Charlie Watts im ROLLING-STONE-Interview: „Warum Millionen mir zujubeln? Ich weiß es nicht“
Eigentlich wollte Charlie Watts im Frühjahr '95 durch Südostasien reisen, in der Voodoo Lounge. Doch machten logistische Havarien und Muskelspiele örtlicher Bürokraten den Stones einen Strich durch die Rechnung. Die unverhoffte Lücke im Terminplan füllte Jazz-Junkie Watts mit den Aufnahmen zur bereits fünften LP seines Quintetts - und mit einem Interview, in dem sich der sonst so stille Stein erstmals aus der Reserve locken ließ.
Dieser Text erschien erstmals in der ROLLING-STONE-Ausgabe 3/1996
Nobody’s perfect. Nobody außer Charlie Watts. Noch nie hat jemand ein böses Wort über ihn gesagt, nie hat jemand seine Integrität in Zweifel gezogen, seine Klasse, seinen Charme. Die schlimmsten Lästermäuler verstummen, wenn der Name Watts fällt, und wenn ihn Mick Jagger vorstellt, beim Konzert, brandet über dem verdutzten, beinahe verlegenen Drummer ein Jubel auf. der nicht enden will.
Nur Nelson Mandela, schrieb die „Times“, wurden ähnliche Ovationen gebracht, in den Jahren nach seiner Freilassung. „Doch mit Politik hat Charlie Watts nichts zu schaffen, er ist kein Agitator, kein Tribun und kein Kämpfer. Er spielt Schlagzeug. Keine zwei Auftritte sind gleich. Für die Zuschauer mag das zuweilen eine Zumutung sein, weil es nicht immer rollt. „Für mich bleibt es dadurch aber aufregend, es erfordert meine ständige Aufmerksamkeit. Wenn wir eine Weile auf Tour sind, spielen wir exakter, routinierter, aber nicht unbedingt besser. Ich glaube, wir sind am besten, wenn es auf der Kippe steht und wir, ich weiß nicht wie, die Kurve dann doch noch kriegen.“
Charlie Watts: der Dompteur der Rolling Stones
Stimmt genau. Schlampig, urteilen dann diejenigen, die sich an der Synchronität von Rock-Maschinerien ergötzen können. Die Stones haben einfach keinen Sinn fürs Metrische, Perfekte, Programmierte. Hatten sie noch nie. Alle Versuche, das zu ändern, waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Keith haut in die Saiten, daß es kracht. Mick krakeelt zum Steinerweichen und der Trommler hat noch immer keine Ahnung, wie man ein Schlagzeug stimmt. Das scheppert und knallt und taumelt, daß jedes Mitklatschen bereits im Keim erstickt wird. Hallelujah. Mit musikalischer Anarchie hat das nichts zu tun, aber anarchisch ist er, dieser Lärm, von dem Watts behauptet, es sei noch immer Chicago Blues – im Kern. Wenn, frei nach Nietzsche, das Erhabene aus der Bändigung des Entsetzlichen entsteht, dann ist diese Rock’n’Roll-Bestie namens Rolling Stones ein wahrhaft erhabenes Wesen. Und Drummer Charlie Watts ist ihr Dompteur. Im Juni wird der Mann, dem die Hersteller von Drumkits ein überdimensionales Denkmal schulden, da sich allein seinetwegen Zigtausende Rhythmus-Süchtige erst in Schulden und dann auf ihre Skins stürzten, 55 Jahre alt.
Dieses Alter sieht man ihm an, mindestens. Asketisch ist dieses Gesicht, hohlwangig, das Haar dünn und silbern. Er macht den Eindruck einer beinahe stoischen Gelassenheit, und es ist wohl diese innere Ruhe, die seine Freundlichkeit so wohltuend wirken läßt, als sei sie ihm ein Bedürfnis. Er sucht ständig Blickkontakt, doch seine Augen wirken müde, was damit zusammenhängen mag, daß ihm Interviews eine selbstauferlegte, lästige Pflicht sind, derer er sich charmant entledigt, ohne sich je zu krümmen oder auch nur zu verstellen. Fragil wirkt er und sein Händedruck ist keiner, mehr eine Berührung, die signalisiert: Berühr mich nicht Seine Bewegungen sind schlaksig bis unkoordiniert, doch steckt sein schmaler Körper wie stets in untadeligem Textil, teuer und wie speziell für ihn gefertigt, was wohl auch der Fall ist.
„Vieles von dem, was ich spiele, ist aus der Not geboren“
Charlie Watts, Rock’n’Roll-Drummer ohne Ambitionen, Uhrwerk und Rhythmus-Wächter, Groovemaster, Bluesveteran, Bebop-Fan, Jazzman, Dandy. The coolest man in the band. Wir sitzen auf einer Couch, an Small talk besteht kein Interesse. Ich frage ihn nach seinen Lieblingsdrummern, und er strahlt, als ob ich ihn reich beschenkt hätte. Charlie ist in seinem Element. Geduldig setzt er die Meriten von Billy Higgins ins Bild, von Kenny Clarke, Cozy Cole, Dave Tough, Chick Webb, „Philly“ Joe Jones. Expertisen eines Fans. Wie er sein eigenes Spiel charakterisieren würde, will ich wissen. Watts schüttelt den Kopf. „Das sollen andere machen, ich kann das nicht .Vieles von dem, was ich spiele, ist aus der Not geboren, es nicht richtig zu beherrschen.“
Zum Beispiel diese Eigenart von Dir, Hi-Hat und Snare nie gleichzeitig zuschlagen? „Genau. Höchst irritierend. Ich hasse das, kann es aber nicht abstellen. Ich brauche ja die Snare Drum an meinem Knie, und da ich aus dem Handgelenk heraus spiele und meine Bewegung nur aus den Fingern kommt, ist meine Hi-hat sehr niedrig. Um den Backbeat dazwischenzukriegen, setze ich also einen Schlag aus, sonst würde ich mich mit meinen Armen verheddern, (lacht). Ich habe früher nie darüber nachgedacht, ich habe es einfach immer so gemacht. Blöd.“
Ist Dir aber bewußt, daß diese Technik inzwischen unzählige Nachahmer gefunden hat? „Ja, aber es ist absurd. Ich weiß noch, wie Jim Keltner nach einem Auftritt zu mir kam und mir triumphierend mitteilte, er wisse jetzt, wie ich „es“ mache. Ich dachte, er will mich auf den Arm nehmen. Jahre später gestand er mir, daß es schwierig gewesen sei, sein Spiel umzustellen. Er hat meine Notlösung als Stilelement verstanden, und es gibt eine Menge Leute wie ihn, seltsam. Eigentlich müßten sie ja nur ihre Arme einsetzen, dann könnten sie durchspielen.“
Hast Du eigentlich jemals den Versuch gemacht, straight zu spielen und athletischer? „Oh ja, klar. Es hat nicht geklappt. Damals, als Beat groß war und alle Ringo sein wollten, habe ich es eine Weile ausprobiert, aber alle waren dagegen. Keith fand es fade, Ian Stewart vermißte den Swing, also bin ich zu meinem natürlichen Stil zurückgekehrt und habe seither nicht mehr daran herumgepfuscht (lacht).
Gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen Deinem Stil und dem simplen Aufbau Deines Schlagzeugs? „Wahrscheinlich schon. Ich habe nie mehr gebraucht. Ich wüßte auch nicht, was ich mit zusätzlichen Teilen anfangen sollte. Viel von dem, was ich mache, wie ich die Sticks halte, habe ich bei Phil Seaman abgeguckt. Er war der erste, den ich so spielen sah, mit dem altmodischen Griff. Das grenzt die Reichweite natürlich ein, weshalb die Kits klein bleiben und entsprechend eng stehen. Die modernen Drummer, die Ringo nacheiferten und lernten, mit den Armen zu spielen, hatten dann schon bald einen gewaltigen Aufbau aus zig Teilen, auf denen sie sich austobten. Das ist nichts für mich. So wie Phil Seaman spielte, brauchte er nie einen großen Apparat.“
Manchmal schon. Ich erinnere mich mit Schrecken an eine Art Battle with Drummers zwischen Seaman und Ginger Baker. Beide hatten riesige Batterien um sich aufgebaut und wechselten sich mit Soli ab, über eine Stunde lang. Am Ende sollte das Publikum entscheiden, wer besser war. Eine wahre Tortur. Weißt Du davon? „Mich überrascht das, obwohl es Ginger zuzutrauen ist. Du mußt wissen, daß Phil so etwas wie Gingers Guru war. Die beiden haben sogar zeitweise im selben Haus gewohnt. Als ich Ginger kennenlernte, das muß 1959 gewesen sein, stand er ganz unter dem Einfluß von Phil. Natürlich entwickelte er später seinen persönlichen Stil, nicht erst in Afrika.Wann fand denn dieser merkwürdige Wettbewerb statt, als die beiden noch bei Airforce waren?“
Nein, viel früher. Es muß 1968 gewesen sein, bei einem dieser National Jazz & Blues Festivals, in Sunbury oder in Plumpton. „Und wer hat gewonnen?“.
Niemand. Der Beifall hielt sich für beide in Grenzen. Robert Wyatt kam schließlich auf die Bühne und erklärte den Fight für unentschieden. Ich weiß noch, daß fast alle im Publikum herzlich gähnten. „Kein Wunder. Was für eine blödsinnige Idee.“ (Aus dem Zimmer nebenan dringt Radiomusik an unser Ohr. Charlies Fuß fangt unmerklich an zu wippen.)
Ist das ein Reflex oder magst Du diese Musik? „Oh, ich mag sie. Das sind Oasis. Sie haben einen guten Drummer (lacht). Nun ja, mein Gehör ist gewissermaßen darauf geeicht. Sein Gefühl für die Becken ist gut entwickelt, auch wenn er viel zu laut spielt, aber das trifft praktisch auf alle neuen Bands zu. Mich beeindruckt, wie Oasis zusammenspielen, allerdings klingen viele ihrer Platten eher wie Beatles-Outtakes und damit hätte ich auf Dauer schon ein Problem.“
Die alte Rivalität zwischen den Beatles und den Stones wird gern als Vorbild hingestellt für die Fehde zwischen Oasis und Blur. Gibt das Deiner Meinung nach Sinn? „Nein, das ist fabriziert. Ein Marketing-Schachzug, der aber offensichtlich seinen Zweck erfüllt.“
Das klingt, als hättest Du Verständnis dafür. „In gewisser Weise schon. Es ist ja immens schwer für junge Bands mit Gitarren, Bass und Schlagzeug. Was auch immer sie machen, es war schon mal da. Entweder werden sie mit uns verglichen oder mit The Clash oder mit The Who, was immer. Ein Sänger muß sich doch nur ein bißchen bewegen können, dann beschuldigen ihn alle, Mick zu imitieren. Wir hatten es da noch erheblich leichter. I mean, we just did it. Unsere Vorbilder waren ja Blues-Sänger, die zum Teil schon unter der Erde waren, oder alt und grau. Keiner wäre damals auf den Gedanken gekommen, uns als einen Abklatsch von Jimmy Reed zu bezeichnen.“
Vermutlich, weil die meisten darüber einfach nicht Bescheid wußten. „Absolut, das kam noch hinzu. Sogar in Amerika waren Elmore James oder Howlin‘ Wolf nicht gerade Namen, die den Leuten geläufig waren. Viele glaubten allen Ernstes, wir hätten diese Musik kreiert. Mit einer derartigen Ignoranz können junge Bands heute nicht mehr rechnen. Ihre Quellen liegen doch offen zutage.“
„Oasis wollen ja nicht mich beeindrucken, sondern ein sehr junges Publikum“
So sehr die Musik von Oasis Beatles-beeinflußt ist, so offenkundig geht ihre Attitüde und ihr flegelhaftes Benehmen auf das Beispiel der Stones zurück. Fühlst Du Dich verantwortlich? „Nein, aber es gefällt mir schon. Bis zu einem gewissen Punkt. Doch was immer sie sagen oder tun, es ist nicht an meine Adresse gerichtet. Oasis wollen ja nicht mich beeindrucken, sondern ein sehr junges Publikum. Das scheint ihnen ganz gut zu gelingen. Immer noch besser als diese einförmige, choreographierte Dance Music.“
Bei der Pressekonferenz zum Tourstart letztes Jahr in Stockholm hast Du auf die Frage eines Journalisten geantwortet, ob die Stones auch heute noch bad boys sind. Mick entschied, das sei eine „Charlie-Frage“ und hat Dich zum Mikrophon gezerrt. Es war Dein einziger Beitrag zur gesamten Pressekonferenz. „Wir haben eine wundervolle Arbeitsteilung in dieser Band, und zu Micks Part gehört der Umgang mit den Medien. Und er macht das sehr gut, obwohl er den ganzen Rummel nicht ernster nimmt als ich. Der Unterschied ist nur: Ihm macht es Spaß, mir nicht. Ich habe mich im mehr herausgehalten, abseits. Und ich bin heilfroh, daß unsere interne Arbeitsteilung mir das ermöglicht.“
Was ist Dir denn durch den Kopf gegangen, als Dir während der Voodoo-Lounge-Tour überall diese Ovationen entgegenschlugen? „Ich muß zugeben, daß es mich anfangs ein wenig aus der Ruhe gebracht hat Aber ich habe erkannt, daß es besser ist, nicht darüber zu sinnieren. Es ist Teil der Show, fertig. Ich lasse es nicht an mich heran, das wäre zu beunruhigend.“
Ich habe Dich mehr als einmal von der Bühnenseite aus beobachtet und hatte den Eindruck, es war Dir manchmal richtiggehend peinlich. „Ja, es hat mich verunsichert, ich weiß nicht warum. Ich meine, überleg doch mal: Was soll man tun, wenn man sich zehnmal erhoben und verbeugt hat und sie hören nicht auf damit. Es macht dir Angst, weil du nicht weißt, warum sie dich für ihre Massenbewunderung auswählen. Also habe ich mich innerlich dagegen gewehrt. Aber nach den Shows war es kein Thema mehr.“
Du hast keine Ahnung, warum Dir Millionen zujubeln? „Nein, und ich will es auch nicht wissen. Es bin ja nicht ich, den sie aufs Podest heben, sondern jemand, den sie zu kennen glauben. Ich führe ein sehr zurückgezogenes Leben mit meiner Frau. Showbusiness findet für mich nur auf der Bühne statt, danach bin ich keine öffentliche Person mehr. Ich weiß wirklich nicht, was die Leute in mir sehen.“
Könnte es nicht sein, daß sie Dich lieben, eben weil Du kein Zirkuspferd bist, daß sie Dir dafür einfach Respekt zollen wollen? „Doch, vielleicht. Trügerisch ist es trotzdem.“
In Deinem Buch über das Leben von Charlie Parker schreibst Du über den Anfang des Endes von „Bird“: „Rejected, brought down, he sought an outlet. He found it in bad seeds and rye drinks.“ Ließe sich über Dich ähnliches schreiben? „Nein, darauf kann ich mich nicht herausreden. Es stimmt, daß ich in jungen Jahren Charlie Parker nacheiferte und es damit übertrieb. Die schreckliche Zeit Mitte der Achtziger war aber alles andere ab ein romantisches Rollenspiel. Es schien so harmlos zu beginnen, aber dann ging es in einem Wahnsinnstempo bergab mit mir. Du weißt schon bald nicht mehr, was du tust. Alkohol, Speed, Heroin, fast zwei Jahre lang, und am Ende hätte ich mich beinahe umgebracht. Meine Ehe ging fast in die Brüche, meine Tochter erkannte mich nicht mehr. Es ist sehr schwer, im Nachhinein irgendeinen Sinn hineinzulesen.“
„Mir war klar, daß ich am Ende war, als ich während einer Session im Studio umkippte“
Keith sagt, es habe viel zu tun mit Dummheit. „Keith hat’s nötig, (lacht). Aber ich weiß, was er meint. Er war auch ein Junkie, aber auf die Gefahr hin, daß sich das absurd anhört: He was a sensible junkie. Vernünftig insofern, als er seine Sucht im Griff zu haben schien und sie seine Arbeit nicht beeinträchtigte, soweit man das als Außenstehender beurteilen kann. Mir war klar, dass ich am Ende war, als ich während einer Session im Studio umkippte. Keith mußte mir aufhelfen. Ich hab mir das nie verziehen. Aber dann hörte ich auf, einfach so.
Damals, im Anschluß an „From One Charlie“, begann sich auch die Musik Deines Quintetts zu wandeln, von Bebop zu „A Tribute To Charlie Parker With Strings“ und dann weiter zurück zu „Warm And Tender“ und jetzt „Long Ago And Far Away“. Wäre es zulässig, diese Rückwendung in die Zeit des Jazz vor Charlie Parker als Ausdruck von Harmoniebedürfnis zu verstehen? „Keine Ahnung, jedenfalls nicht bewußt. Du meinst, weil alles so dezent orchestriert ist. Ich sehe das anders. Diese Art von Jazz und Bebop können durchaus parallel verlaufen, einander durchdringen. Eine Trennung macht wenig Sinn.“
Charlie Parker hat noch 1949 eine sehr scharfe Trennlinie gezogen. Bop, sagte er, sei keine Fortentwicklung des Jazz, sondern eine neue Musik, ohne durchgehenden Beat. War das alles Propaganda, um auf den Bop aufmerksam zu machen? „Ich kenne diese Äußerung von ihm nicht. Sieht ihm gar nicht ähnlich. Er war ein so kluger und besonnener Mann. Aber vielleicht hast Du recht, womöglich meinte er mit dem Besteck klappern zu müssen. Von allen Träumen, die ich je hatte, ist der, mit Charlie Parker zu spielen, der am häufigsten wiederkehrende. An der Stelle, wo er das sagt, würde ich aber gerne aufwachen.“