Campino im Interview: „Die Angst, die Coolness zu verlieren, ist sehr groß“
Campino über die Flüchtlingskrise, Solidaritätskonzerte und das Schweigen anderer Künstler
Berlin, Ende September: Eigentlich wollten wir mit Campino nur über einen besonderen Abend im Oktober 2013 sprechen, den Die Toten Hosen jetzt als Doppelalbum herausbringen: Auf „Willkommen in Deutschland – ein Gedenkkonzert“ spielen die fünf mit dem Sinfonieorchester der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf „Entartete Musik“, also Stücke, die von den Nazis diskreditiert wurden. Neben Klassikern aus der „Dreigroschenoper“, von Arnold Schönberg oder den Comedian Harmonists haben sie auch eigene Stücke im Programm – die wieder erschreckend aktuell klingen. Und schon sind wir mitten im Thema, das Deutschland in diesen Wochen bestimmt: die Flüchtlingskrise. Warum wir ausgerechnet mit Campino darüber reden? Weil er zu den wenigen deutschen Musikern gehört, die nicht nur eine klare Haltung haben, sondern sie auch erfreulich offen äußern.
Beim Konzert in Düsseldorf hast du das Lied „Willkommen in Deutschland“ als „textlich ein bisschen hilflos“ bezeichnet. Dabei ist das Thema Fremdenfeindlichkeit heute doch so relevant wie 1993 – gerade jetzt.
Vor diesem Abend hatten wir das Lied bestimmt ein Jahrzehnt lang nicht mehr gespielt. Da kam es mir noch ein bisschen dahergestottert vor. Aber jetzt haben wir eine Art gefunden, wie man es gut bringen kann. Der Grundgedanke ist natürlich erschütternd ähnlich wie heute, und das macht es wieder interessant.
Warum erscheint das Album erst jetzt, obwohl das Gedenkkonzert schon vor zwei Jahren stattfand?
Wir waren alle begeistert von diesen Abenden, haben uns die Aufnahmen danach aber nicht mehr angehört, bis uns der Arrangeur Hans Steingen, der das Projekt damals betreut hat, anrief und sagte: Leute, das ist wirklich gut! Da haben wir uns doch noch einmal intensiv mit den Aufnahmen befasst und kamen ebenfalls zu der Meinung: Das war ein feiner Moment, den sollte man festhalten. Die Zusammenarbeit mit der Robert Schumann Hochschule war besonders beeindruckend. Wie Musiker aus zwei völlig verschiedenen Welten erst einmal eine gemeinsame Sprache finden müssen. Unsere eigenen Lieder gingen uns natürlich leicht von der Hand, aber es gab auch große Herausforderungen. Die Bearbeitung des Stückes „A Survivor From Warsaw“ zum Beispiel hat mich so einige schlaflose Nächte gekostet.
Gleichzeitig überlegten wir, das Programm noch in anderen Städten aufzuführen, die geschichtlich gesehen besonderes Interesse daran haben könnten: Berlin, Wien, Zürich. Das ist dann aus logistischen Gründen gescheitert. So hat sich die Veröffentlichung des Albums verzögert, aber das Thema an sich hat nichts von seiner Dringlichkeit verloren.
„Es kann natürlich jeden Tag sein, dass wieder ein Asylbewerberheim brennt und jemand zu Tode kommt“
Momentan gibt es ja einerseits großes Engagement für Flüchtlinge, andererseits Anschläge auf Asylbewerberheime und insgesamt viele Sorgen, wie es weitergehen wird. Wie stellt sich Deutschland im Herbst 2015 für dich dar?
Es sind sehr fragile Zeiten, und die Stimmung kann täglich kippen, und zwar in beide Richtungen. Ich möchte nicht wissen, was los ist, wenn irgendein armer Flüchtling nach all den Dauerstrapazen durchdrehen und auf einen Polizisten losgehen würde – so etwas kann ja durchaus passieren. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie dann das Stimmungsbarometer fällt. Genauso gut kann es natürlich jeden Tag sein, dass wieder ein Asylbewerberheim brennt und jemand zu Tode kommt. Das ist ja zynisch betrachtet fast nur eine Frage der Zeit bei all den Attacken. Insofern ist es ganz schwer, eine Einschätzung zu geben, die eine längere Gültigkeit hat. Stand heute: Ich denke, dass Frau Merkel und die Bundesregierung sehr spät reagiert haben, aber zum Glück endlich mal ein paar klare Worte gefallen sind. Wir haben in Europa den ersten Schritt gemacht – in der Hoffnung, dass andere nachziehen und man das Problem gemeinsam schultert. Es ist unglaublich, wie einem zurzeit im Ausland die Menschen begegnen – die ziehen alle den Hut vor Deutschland. In Amerika, England und Frankreich erfährt man großen Respekt. So redeten die Leute sonst nur in den fünf Tagen, nachdem Deutschland die letzte Weltmeisterschaft gewonnen hatte. Das ändert aber natürlich nichts daran, dass hier gerade kein Kindergeburtstag stattfindet und wir mit großen Problemen umgehen müssen.
Zwischen Angst und Begeisterung scheint für Realismus momentan wenig Platz zu sein.
Zunächst geht es um Soforthilfe und um die simple Einsicht, dass jeder auf der Welt das Recht hat, wenn er verfolgt wird, anderswo anzuklopfen und um Asyl zu bitten. Wir als christlich geprägte Nation können doch gar nicht über die Frage diskutieren, ob wir das gut oder schlecht finden. Wir haben zu handeln. Und das ist ja das, was wir gerade versuchen. Natürlich kommen nicht nur Engel ins Land. Es leben ja auch nicht nur Engel hier. Es ist ein normales Gemisch an Leuten, und wenn wir Glück haben, kann es in zehn, zwanzig Jahren sein, dass wir über die aktuellen Schwierigkeiten alte Denkstrukturen aufgebrochen haben, dass bürokratischer Quatsch abgebaut wurde und so weiter. Es kann bedeuten, dass Menschen zu uns kommen, die sich einbringen mit ihrer Arbeit und die mit ihren Bedürfnissen den Konsum in Gang bringen. Aber man kann keine Vorteil-Nachteil-Rechnung aufmachen. Das ist kein Kosten-Nutzen-Verfahren, dem man sich entziehen könnte.
Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass wir diese Situation mitverschuldet haben – die Bundesrepublik, Europa und auch die USA –, durch politische Einmischung, durch Waffenexporte, Ausbeutung und so weiter. Die Milliarden, die da verdient wurden, muss man mal dem Geld für die Flüchtlingshilfe entgegenstellen. Dann sieht das alles schon wieder ganz anders aus.
Für Europa wird es aber auf jeden Fall eine Kraftprobe.
Uns wurde immer erzählt, dass es beim Zusammenschluss Europas darum geht, dass wir eine Gemeinschaft bilden, dass wir versuchen, gleiche Bedingungen für alle hinzukriegen, auch um konkurrenzfähig zu bleiben in der Welt. Um gleiche Grundwerte und Lebensentwürfe. Wenn sich jetzt herausstellen sollte, dass es nur darum ging, eine Festung zu bauen, eine Trutzburg gegen Armut, dann ist das nicht der Deal, der uns versprochen wurde. Dagegen muss man antreten.
„Bulgarien, Rumänien: Länder, die selbst um ein bisschen Wohlstand kämpfen und oftmals überfordert sind.“
Müsste das nicht heißen, dass alle europäischen Länder mitziehen?
Das ist eine sehr komplexe Diskussion. Bulgarien, Rumänien: Das sind ja Länder, die selbst um ein bisschen Wohlstand kämpfen und oftmals überfordert sind. Aber klar, wenn es um Solidarität geht und um den Beweis, dass Europa mehr ist als eine Geldmaschine, dann müssen jetzt alle ihre Zähne zusammenbeißen und da durch. Aber man muss diese Länder moralisch unterstützen und ihnen klarmachen, dass die Gemeinschaft ja auch wieder da sein wird, wenn es ihnen schlecht gehen sollte. Die Solidarität muss stärker ausgeprägt sein. Das ist jetzt ein Härtetest, könnte aber auch eine große Chance sein. Ich kann nur in Erinnerung rufen, dass wir in den Neunzigern auch nicht untergegangen sind, nur weil dramatisch viele Flüchtlinge wegen des Jugoslawienkriegs zu uns gekommen sind.
Die Toten Hosen und andere Künstler haben mit Pro Asyl einen Appell gegen rechte Gewalt gestartet, „Zeit zu handeln!“. Wird die Gefahr angesichts der großen Hilfsbereitschaft momentan unterschätzt?
Wenn die Zeit des Applauses und der Aktionen vorbei ist, dann werden die Arschlöcher immer noch hier sein. Dann müssen wir weiter mit unserer zivilen Courage das vertreten, was wir für richtig halten, sprich nicht stumm zuschauen, wenn jemand, der nicht aus diesem Land kommt, im Supermarkt angepöbelt wird etc. etc. Sich einmischen. Keiner muss den Helden spielen, aber man kann zumindest die Polizei rufen, wenn man sieht, dass jemand angegriffen wird. Und so weiter. Es gibt viele Möglichkeiten zu reagieren. Bloß nicht in Gleichgültigkeit versacken und sich nur noch um den eigenen Mist kümmern. Aber da sind wir eigentlich gut aufgestellt: Es gibt immens viele Menschen, die sich einsetzen und bis an ihre Grenzen gehen, um zu helfen.
Ihr seid bei Voices for Refugees auf dem Wiener Heldenplatz dabei. Was kann man mit so einem Solidaritätskonzert bewirken?
Österreich bewältigt die großen Aufgaben gerade wirklich gut, aber gleichzeitig explodieren in Umfragen die Werte der rechten Hardliner. Ich denke, dass es wichtig ist, den Helfern zu sagen: Ihr seid nicht allein. Natürlich werden am Heldenplatz auch Spenden gesammelt, aber das Konzert ist eher ein symbolischer Akt. Es geht um eine politische Aussage.
„Die Toten Hosen und Herbert Grönemeyer sorgen nicht für Raunen, wenn sie für ein Solikonzert zur Verfügung stehen.“
In Berlin ist der Plan für ein ähnliches Konzert gescheitert. Warum?
Bei uns scheint es so zu sein, dass gerade in der Künstler- und Musikerszene keine gemeinsame Ebene gefunden wird, um so was zu veranstalten. Die einen halten es nicht für nötig, die anderen finden, es ist nicht gut genug organisiert, und die dritten sagen: Warum sollen wir jetzt noch so ein Statement bringen, da eh die halbe Republik so denkt? Ich kann jeden dieser Zwischenrufe verstehen, und ich glaube auch, dass es richtig ist, sich Munition aufzubewahren für die Zeiten, wenn es noch härter wird. Wir arbeiten hier an einem Langzeitthema, und so eine Solidaritätsveranstaltung kann man nur einmal machen. Man muss aufpassen, dass so etwas nicht zu einer faden Institution wird: immer das Gleiche, immer wieder dieselben Künstler, die sich hinstellen. Wir sind darauf angewiesen, dass es immer wieder neue Bands gibt, die man vorher nicht mit solchen Themen in Zusammenhang gebracht hat und die dann für das Ausrufezeichen sorgen. Du kannst nicht erwarten, dass Die Toten Hosen und Herbert Grönemeyer für irgendein Raunen sorgen, wenn sie für ein Solikonzert zur Verfügung stehen. Es wissen ja eh alle, dass wir da grundsätzlich dabei sind. Immerhin: In München haben die Sportfreunde Stiller mit viel Schwung und guten Kollegen ja auch einen guten und richtigen Abend hingelegt. Aber was ist mit all denen, die sich raushalten?
Ja, was ist mit denen?
Ich will nicht mit dem Finger auf irgendwen zeigen und wir wollen auch niemanden in irgendwas reinquatschen. Keiner macht es sich leicht, bestimmt führen alle intensive Gespräche darüber, wofür sie sich engagieren wollen. Und viele stehen eben auf dem Standpunkt: Ja, wir sind eurer Meinung, machen es aber lieber auf unsere Weise, weil sich bei solchen Großveranstaltungen nur alle gegenseitig auf die Schultern klopfen. Ich kann diese These nachvollziehen, finde sie aber letztendlich nicht richtig. Allerdings weiß ich ja, was es heißt, von den Meinungsmachern angeschossen zu werden. Davor fürchten sich mittlerweile viele. Die Angst, die Coolness zu verlieren, ist erstaunlich groß.
Aber bei dir offensichtlich nicht?
Ist der Ruf erst ruiniert … Ich bin raus aus der Nummer. Ich bin doch mit das Uncoolste, was du in der Republik treffen kannst, deshalb bedeutet mir solche Kritik wirklich nichts mehr.