Chuck and Roll
Mai 1955
Im Mai 1955 war Chuck Berry zu Besuch bei Leonard Chess, der in einem flachen Ziegelbau in Chicagos South Side residierte. Berry war 28 Jahre alt, fast einsneunzig groß und hatte riesige Hände, die seine dicke Gibson wie ein Spielzeug aussehen ließen. Nachdem er bei der Vorzimmerdame artig um Erlaubnis gebeten hatte, marschierte er ins Büro und spielte Chess ein Demoband mit vier Songs vor. Der war zunächst wenig begeistert, weil Berrys Stil nicht zu dem elektrischen Chicago-Blues à la Muddy Waters und Howhn‘ Wolf passte, für den das Label bekannt war. Doch als er Berrys Version des Country-Songs „Ida Red“ hörte, spitzte Chess die Ohren. Berry spielte es stampfend und mit einem scharfen, rauen Gitarrensound – „motorvatin'“, wie er es in der ersten Strophe nannte. Am 21. Mai ging Berry ins Studio, wo er rasch merkte, dass Chess ein Perfektionist war. Berry musste das Stück — mit Jerome Green aus Bo Diddleys Band an den Maracas und dem großen Songwriter Willie Dixon am Bass – 36 Mal durchspielen. Der Titel wurde in „Maybellene“ geändert, angeblich nach einer Wimperntusche, die eine Frau mal im Büro liegengelassen hatte. „Die Stimmung war prima, es wurde viel gelacht“, erzählt Marshall Chess, Leonards Sohn, der überall dabei war. .Aber weil es noch keine Overdubs gab, musste man so gut spielen, wie es ging.“ Und das taten sie. Nach schweißtreibenden Stunden hatten sie im Kasten, was in den Worten Eric Claptons „für alle Zeiten festlegte, wie Rock’n’Roll zu spielen war“. „Es war eine andere Szene, eine andere Art Musik“, sagte Bo Diddley im Gespräch mit dem ROLLING STONE. Diddley unterschrieb im Juli 1955 bei dem Chess-Ableger Checker Records. Seine erste Single „Bo Diddley“ stieg in jenem Jahr ebenso an die Spitze der R&B-Charts wie Berrys „Maybellene“. „Mit uns begann der Rock’n’Roll“, wusste Diddley.
Berry und Diddley machten bei Chess zwar Geschichte, aber nicht viel Geld. Leonard Chess war berüchtigt für seine Sparsamkeit („Er reparierte die Toilette lieber selbst, als einem Klempner 6,95 Dollar zu zahlen“, verriet Tontechniker Ron Malo). Bei „Maybellene“ machte er DJ Alan Freed zum Co-Autor, was dem einen Gewinnanteil und einen Grund gab, die Platte zu spielen – ein beliebter Trick damals. „Meine Platten sind überall auf der Welt zu hören“, meinte Diddley später bitter, „und ich sehe keinen müden Heller.“