörte kaum noch von ihm. Niemand wusste, ob er seinen Ruf wiederherstellen oder auch nur sein musikalisches Vermächtnis würde bewahren können – bis er dieses Jahr die unglaublich ehrgeizige Serie von 50 Konzerten in der Londoner O2-Arena ankündigte, die am 13. Juli hätte beginnen sollen, und die Jackson den „letzten Vorhang“ nannte.
Man mag kaum glauben, dass Jackson, der so stolz war auf seine Auftritte – und sie so unvergleichlich performte – sich wirklich auf ein Projekt einlassen wollte, mit dem er so spektakulär hätte scheitern können. Alles, was wir wissen, ist, dass Michael Jackson am 25. Juni in Los Angeles die vielleicht einzige Erlösung fand, die für ihn erreichbar war – im berühmtesten unerwarteten und mysteriösen Tod unserer Tage. Und eine Erlösung war es nicht, weil er starb, sondern weil sein Tod uns zwingt, neu über ihn und sein Leben nachzudenken.
Was hat Michael Jackson umgebracht? Seine lebenslange Jagd nach Ruhm und Rehabilitation? Zum Teil bestimmt. Er trieb es zu weit, er wollte zu viel, er sah keine Grenzen. Und es muss sehr schmerzhaft für ihn gewesen sein, so viel erreicht zu haben und trotzdem immer wieder verlacht und abgelehnt zu werden. Auch das Thema des Kindesmissbrauchs wird mit Sicherheit ein zentraler Knackpunkt bleiben, einer, der Jacksons künstlerische Leistung für viele in den Schatten stellt.
Was also rettet Michael Jackson – nach seinem Tod? Zumindest seine Kunst, das, was er erreicht und geschaffen hat. Wenn jemand so großartige Musik macht, dann bereichert das unser aller Leben und macht unsere kollektive Geschichte komplexer und bewegender. Mit seinem Ehrgeiz, seinen Rückschlägen und vor allem seinem Sound personifizierte Jackson die Geschichte der schwarzen Musik in Amerika. Mehr noch: Indem er Barrieren durchbrach, machte er die Popwelt zu einer integrativeren Szene als zuvor. Er entdeckte Neuland. Und das ist immer eine Wohltat: wenn jemand die Welt der bekannten Möglichkeiten erweitert.