Warum Chuck Lorre der unangefochtene König der Sitcoms ist
Chuck Lorre hat dem „Lachkonserven“-Humor neues Leben eingehaucht, als wir schon dachten, das Format wäre mausetot.
Chuck Lorres Vorliebe für das vorgeblich seichteste aller Comedy-Formate begann bereits 1993 mit „Grace Under Fire“, setzte sich mit „Dharma & Greg“ fort und brachte mit „Two And A Half Men“ und „Big Bang Theory“ zwei der beliebtesten Serien des Genres hervor, die noch immer millionenfach gesehen werden, auch wenn sie schon längst über das Haltbarkeitsdatum hinaus sind.
Was ist das Erfolgskonzepts dieses eigenwilligen Chemikers der Unterhaltungskunst, der im Labor Klischees und bewährte Gags so lange zusammenmischt, bis wieder eine neue Serie heraussprudelt, die den Zeitgeist trifft? Vielleicht hat Lorre einfach ein geniales Gespür für Sentimentalität und Zotenhaftigkeit. Zwei Dinge, die niemandem wirklich wehtun und doch jeden angehen.
Natürlich, die Geschichten um Sheldon Cooper und Charlie Harper sind seine Glanzstücke – und da wäre über „Grace“, „Cybill“ und die Mitwirkung an „Roseanne“ noch gar nicht gesprochen. „Young Sheldon“ ist eine umwerfend warmherzige Nostalgieveranstaltung. Es packt die Zuschauer genau dort, wo sie es vielleicht nach „Big Bang Theory“ nicht erwarteten, aber was sie recht eigentlich unbewusst an der verschrobenen Abgründigkeit der Hauptfigur interessierte.
Lorre versteht es, Charaktere zu schaffen, die herrlich unausstehlich sein können, oder infantil, oder neurotisch verklemmt, oder von allen guten Geistern verlassen. Mal möchte man sie in den Arm nehmen, dann wieder schütteln für ihre Unvernunft. Der Mann wagte es, mit „Mike & Molly“ eine Serie zu machen, die einfach von zwei dicken, aber liebevollen Menschen handelt. Das war das ganze Konzept (bis Melissa McCarthy mittendrin zum Megastar wurde). Wer nun, Jahre nach dem Ende der Serie, von Fat Empowerment spricht, hat dennoch nichts verstanden.
Zwischen Alans borniertem Selbstmitleid und Sheldons schrulliger Soziopathie oszilliert die Seelenschau menschlicher Untiefen im Lorre-Kosmos, die aus der Studioperspektive betrachtet urkomisch ist, aber immer auch einen tragischen Kern hat. Oft gibt es die gleichen Pointen noch einmal. Sie werden aber stets leicht variiert neu aufgekocht. Der Witz ist doch: So ist ja auch das Leben, eine ewige Wiederholungsschleife.
Chuck Lorre weiß, was man tut, wenn einem die Ideen ausgehen
Wer so viel Erfolg hat, der muss die Menschen verstehen, die da vor den Bildschirmen sitzen. „Two And A Half Men“ suhlt sich in veraltet anmutenden Männerbildern und erhitzt sie durch, als sie die halbe Welt schon gar nicht mehr ernst nahm. „Big Bang Theory“ persifliert die Nerdkultur genau in jenem Moment, wo sich der Begriff erst wirklich durchzusetzen beginnt. Fast alle Serien von Lorre tragen vier, fünf Staffeln dick auf, um dann mal charmant, mal ziemlich frech einen Ausweg aus dem drohenden Mangel an Handlungsideen zu finden. Für Lorre ist eine lange Laufzeit auch künstlerisch ein Erfolg.
Bei „Two And A Half Men“ wird das irrsinnige Verhalten ihres großen Stars zum Ansporn, dies erst als naturgegebenes „Character Development“ auszunutzen und die Sendung einfach mit einem anderen Hedonisten-Typ in der Hauptrolle weiterzuspinnen, als es nicht mehr anders ging. Der psychoanalytische Witz der mehrfach codierten Familienfarce – zweieinhalb chaotische, hilflose, manchmal notgeile Männchen unter einem Dach – ging damit zwar verschütt, aber es brachte die Sitcom über die Dekadenziellinie. Welche Comedy-Show hält heute schon mehr als fünf Jahre durch?
Die wichtigen Serien des Showrunners, der gerne auch als eitler Prediger auftritt und seine Gedanken über Gott und die Welt mit seltsamen, kurz aufblitzenden „Vanity Cards“ im Abspann in die Welt gießt, sind aber sowieso andere. Etwa „Mom“, das zunächst als weiblicher Gegenentwurf zu „Two And A Half Men“ hätte durchgehen können. Als das offensichtlich nicht klappte, strich Lorre eine Tochter heraus und bastelte die Serie zu einer scharfsinnigen Comedy über alkoholabhängige und auch in jeder anderen Form süchtige Menschen um, die einander stützen oder verrückt machen. Eine Mutter-Tochter-Romanze, glänzend besetzt mit Anna Faris und Oscar-Gewinnerin Allison Janey. Dazu eine rührende Verneigung vor der Wirkmächtigkeit der Anonymen Alkoholiker.
Natürlich ist Comedy vor allem Timing. Es ist aber, das sieht man bei diesen wundervollen Schauspielerinnen im Detail, auch die Fähigkeit, mit dem Körper im Raum zu agieren, mit Mimik und Bewegungen zu sagen, was nicht ausgesprochen wird. Funny Bones bei der Hausarbeit.
Aber da ist ja auch noch „The Kominsky Method“. Michael Douglas spielt einen abgehalfterten Schauspieler ohne Rollen, der nun eben Schauspielschüler ausbildet und schwer mit seinem Ego und anfangs auch mit seiner Blase zu kämpfen hat. Ihm befreundet zur Seite steht der sarkastische, aber auch soigniert auftretende Alan Arkin, ein großer Agent in Hollywood und stets manierlich unterwegs. Beide kämpfen mit sehr unterschiedlichen Methoden gegen das Altern an. Und wie immer in solchen Geschichten kommen ihnen dabei Frauen in die Quere. Das kann auch einmal die nichtsnutzige Tochter sein.
Angeblich lag das Script für die Buddy-Comedy, die ungewohnt tiefsinnig über den Wert von Freundschaft sinniert, schon lange in der Schreibtischschublade Lorres. Es war eines seiner Lieblingsprojekte, das schließlich bei Netflix landete – und natürlich kaum Zuschauer fand. Es ist die einzige seiner Serien, die vorbehaltlos von Kritikern geliebt wurde. Eine Ausnahme, die man sich leistet, wenn man schon alles erreicht hat.
Man muss sein Publikum kennen – und nicht erziehen
Chuck Lorre mag vielleicht nicht der innovativste oder riskanteste Kreative im Seriengeschäft sein, aber er versteht die Spielregeln der Unterhaltungsindustrie bis ins Mark. Er weiß genau, wie man die breite Masse erreicht, wie man (oft genug auch lauwarme) Witze präzise auf den Punkt bringt und wie man sicherstellt, dass man über Jahre hinweg im Gespräch bleibt. Und wenn es nur darum geht, dass sich Serien-Nerds darüber unterhalten, ob „Big Bang Theory“ mit einem Nobelpreissieg einen idealen Abschluss gefunden hat.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dem Autor und Produzenten, der einstmals einen Song für Debbie Harry schrieb, oft genug vorgeworfen wurde, Vorurteile zu bedienen und gesellschaftliche Errungenschaften in Frage zu stellen. „Big Bang Theory“ mag eine Ensemblekomödie geworden sein, aber würde sie auch den Bechdel-Test bestehen? Lorre ging es stets darum, für alle Zuschauer und nicht ein bestimmtes Publikum zu produzieren, ihnen also nicht vorzuschreiben, was sie zu denken und zu fühlen haben. Das mag aus künstlerischer Sicht ein wenig reaktionär sein. Aber es ist eben auch erfolgreich. Anders ausgedrückt: Der Fortschrittsgeist lacht nicht.
Wenn eines über Chuck Lorre noch nicht gesagt ist, dann vielleicht, was für ein wunderbares Händchen er für verpeilte, verbohrte und zutiefst gehässige Nebenfiguren hat. Ist Ihnen noch nicht aufgefallen? Dann denken Sie mal an Herb Melnick (Ryan Stiles), Tammy Diffendorf (Kristen Johnston) oder Russel, den Apotheker (Martin Mull). Und wenn Sie nun lachen, dann streamen Sie doch noch einmal herein.