„Charlie Hebdo“-Zeichnerin Catherine Meurisse: „Nach dem Anschlag war alles schwierig!“
Die französische Zeichnerin Catherine Meurisse hat den Terroranschlag auf das Pariser Satiremagazin „Charlie Hebdo“ überlebt. Nun erzählt sie von ihrem schweren Weg zurück ins Leben – in einem Comic.
Ab sofort präsentiert ROLLING STONE zweiwöchentlich Themen aus der Welt des Comics, Cartoons und Zeichentricks in einem neuen Blog: „Neunte Kunst“. Den Anfang macht ein Portrait der „Charlie Hebdo“-Cartoonistin Catherine Meurisse, die in ihrem Comic „Die Leichtigkeit“ ihr Leben nach dem Terror verarbeitet hat. Gewinnen Sie ein Exemplar von Catherine Meurisses „Die Leichtigkeit“ (siehe unten)
Catherine Meurisse gehen am Morgen des 7. Januar schmerzhafte Szenen durch den Kopf. Am Abend zuvor hat sich ihr Geliebter tränenreich von ihr getrennt. Warum, wieso, weshalb; hätte, wenn und aber – all die Konjunktive des Trennungsschmerzes drehen in ihrem Kopf Schleifen. Gedankenverloren dämmert sie noch einmal weg. Als sie das nächste Mal auf die Uhr schaut, ist es 10.18 Uhr und ihr entfährt ein panisches „Scheiße!“. In 42 Minuten beginnt die wöchentliche Redaktionssitzung des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“, zu der sie erwartet wird. Jetzt muss es schnell gehen, doch als ihr der Bus vor der Nase wegfährt, weiß sie, dass sie zu spät kommen wird.
Trennung, Liebeskummer, Lethargie: Dieses Tripel der Depression rettet Meurisse das Leben. Denn als sie vor dem Haus in der Rue Nicolas-Appert Nr. 10 ankommt, richten die islamistischen Brüder Chérif und Saïd Kouachi in den Redaktionsräumen bereits ein Blutbad an. Während sich die junge Zeichnerin gemeinsam mit Kollege und Freund Rénald Luzier (Luz) in einem benachbarten Studio versteckt, dringt das „TAKTAKTAKTAKTAK“ aus den Kalaschnikows der Brüder unbarmherzig in ihr Ohr. Zwölf Menschen, darunter Herausgeber Stéphane Charbonnier (Charb) und die beliebten Zeichner Jean Cabut (Cabu), Bernard Verlhac (Tignous), Philippe Honoré und Georges Wolinski sterben im Kugelhagel der Terroristen.„Das Zeichnen nach dem Massaker war eine Qual“
Auf einen Schlag verliert Meurisse, was zehn Jahre lang ihr Leben ausgemacht hat. Als sie am Tag nach dem Anschlag aufwacht, ist die Leere in ihr um ein Vielfaches größer als am Tag zuvor. „Vorbei! Das war’s mit der Zeichnerei! Ich kann die Stifte nicht mehr sehen!“, schreit es in ihrem Kopf. Am Abend setzt sie sich dennoch an ihren Zeichentisch, um Ideen für die Ausgabe der Hinterbliebenen zu sammeln, die in der darauffolgenden Woche herauskommen soll. Mit leerem Blick sitzt sie am imaginierten Redaktionstisch und hält eine letzte Redaktionskonferenz mit ihren ermordeten Kollegen ab. „Das Zeichnen nach dem Massaker war eine Qual. Die Zeichnungen für die Überlebenden-Ausgabe habe ich mir abringen müssen“, erinnert sie sich heute, zwei Jahre nach den Ereignissen. „Sowohl die politische Karikatur als auch der Comic waren für mich im ersten Moment unrettbar verloren, gestorben mit meinen ermordeten Freunden. Nichts war mehr übrig von dem, was mir das Zeichnen zuvor bedeutete.“
Die Tage danach
Ohnehin sind die Tage zwischen dem Anschlag und dem Erscheinen der legendären grünen Ausgabe mit dem weinenden Mohammed auf dem Titel nervenaufreibend. In der Redaktion schwankt die Stimmung zwischen absoluter Verzweiflung, wehmütiger Erinnerung – und Trotz. Tage, die sich im Gedächtnis der damals 34-jährigen Zeichnerin einbrennen. Bei der großen Solidaritätsdemonstration in Paris, an der sich über eine Million Menschen beteiligen, bricht Meurisse schließlich weinend neben ihrem Kollegen Luz zusammen. Diese Szene hat sie für ihren nun erscheinenden autobiografischen Comic mit dem irritierenden Titel „Die Leichtigkeit“ gezeichnet. Wenige Minuten vor dem Kollaps fragt sie sich da: „Wie geht das, nicht verrückt werden?“
Irgendwann in den Tagen danach zerbricht etwas tief in ihr drin. Sie habe plötzlich nicht mehr gewusst, wie man aus Wörtern Sätze formt und Striche zu Zeichnungen arrangiert. In ihrem Album symbolisiert Meurisse diese Blockade mit roten und blauen Satzenden, die sie einfach nicht mehr zusammenbekommt. In der Psychologie ist diese Konfusion als emotionale Dissoziation bekannt. Dabei löst das Gehirn eine Lähmung des Erinnerungsvermögens aus, um das Trauma aus dem Gedächtnis zu löschen. Weil in der rechten Gehirnhälfte jedoch nicht nur die emotionalen Erlebnisse verarbeitet, sondern auch kreative Prozesse in Gang gesetzt werden, ist die Karikaturistin plötzlich wie paralysiert. „Ich hatte enorme Angst, wegen der Ereignisse nie mehr zeichnen zu können“, erinnert sie sich.
Mit diesem Gedanken war die 35-Jährige keineswegs allein. Die Angst, aufgrund der Gewalterfahrung die Fähigkeit zu zeichnen zu verlieren, hatten auch andere Zeichner aus der Redaktion. Interimsherausgeber Rénald Luzier, der das Trauma des 7. Januar 2015 in seinem Comic „Katharsis“ verarbeitet hat, schreibt zu Beginn seiner gezeichneten Konfrontation mit den Dämonen des Massakers: „Eines Tages ist mir das Zeichnen abhandengekommen. Am selben Tag wie auch eine Handvoll teurer Freunde.“
Der Weg zurück zum Zeichnen
In den Tagen und Wochen nach dem Anschlag kämpft Meurisse um ihre bloße Existenz. „Alles war schwierig, wirklich alles: leben, denken, essen, lachen, weinen – einfach alles“, gesteht sie heute. Sie habe sich gefühlt wie nach einer Explosion, habe wie aufgebrochen am Boden gelegen. Als alle Welt „Je suis Charlie“ postete, wusste sie nicht mehr, wer sie selbst ist.
Ihr Comic dokumentiert den beschwerlichen Weg zurück zu sich und zum Zeichnen. Er beginnt schon auf dem Titel, wo sie eine Düne erklimmt. Hier nimmt sie die Bewegung auf, die sie bis zur letzten Seite nicht mehr stoppen wird. Wortwörtlich läuft sie durch ihr Album und stellt sich dabei ihren Ängsten und Nöten. Zeichnend gibt sie dem Tal der Tränen, das sie durchqueren muss, eine Form und dem Chaos, das sie umgibt, einen Sinn. Das Album liest sich wie ein Tagebuch, in dem Meurisse das Traumatische rekapituliert, um es zu verstehen und zu überwinden. Sie heilt sich selbst, indem sie ihrer kaputten Seele das weiße Papier überlässt – mit jedem Strich ein wenig mehr.
In den Wochen nach dem Blutbad zieht Meurisse sich zurück, liest keine Zeitungen mehr und lässt den Computer aus. Sie will sich die Wirklichkeit vom Leib halten. Doch statt sich zu erholen, gerät die junge Künstlerin in der sie umgebenden Stille immer stärker in Bedrängnis. Nicht nur ihre Sätze und Zeichnungen, sondern ihr ganzes Leben besteht plötzlich nur noch aus losen Enden.
Diesmal helfen weder Proust noch Baudelaire
„Schönheit wird die Welt retten“, soll Dostojewski gesagt haben. An diese Hoffnung klammert sie sich nun und begibt sich auf die Suche nach dem, was die menschliche Kultur an Schönem und Sehenswertem hervorgebracht hat. „Ich wollte meinen Kopf damit überfluten, um die Gewalterfahrung des 7. Januar zu verdrängen. Ich wollte mich dem Stendhal-Syndrom hingeben und durch Reizüberflutung eine Ohnmacht herbeiführen, die mich das Grauen vergessen lässt.“ Sie folgt den Spuren der Literaten, Philosophen und Künstler, denen sie zuvor ganze Comicalben gewidmet hat. Doch ihr helfen weder Prousts Schwelgen in der Vergangenheit noch Baudelaires „Blumen des Bösen“. Die Leichtigkeit des Seins, die sie so dringend braucht, will sich nicht einstellen. Schlimmer noch, die Ereignisse in Paris am Abend des 13. November, als islamistische Terroristen erneut eine Blutspur durch die Stadt ziehen und bei einem Konzert der Eagles Of Death Metal im Musiktheater Bataclan weitere 130 Menschen ermordet werden, reißen die alte Wunde wieder auf.
Die Wahrheit ist hässlich. wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“, heißt es bei Nietzsche. Daran erinnert sich Meurisse und bittet bei der Académie de France in Rom um Asyl: „Sie verkörpern die Schönheit, die Künste, die Erinnerung, deshalb sehe ich in Ihnen den einzigen Ort für meine Genesung.“ Wenige Tage später zieht sie in die Villa Medici ein. Sie spaziert fasziniert durch die Gärten der prachtvollen Palazzi, bestaunt die Kunstwerke von Caravaggio in der Villa Borghese und Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle. „Ich habe diese kulturellen Schätze aufgesogen, um der Schönheit in mir einen Raum zu geben. Literatur, Kunst, Humor und das Schöne sind doch letztendlich nichts anderes als Heilmittel“, sagt sie rückblickend.
Meurisse muss aber auch feststellen, dass die Schönheit voller Brutalität und Gewalt ist. Denn die Plastiken, die sie bestaunt, erzählen Geschichten von Rache und Vergeltung. „Seither erkenne ich in antiken Statuen, denen Arme oder Beine fehlen und an denen der Zahn der Zeit genagt hat, immer meine verletzten und ermordeten Freunde aus der Redaktion wieder. Das war einerseits sehr verstörend, andererseits hat es mir aber die Möglichkeit gegeben, mich langsam dem grausamen Tod meiner Freunde zu nähern. Die Gewalt, die ich in der Kunst antraf, war wie eine Mediation. Durch sie habe ich begriffen, dass Schönheit und Grausamkeit in einer Beziehung zueinander stehen.“
Dennoch zerfällt ihr Leben in ein Davor und ein Danach. Das Album dokumentiert Meurisse’ Blick auf die Welt vom absoluten Nullpunkt aus, ihrem persönlichen Ground Zero. Die Frage, ob sie Wut empfinde, verneint sie energisch. „Ich glaube sogar, dass man den Mördern zu viel Ehre erweisen würde, wenn man sie zuließe.“ Das erinnert an Antoine Leiris, der, zwei Tage nachdem seine Freundin im Bataclan ermordet wurde, auf Facebook einen Brief an die Attentäter veröffentlichte: „Meinen Hass bekommt ihr nicht!“
Verloren gegangene Leichtigkeit
Auch zwei Jahre nach dem Anschlag kann Meurisse keine Wut in sich finden – ein Grund für sie, die politische Karikatur an den Nagel zu hängen, zumindest vorübergehend. „Mir sind meine Schlagfertigkeit und meine Unbekümmertheit abhandengekommen, Eigenschaften, die wir bei ,Charlie Hebdo‘ gepflegt haben. Wir haben uns jede Woche gesehen, gemeinsam gelacht und dabei darüber nachgedacht, womit wir die Leser zum Lachen bringen können. Diese unbeschwerte Zeit ist nun für immer verloren.“
Ihr ehemaliger Kollege Rénald Luzier hat sich bereits aus der Redaktion von „Charlie Hebdo“ zurückgezogen, Meurisse wird wohl eine der Nächsten sein, die geht. Für Luziers Entscheidung, keine Mohammed-Karikaturen mehr zu zeichnen, hat Meurisse vollstes Verständnis. „Seit dem Anschlag erscheint uns die Welt obszön und lächerlich. Wir möchten beide nicht mehr darüber sprechen.“
Wie lange das so bleiben wird, weiß sie nicht. Aber sie ist sich sicher, „dass ich noch viel mehr Zeit brauche, um die Ereignisse des 7. Januar zu verdauen und einen klaren Blick auf die Gegenwart und die gesellschaftspolitischen Debatten zu entwickeln.“ Auf die Frage aber, wer sie nach dem Grauen von Paris eigentlich sei, hat Catherine Meurisse in den vergangenen Monaten eine klare Antwort gefunden: „Ich bin eine Frau. Ich bin eine Zeichnerin. Ich werde weder den Stift noch meinen Humor zur Seite legen!“
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