Charles Burns – Der Horror, der nicht weichen will
Er malte Albumcover für Iggy Pop und wurde mit der Serie "Black Hole" zu einem der gefragtesten Comiczeichner. Die Kulisse seiner neuen Trilogie hat Charles Burns der eigenen Erinnerung entnommen. William S. Burroughs und "Tim und Struppi" zitierend, inszeniert er seinen subtilen Horror zwischen Punk und Kunst im Kalifornien der Siebziger: Bilder, die bleiben
Charles Burns blutet. Das Papiertaschentuch in seiner rechten Hand färbt sich langsam rot. Er schaut etwas missmutig, denn er muss an diesem Tag mit dem verletzten Finger noch viele Bücher signieren. Der Ärger hat ihm ein paar vertikale Linien auf die sehr hohe Stirn gezeichnet. Wenn es sich hier nicht um die Realität handeln würde, sondern um einen seiner Comics, könnte über diese kleine Wunde der Horror in die Geschichte sickern. So wie in seiner zwölfteiligen Serie „Black Hole„, die zwischen 1995 und 2005 erschien und ihn zu einem der weltweit populärsten Comicautoren machte. Dort infizieren sich Teenager über Körperflüssigkeiten mit einem geheimnisvollen Virus und leben dann als Aussätzige im finsteren Wald.
Bei näherer Betrachtung sieht der 56-Jährige sogar ein bisschen aus wie eine Charles-Burns-Figur – ein sehr klares, bestimmtes Gesicht, scharf, mit perfektem Strich gezeichnet, dass man glaubt, man könnte sich daran schneiden. Es gibt tatsächlich einen Cartooncharakter, der Charles Burns heißt – Charles Montgomery Burns, um genau zu sein, raffgieriger Besitzer eines Atomkraftwerks in Springfield. Sein Schöpfer, Matt Groening, hat den echten Burns in den Siebzigern auf dem College in Olympia, Washington kennengelernt. Sie mochten sich wohl nicht besonders, der lustige Hippie und „Simpsons“-Erfinder Groening und der Schwarzmaler Burns, der es mit dem Nihilisten William S. Burroughs hält. „Ich mag es, wie er auf Amerika schaut, und das Groteske an diesem Land hervorhebt“, sagt Burns. „Und er ist dabei ungeheuer komisch.“
Klingt fast wie eine Selbstbeschreibung. Egal, ob man auf die Geschichten schaut, die Burns in den Achtzigern für das von Art Spiegelman und seiner Frau Françoise Mouly herausgegebene „Raw“-Magazin gezeichnet hat, oder sein Cover des Iggy-Pop-Albums „Brick By Brick“, die Illustrationen für Dave Eggers‘ Literaturmagazin „The Believer“ oder sein Opus Magnum „Black Hole“ – immer wieder dreht er seinen harten Realismus ins Surreale, Absonderliche. Er ist schon mit David Lynch verglichen worden und mit Stephen King.
Sein neuestes Werk ist als Trilogie angelegt. Der erste Teil, „X“, erschien vor zwei Jahren, der lang erwartete zweite, „Die Kolonie“, ist nun in deutscher Übersetzung erhältlich, während die US-Fans noch bis Oktober warten müssen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der junge Kunststudent Doug. Er scheint ein schreckliches Ereignis zu verdrängen, das seinem Leben eine schicksalhafte Wendung gab. Auch als Leser dieser Geschichte tappt man anfänglich im Dunkeln. Die Story entwickelt sich langsam – wie ein Polaroid. Man folgt Dougs Gedanken und bemerkt, wie ganz allmählich über Farben und Formen die Erinnerung zurückkehrt – ein lilafarbener Bademantel, Fotos, fötusähnliche Gestalten, aufplatzende Körper, Echsenmenschen, eine männliche Stimme aus einer Gegensprechanlage in der Wand. Motive, die immer wiederkehren. „So funktioniert mein Gedächtnis“, meint Burns. „Über sich wiederholende Bilder, aus denen langsam etwas entsteht – eine Geschichte, eine Erinnerung. Man sieht etwa ein rosafarbenes Panel mit einem dunklen Muster darin und weiß nicht, was es bedeuten soll. Einige Seiten später sieht man ein Panel, das Dougs Vater vor dem Fernseher sitzend zeigt und man erkennt, dass es sich bei dem Muster um die Asche einer Zigarette handelt.“ In dieses Memoryspiel hat Burns eine weitere Geschichte geschnitten, einen Comic im Comic, der die Erinnerung kitzelt, beim Leser ein Gefühl des Wiedererkennens auslöst: Der Strich kommt einem bekannt vor, die ligne claire, die cartoonhaften Charaktere – das sieht aus wie … Hergé. Burns erzählt in diesen Episoden im Stil des „Tim und Struppi“-Schöpfers von Dougs Alter Ego Nitnit, dem umgekehrten Tintin (so heißt Tim im französischen Original) also.
Ich habe noch keinen amerikanischen Comiczeichner meiner Generation kennengelernt, der mit, Tim und Struppi‘ aufgewachsen ist. Da bin ich der einzige“, so Burns. „Mein Vater hat mir, als ich fünf war, den ersten Band einer amerikanischen Ausgabe gekauft, die bereits nach sechs Folgen wieder eingestellt wurde. Ich konnte damals noch nicht lesen, da haben die Bilder natürlich einen noch viel stärkeren Eindruck auf mich gemacht. Ich musste mir selbst ausdenken, wie sie zusammenhängen. Als ich mich dann entschlossen hatte, zum ersten Mal einen Farbcomic zu machen, der zudem noch vom Gedächtnis handelt, musste ich nicht lange überlegen, welches Vorbild ich nachbilden wollte.“
Es hilft beim Verständnis von „X“ und „Die Kolonie“, auf diese kindliche Technik zurückzufallen, die Texte bei einer zweiten Lektüre auszublenden und nur die Bilder erzählen zu lassen. Man wird Verbindungen herstellen und Hinweise auf den weiteren Verlauf finden, die einem zuvor entgangen sind. Wie gut seine Geschichte sogar ganz ohne den Text auskommt, hat Burns in einem Band für den französischen Verlag Dernier Cri gezeigt: „Johnny 23“ ist eine Art Bootleg-Version von „X“, in der er alle Sprechblasen mit kryptischen Zeichen einer Geheimsprache gefüllt hat. Der Titel des Bandes ist eine Anspielung auf Burns‘ alten Helden William S. Burroughs, dessen Werk immer wieder durchscheint in dieser Trilogie. Sein Einfluss reicht bis in die Struktur der Geschichte, diese auseinandergeschnittene und achronologisch neu zusammengeklebte Storyline. „Wenn man Burroughs Cut-up-Texte liest, passiert es einem, dass man an einigen Stellen bereits zuvor Gelesenes ergänzt und so die auseinandergerissenen Sätze und Worte wieder zusammensetzt. Der Kopf wird quasi zur Echokammer. So funktioniert das in meiner Geschichte auch. Bei Burroughs‘ Cut-ups spielte allerdings der Zufall eine größere Rolle als bei mir. Ich habe das alles bis ins kleinste Detail geplant.“
Doch „X“ und „Die Kolonie“ sind keine papiernen Referenzgebäude. Im Gegenteil. Man taucht in ein ziemlich detailliertes und lebensechtes Bild der studentischen Kunstszene der Bay Area in den späten Siebzigern ein. „Ich wollte mich unmittelbar auf Fotografien, bestimmte Maler und kulturelle Artefakte aus dieser Zeit beziehen“, so Burns. „Doug ist quasi eine Spiegelung von mir. Ich bin 1977 nach Kalifornien gezogen, um Kunst zu studieren. Ich habe Burroughs gelesen und Pulp-Comics, und ich habe die Werke des Fotografen Lucas Samaras geliebt und versucht, sie nachzustellen – genau wie Doug.“ Auch die Punkszene, die sich zu dieser Zeit formierte, hat Burns porträtiert. Er lebte selbst eine Zeitlang in einer WG mit Mitgliedern der Mutants und Ted Falconi von Flipper und führte vor Konzerten Poetry zu Feedbackgeräuschen vor. „Viele der Musiker waren verschüchterte Kunsthochschultypen, so wie ich. Eine meiner Freundinnen spielte in einer All-Girl-Band namens The Inflatable Boy Clams“, erinnert sich Burns. „Die Musiker waren alle nicht sonderlich gut, aber ich habe den Enthusiasmus und die Anarchie geliebt. Das war das Ende des Hippie-Traums. Anstatt die Welt zu umarmen, durfte man sie sehen, wie sie wirklich war – dunkel und voller Gewalt. Nach Jahren des Fremdseins fühlte ich mich da endlich normal.“
Charles Burns breitet sein Taschentuch aus und prüft es mit ungläubigem Blick. Ein rot-weißes Muster hat sich darauf mittlerweile gebildet. Ganz ähnlich dem auf den mysteriösen gigantischen Eiern, die in „X“ und „Die Kolonie“ immer wieder auftauchen. Die wiederum gleichen den Riesenpilzen auf dem Cover des „Tim und Struppi“-Bandes „Der geheimnisvolle Stern“. Wie es denn überhaupt zu seiner Verletzung gekommen ist, frage ich. Charles Burns schüttelt den Kopf. Es ist noch zu früh, dieses Mysterium aufzuklären.
„X“ und „Die Kolonie“ sind im Reprodukt Verlag erschienen und kosten jeweils 18 Euro. Am dritten Band der Trilogie, der im amerikanischen Original „Sugarskull“ heißen wird, arbeitet Charles Burns noch.