Burmeister und Lange im Interview: „Fans von Depeche Mode sind gnadenlos“
Aus unserem ROLLING-STONE-Sonderheft: die Depeche-Mode-Experten Dennis Burmeister und Sascha Lange im Interview
Mit „Depeche Mode: Live“ (Blumenbar Verlag) legen Dennis Burmeister (48) und Sascha Lange (52) ihr drittes Depeche-Mode-Buch nach der Devotionalien-Sammlung „Monument“ und dem Historienbericht „Behind the Wall: Depeche Mode-Fankultur in der DDR“ vor: eine Chronik der Konzertgeschichte der Band. Burmeister, Grafiker, DJ und Veranstalter, und Lange, Musiker, Autor und Historiker, zählen zu den weltweit anerkanntesten Biografen von Depeche Mode.
Welches war das beste Depeche-Mode-Konzert, auf dem ihr wart – und welches bedauert ihr verpasst zu haben?
Sascha Lange: Bei vielen Konzerten in den 1980er-Jahren hat sich die Frage nach dem besten nicht stellen können – es hat damals in Deutschland noch den Westen und den Osten gegeben, die Grenzen waren nicht offen. Und Dennis und ich lebten im Osten, wo die Band lange nicht auftrat. Ich bin Fan seit Dezember 1984 und wäre auch gern schon im Dezember 1984 auf ein Konzert gegangen. Aber ich hatte zumindest großes Glück und war beim legendären Auftritt in Ostberlin am 7. März 1988 in der Werner-Seelenbinder-Halle dabei – das erste und einzige DDR-Konzert von Depeche Mode. Das Highlight meiner Konzert-Historie. Für diesen Abend traten unerreichbare Musiker quasi aus ihren Postern heraus und in meine Welt. Das Set war leicht verkürzt, aber das war mir und den anderen 6.000 Fans egal. Sie hätten auch nur zwei Playback-Nummern an jenem Abend bringen brauchen – es wäre großartig gewesen. Sie live zu sehen, in der DDR? Absurd! Wie die Landung von Außerirdischen.
>>> Hier das Depeche-Mode-Sonderheft im Shop bestellen
Gab es spezielle Ansagen bei diesem Konzert?
Sascha Lange: Nicht wirklich, aber das machte nichts. Nach dem ersten Song sagte Dave „Good Evening East Berlin!“.
Dennis Burmeister: Da wäre ich natürlich gern dabei gewesen. Dass Depeche Mode in der DDR waren habe ich erst später in der „Trommel“ gelesen, der Zeitung für Thälmann-Pioniere. Meine Eltern hätten mich aber ohnehin nicht fahren lassen, weil ich mit 13 viel zu jung war. Und ein Auto für einen spontanen Tagesausflug nach Berlin hatten wir auch nicht. Auch für mich wäre der Auftritt in der Werner-Seelenbinder-Halle DAS Konzerterlebnis geworden, gerade auch, weil „Music for the Masses“ mein Lieblingsalbum ist. Anfang Oktober 1990 starb mein Großvater, bei dem ich aufgewachsen bin. Die Konzerte der „World Violation“-Tour spielten für mich 1990 gar keine Rolle. Mein erstes Depeche Mode-Konzert fand am 16. Juni 1993 in der Berliner Waldbühne zur „Devotional Tour“ statt. Es war magisch. Dave war super drauf, sah aber aufgrund seiner langen Haare recht befremdlich aus. Rund um das Konzert klappte gar nichts. Durch den starken Regen war der Bühnenvorhang so schwer, dass er immer wieder herunterfiel, was von den Fans wie ein Fußballspiel gefeiert wurde, Dave schlitterte barfuß über die Bühne, während Bühnenarbeiter um ihn herum die Bühne wischten. Alles während dieser Tour 1993 war unberechenbar. Dave war unberechenbar, weil er – wie man jetzt weiß – auf Droge war. Dadurch war aber auch jedes Konzert anders. Legendär war Daves Stagediving in Frankfurt (Main), wo er während „In Your Room“ in die Massen sprang.
Bei jener Tournee wurde die Vorband oft ausgebuht, so lange, bis sie von der Bühne verschwand …
Dennis Burmeister: … das waren in Berlin Miranda Sex Garden, Mute-Labelkollegen von Depeche Mode. Alan Wilders spätere Ehefrau Hep hat dort mitgespielt. In der Waldbühne wurden Miranda Sex Garden mit Äpfeln und Bratwürsten beschmissen. Die Stimmung war kurz vorm Kippen, die Leute hielten ihre Tickets hoch und skandierten „Depeche Mode! Depeche Mode!“. Ich glaube, der Drummer ging dann nach vorne, hob eine Bratwurst auf und biss provozierend ab. Miranda Sex Garden haben halt nicht ins Setting gepasst, und Depeche-Mode-Fans sind recht gnadenlos. Selbst eine Legende wie Frank Tovey aka Fad Gadget wurde 2001 noch vereinzelt auf Depeche-Mode-Konzerten ausgebuht, was ich ziemlich bescheuert fand. Ich konnte es mir nur dadurch erklären, dass einige Fans ihn nicht kannten, und deshalb nicht wussten, dass er Depeche Mode einst förderte.
Die „Devotional Tour“ wird oft als „Most debauched Tour ever“ als „ausschweifendste Tour aller Zeiten“ bezeichnet, mit einem dauerfeiernden Dave Gahan, der den Sänger einer anderen Vorband, Bobby Gillespie von Primal Scream, unter seine Fittiche nahm. Warum nimmt dieser Aspekt in „Live“ keinen Raum ein?
Dennis Burmeister: Wie schon bei unserem „Monument“-Buch verfolgten Sascha und ich auch bei „Live“ den Ansatz, dem, was damals lediglich in der Klatschpresse stattfand, keine Beachtung zu schenken. Es gibt ohnehin kaum brauchbares Bildmaterial von Daves schrägen Kurzauftritten mit Mundharmonika auf Primal Scream-Konzerten. Ehrlich gesagt interessieren solche Randnotizen die wenigsten Depeche-Mode-Fans. Andere Ereignisse konnten wir nicht unerwähnt lassen, zum Beispiel Daves Anklagen wegen Körperverletzung oder diverse Drogendelikte damals, die ihm beinahe das Leben gekostet haben. Was haben wir Fans damals gelitten. Solche Ereignisse kann man auch nicht unterschlagen, denn sie erklären, warum Depeche Mode 1997 nicht mit dem „Ultra“-Album auf Tour gegangen sind.
Sascha Lange: Wir haben uns bei „Monument“ und „Live“ bewusst gegen einen journalistischen Ansatz entschieden. Es gibt eine britische Methode, an die Band heranzutreten, um herauskitzeln zu wollen, was noch keiner wusste. Hauptsache irgendetwas Peinliches. Denen ist die Bandgeschichte zu langweilig. Wir finden aber gerade die Bandgeschichte spannend. Was sie mit Daniel Miller gemacht haben, was sie mit ihrem Label Mute gemacht haben. Wie sie mit ihrer Tourcrew eine Einheit gebildet haben. Wir haben einen dokumentarischen Ansatz gewählt, verknüpft mit einem visuellen Auftrag. Wir erzählen die Geschichte der Band – aber nicht die Geschichte hinter der Band. Am Mythos von Depeche Mode wollten wir nicht kratzen, denn Depeche Mode sind ein Kunstprojekt. Auf der Bühne steht Dave Gahan, der Künstler, nicht Dave als Privatperson. Und aus dieser Perspektive wollten wir ihn betrachten.
>>> Hier das Depeche-Mode-Sonderheft im Shop bestellen
Wie hat sich für euch das Image von Depeche Mode als (Live-)Band verändert?
Dennis Burmeister: Für mich gibt es Depeche Mode zweimal. Einmal vor und einmal nach Alan Wilders Ausstieg 1995. Mit Alan hat die Band viel mehr verloren als nur einen Musiker. Alan war bei den Fans meiner Generation sehr, sehr beliebt. Nicht nur, weil er ein begnadeter Soundtüftler war, sondern auch unglaublich charmant und freundlich. Er hatte eine enorme Strahlkraft, auch auf der Bühne. Seinen Platz konnten Eigner und Gordeno bis heute nicht füllen. Und das soll keine Wertung sein. Nach dem schlimmsten Band-Kapitel 1995/96 traten die Jungs live dann wesentlich gediegener auf. Depeche Mode-Konzerte haben sich längst zu familienfreundlichen Mega-Events entwickelt. Ihren Indie-Status hat die Band komplett verloren. Sie sind erwachsen geworden, kontrollierter. Mainstream ist ein blödes Wort, aber es trifft die Sache – darunter leiden ja alle Bands ab einem gewissen Erfolg.
Sascha Lange: Aus nostalgischen Gründen würde ich sagen, dass die Band Mitte der 1980er-Jahre ihre erste Hochphase erlebte. 1984, 1986 und 1987 waren das Bühnendesign, die Fahnen, die Positionierungen der Musiker-Podeste, schon sehr ausgefeilt. Das war Groß in Klein, vor 6.000 bis 8.000 Leuten. Das war intim, aber durchgestylt. Anders als zu Beginn 1981, als die Band eben da auftrat, wo es ging, wo man sie hinbuchen konnte. Die „World Violation“-Tour von 1990 war leider viel zu kurz, auch in den USA, vielleicht Ergebnis einer Fehleinschätzung, dass sie doch keine Superstars seien. Ab 1993 und „Devotional“ wurde alles dann sehr, sehr groß. Die „Singles 86-98“-Tournee markierte einen Schritt zurück, kleinere Hallen. Dave war clean, und die Band sagte sich: Wir testen jetzt mal in den Spätneunzigern aus, da jeder Techno und Britpop hört, wer überhaupt noch zu uns kommt.
Warum ist man als DM-Fan so schnell nostalgisch?
Sascha Lange: Meine These ist die: Wer in den frühen 1970er-Jahren geboren wurde, konnte mit den frühen Depeche Mode ab 1981 aufwachsen und war ab den frühen 1990er-Jahren dann volljährig – und gab sein Geld erstmal für die Platten anderer aus. Man behielt die besondere Beziehung zu Depeche bei, aber jetzt waren sie nur noch eine Band unter vielen. Dass die Jungs ab 2001 und dem „Exciter“-Album wieder größere Hallen buchen konnten, könnte auch mit dieser ersten Fan-Generation zusammenhängen. Die war jetzt um die 30, und man merkte: „Moment mal, ich bin zwar erwachsen jetzt, aber Depeche Mode sind immer noch geil, so geil wie Doc Martens und die schwarze Lederjacke.“ Und die Doc Martens, die zog man dann an, ob man Arbeiter ist oder Arzt, und ging aufs Konzert. Dieses Outfit begründete sich als Ausdruck einer Jugendkultur und wurde dann zu einer Kultur. Einer Sache, die einen das ganze Leben begleiten wird. Das fiel auch Andy Fletcher auf: „Wir touren immer seltener, alle vier Jahre, aber es kommen immer mehr Leute!“ Ich schätze den Prozentsatz der Konzertbesucher, die Depeche Mode seit den 1980er-Jahren hören, auf 80 Prozent. Und sie gönnen sich alle vier Jahre dieses Stück Kultur.
Die „World Violation“-Tour von 1990 wird von vielen als künstlerischer Höhepunkt bezeichnet – aber es gab dazu keine Konzertvideo-Veröffentlichung. Könnt ihr euch das erklären?
Dennis Burmeister: Es gibt professionelle Mitschnitte der Tour. Aber das Material wird in den Band-Archiven gehortet. Es gab mal eine Fan-Petition für eine Veröffentlichung, aber die hat erwartungsgemäß nichts gebracht. Was ich schon ein bisschen schräg finde, denn andere namhafte Künstler öffnen regelmäßig ihre Archive, wie z.B. U2 (per Petition) oder Neil Young – wieso nicht Depeche Mode? Ich glaube, es war Alan, der mal sagte: „Wir leben nicht in der Vergangenheit“. Nach jeder Tour machen sie einen Haken – und fertig. Man findet natürlich verschiedene Live-Schnipsel auf Youtube. Aber generell finde ich, dass die Band hier zu viel Chancen hat liegen lassen. Solche Releases würden sich verkaufen, wie geschnitten Brot. Was hat die Band zu verlieren? Worin genau besteht der Aufwand? Ich verstehe es einfach nicht …
Sascha Lange: Die „World Violation“-Tour hatte ich – aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen – nicht besucht. Es reizt mich aber auch nicht, diese Konzertreise nun nachträglich auf Video anzusehen. Es gefällt mir, Dinge zu erleben, die man sich danach nicht mehr auf einem Bildschirm ansehen könnte. Die Leute filmen heute mit ihren Handys komplette Konzerte mit – ein furchtbarer Trend. Wie bei der aktuellen Tour: Die Leute blicken auf die Bildschirme ihrer Handys, und Dave Gahan steht nur wenige Meter vor ihnen! Dagegen Bands wie Slowdive, in Berlin. Keiner filmt. Dabei tanzt keiner von denen auf der Bühne, da gibt es also nicht mal was zu sehen. Eine Soundwall, ein Sound-Regen aus Delays, die sich über die Menge legten. Das hat ihnen gereicht. Es gibt Dinge … man hat sie erlebt. Oder man hat sie verpasst.
Man stößt im Netz auch auf andere kuriose Videos. Eines zeigt die Band mit einer angeblichen TV-Premiere von „Never Let Me Down Again“ 1987, die in einer Sendung ausgerechnet von Michael Schanze stattgefunden haben soll …
Dennis Burmeister: Also die Kombination von Depeche Mode und Schanze sagt mir nichts.
Aber wie kann so ein Booking entstehen? Der Song passt dort nicht hin. Es wirkt so, als hätte das DM-Management nicht auf Inhalte und Image einer Sendung geachtet, sondern nur auf eine möglichst hohe Einschaltquote geschielt.
Dennis Burmeister: Es gibt eine recht umfangreiche Excel-Liste mit allen Konzerten und TV-Auftritten der Band, aber da ist die Sendung nicht gelistet, komisch.
Sascha Lange: Klarer Fall von KI-Deepfake! Das war nicht der echte Schanze!
Dennis Burmeister: Und genau deshalb machen wir unsere Bücher. Gegen das Vergessen! Zeitzeugen werden schließlich auch immer weniger. Genau deshalb haben wir uns um Interviews mit Leuten wie der Hamburger Veranstalterlegende Karsten Jahnke, der Musik-TV-Ikone der 1980er Jahre Peter Illmann oder dem ersten Tour-Agent der Band, Dan Silver, bemüht. Die erzählen über Epochen, die langsam in Vergessenheit geraten. Wir haben Anekdoten gehört, die vorher noch nie erzählt oder abgedruckt wurden.
Gerade Dan Silver geht mit der Band hart ins Gericht. Nach der Tournee 1988, die Depeche Mode mit dem berühmten, im „101“-Film festgehaltenen Konzert in Pasadena krönten, seien sie abgehoben und hätten sich von anderen Bookern ködern lassen, die mehr zahlten. Ähnliches berichten Karsten Jahnke und Gaby Meyer. Es sind nicht die Art Geschichten, die man in einem Fan-Buch erwartet zu lesen.
Dennis Burmeister: Ja, sie beschreiben den schnellen Aufstieg einer jungen Band in einem knallharten Business. Wir waren selbst überrascht, wie offen die Gespräche ab einem gewissen Punkt abliefen. Als wir Karsten Jahnke in Hamburg besuchten, empfanden wir zunächst große Ehrfurcht. Das war der Mann, der Depeche Mode, The Cure, The Police und andere Bands nach Deutschland holte. Als Jahnke nach zehn Minuten merkte, dass wir nicht einfach nur Fans oder nerdige Freaks sind, die alles gutheißen, was unsere Lieblingsband so macht, entstand ein sehr ehrliches, emotionales Gespräch.
Sascha Lange: Der Begriff „Fan-Buch“ trifft die Sache auch nicht ganz. Ein Fan ist für mich ein Konsument, der etwas anhimmelt, ohne mal nach links oder rechts zu gucken. Ich kenne das aus meiner Teenagerzeit. Aus der Disco. Es gab Depeche-Fans, die tanzten nur zu Depeche, nie zu The Cure. Davon würde ich uns abgrenzen wollen. Wir sind zwei Musikliebhaber mit Hintergrundwissen. Wir wollten die Band natürlich nicht von ihrem Tron stoßen, wir wollten sie eben als Künstler abbilden, mit all ihren Stärken und Schwächen.
>>> Hier das Depeche-Mode-Sonderheft im Shop bestellen
Depeche Mode sind berüchtigt für ihre mangelnde Variabilität der Setliste. Wie ist eure Meinung dazu?
Dennis Burmeister: Leider verleugnet die Band Teile ihres Backkatalogs. Bis 1984 findet die Band live quasi gar nicht mehr statt, mal abgesehen von „Just Can’t Get Enough“ oder „Everything Counts“. Dabei gibt es auf den ersten vier Alben so große Nummern. Ich kann „Just Can’t Get Enough“ und „World In My Eyes“ nicht mehr hören. Tur mir leid, das sagen zu müssen.
Stücke wie „Shake The Disease“ oder „Leave in Silence“ gibt es noch zu hören, aber nur in der Solo-Piano-Fassung Martin Gores mit Peter Gordeno.
Dennis Burmeister: Ja. Aber das ist dann maximal … nett.
Sascha Lange: Ich denke, dass die Band mit ihrem musikalischen Erbe hadert. Man liest es aus den Interviews der letzten 20 Jahre heraus. Sie haben den Anspruch, ihr jeweils aktuelles Material als ihr Bestes anzusehen. Selbst mehr als 30 Jahre nach Ende der 1980er-Jahre sind sie damit beschäftigt, die 1980er-Jahre hinter sich zu lassen. Im Oktober vergangenen Jahres war ich mit Dennis bei The Cure in Leipzig. Fast alle ihrer Songs auf der Setliste stammten aus den 1980ern. Mag man aus „künstlerischer Perspektive“ als gestrig ansehen. Aber wir beide waren glücklich. Jedes Lied war mit Erinnerungen verbunden.
Empfinden Depeche Mode sich überhaupt noch als Pop-Band?
Sascha Lange: Das ist ein weiteres Depeche-Mode-Phänomen: Sie sind live keine normale Pop-Band mehr, sondern eine Stadionrock-Band. Dabei spielen sie keinen Stadionrock. An Stadionansprüchen orientiert sich dann aber ihre Setliste, und dann kommen nur dafür geeignete Lieder. Viele gute Songs ab den 1990ern, „Freelove“ oder „Home“, die finden leider nicht mehr statt. Nur noch Musik, die auf die Massen ausgerichtet ist – und meiner Meinung nach weniger auf die Seele der Band.
Die Roadmap der jüngsten Konzertreisen verlagert sich auffällig Richtung Osteuropa. Bei den zwei letzten Tourneen gaben Depeche Mode in England gerade mal jeweils ein einziges Open-Air-Konzert. Warum werden sie in ihrer Heimat weiterhin so unterverkauft?
Dennis Burmeister: Ich glaube, die planen ihre Touren so wie andere ihren Urlaub. Die spielen da, wo die Sonne scheint und nehmen so oft wie möglich ihre Familien mit. Und England? Dort haben sie immer noch eine starke Fanbase. Zu den letzten Berlin-Konzerten veranstalteten wir im Meistersaal der Hansa-Studios ein internationales Fan-Meeting. Da waren – zumindest hatte ich den Eindruck – mehr Briten als Deutsche.
Sascha Lange: Von 1981 bis 1986 haben Depeche Mode in Großbritannien ziemlich gut funktioniert. Über die Gründe der gesunkenen Popularität kann ich nur Thesen aufstellen. Ich glaube, dass man auf der Insel anders mit Musikkultur umgeht. Popkultur als stetiger, sich entwickelnder Prozess. Viele Trends, die sich ablösen. Es gibt so viele gute Bands aus Großbritannien, vielleicht ist deshalb die Bindung zu einzelnen Acts nicht so groß. Ich vermute, dass das Nostalgiepublikum dort viel kleiner ist als hier oder in Osteuropa.
Wir haben Depeche Mode bereits mit The Cure verglichen, nehmen wir jetzt noch U2 hinzu: Allen drei Bands ist gemeinsam, dass ihre Fans sie in den 1980er-Jahren im Rampenlicht haben aufwachsen sehen – weil sie jedes Jahr ein neues Album veröffentlichten. Es gab also jedes Jahr neue Bandfotos, neue Frisuren, ein neues Image und nur langsam älter werdende Gesichter. Das gibt es heute nicht mehr. Nach nur einem Album tauchen viele Bands ab, weil Alben kaum noch Geld einbringen. Wenn Album Nummer zwei erscheint, sind dann schon Jahre vergangen, und die Musiker sehen komplett anders aus, wie nach Entwicklungssprüngen …
Dennis Burmeister: Einen Imagewechsel sieht man bei Depeche Mode doch gar nicht mehr. Die sehen einfach nur noch immer älter aus.
Bei „Playing the Angel“ von 2005 immerhin präsentierte Martin sein Vogelkostüm.
Dennis Burmeister: Stimmt, da hat sich Martin noch Mühe gegeben (lacht) 2005 – irre. Das ist auch schon wieder ewig her. Das war noch eine andere Ära. Damals war die Mute-Family bei Konzerten backstage noch anzutreffen. Nach den Labelwechseln…
… Im Jahr 2009 zur EMI mit „Sounds of the Universe“ und 2013 zu Columbia Records mit „Delta Machine“ …
Dennis Burmeister: … liefen die Dinge dann irgendwie anders. Ich habe ja hin und wieder für Mute gearbeitet, war Veranstalter zahlreicher Release-Parties und Redakteur bei depechemode.de. Da kriegt man am Rande schon einiges mit. Mit den Label-Wechseln ist dann auch der „alte“ Beraterstamm weggefallen, Menschen, die irgendwie immer dabei waren – mit Daniel Miller sogar eine Vaterfigur. Oder Tourmanager Andy Franks, der seit Ende 1998 nicht mehr dabei ist. Meiner Meinung nach fehlen diese Menschen im Bandumfeld. Und manchmal kommt es mir tatsächlich so vor, als sei die Band einfach schlecht beraten. Auf dieser Tour wurde ein Konzert im TV übertragen – da wurden komplette Sequenzen geschwärzt. Man hörte die Band, sah aber nur eine schwarze Mattscheibe. Ich dachte nur: Wahnsinn. Wir schreiben das Jahr 2023. Total bekloppt.
Gut zu erfahren, dass auch Band-Experten wie ihr sich derart aufregen können.
Dennis Burmeister: Ach, ich bin Choleriker. Ich rege mich ständig und über alles auf. Bei Depeche Mode zum Beispiel über die Preise für Merchandise. Oder noch schlimmer: die Preise für Tickets. Diese Abzocke ist eine Frechheit! The Cure gehen dagegen vor. Bei Depeche Mode schweigt man sich stattdessen aus. So etwas kotzt mich als Fan natürlich an. Das schreibe ich dann vielleicht nicht in mein Buch. Aber trotzdem hat man ja eine Haltung.
Apropos Mute: Wieviel Legende ist an der Geschichte dran, dass Daniel Miller und Depeche Mode ihren Deal 1980 nur per Handschlag besiegelten und sich auf eine 50:50-Verteilung der Einnahmen einigten?
Sascha Lange: Der Deal dürfte die ganzen 1980er-Jahre hindurch gegolten haben. Um die Jahrtausendwende gab es dann eine Verlängerung bei Mute und auch schriftliche Verträge. Auch hier war die Frühphase für mich wieder die interessanteste. Wie die Band sich in Riesenschritten weiterbewegte, die künstlerische Kommunikation über Grafiken, die allesamt noch nicht mit dem Computer produziert wurden. Da war noch viel Handwerk dabei. Hier noch ein Plakat aufgesetzt, dort einen Lichtkasten. Die Bemühungen waren viel größer. Das Marketing, die Pressearbeit der ersten 15 Jahre fand ihren Ausdruck im Dinglichen. So viele schöne Papiere dazu. Und Unruhe-Gegenstände, die in Plattenläden aufgestellt wurden. Die Megafone von „Music for the Masses“! Das waren Depeche Mode als Gesamtpaket. Heute gibt es nur noch: Platte, Video, Konzert. Wir leben im digitalen Zeitalter.
Depeche Mode schreiben ihre eigene Geschichte um. Es erscheinen als Reissues getarnte Maxi-Singles-Box-Sets mit Maxi-Singles, die zu ihrer Zeit nie als Maxis erschienen waren, weil sie bereits aus den Nullerjahren stammen. Es entsteht die Illusion einer Nostalgie.
Sascha Lange: Es gab von ihnen in letzter Zeit leider keine normalen Single-Auskopplungen mehr auf Vinyl.
Dennis Burmeister: Vor ein paar Tagen erschien eine Digital-Single! Hat mich überrascht. Ich kriege das mitunter gar nicht mehr mit. Es gab vorab nichtmal eine E-Mail dazu. Auf mich wirken die aktuellen Veröffentlichungen recht lieblos und kurzfristig rausgehauen, weil irgendetwas beworben beziehungsweise promotet werden muss.
>>> Hier das Depeche-Mode-Sonderheft im Shop bestellen
Wie war das vorher für euch?
Dennis Burmeister: Früher folgten Veröffentlichungen einem Plan. Es gab zudem die BONG-Katalognummern für jedes Release. Es war wesentlich übersichtlicher. Und heute? Wischiwaschi. Digital-Singles mit zum Teil schlechten Remixen. Bei Mute hatten man früh bemerkt, dass unter Depeche-Mode-Fans ein großer Sammlermarkt entstand. Das haben die bedient und die Fans haben sich gefreut. Zur Promotion der Releases verschickte man Kugelschreiber, Tassen, Uhren oder andere Gimmicks. Das Sammeln war für viele Fans die ideale Möglichkeit, die Wartezeit zwischen den Releases zu überbrücken. Mir fehlt das sehr. Aber vielleicht ist das ja auch nur Jammern auf höchstem Niveau.
Seid ihr eigentlich im „Black Swarm“ aktiv, der treuen Fangemeinde, deren Mitglieder so viele Gigs wie möglich besuchen, vor den Stadien campieren und zuverlässig die vordersten Konzertreihen in Beschlag nehmen?
Dennis Burmeister: Ich bin froh, wenn ich Konzerte mittlerweile im Sitzen verfolgen kann. Zum FOS 1, dem vordersten „Front of Stage“-Bereich, zieht es mich gar nicht. Mich überfordern diese Ticket-Kategorien sowieso. „FOS 2“, „Golden Circle“, „Early Entry“-Gedöhns … puh. Purer Stress. Lieber Unterrang, schönes Sitzplatz-Ticket und alles in Gänze genießen.
Sascha Lange: Die „Black Swarm“-Mitglieder planen ihre Jahresurlaube nach den Tourneeplänen. Ist für mich insofern nachvollziehbar, als dass einem die Möglichkeit gegeben wird, in einen Jungbrunnen einzutauchen – eben alle vier Jahre. Wenn Martin „A Question of Lust“ singt, ist man wieder 15 und steht in der Disco von 1986. Ich selbst brauche das nicht, eine Band jeweils im Abstand von zwei Tagen mehrmals zu sehen, einen ganzen Sommerurlaub lang, und dann spielen sie jeden Abend dieselben Lieder. Vier Wochen im Depeche-Mode-Modus für 10.000 Euro Gesamtkosten, das kann jeder für sich selbst entscheiden. Eine schöne Sache sicherlich, aber nichts für mich.
Dennis Burmeister: Ich bin ein Groundhopper. Aber weniger bei Depeche Mode, sondern bei The Cure. Denen reise ich so oft wie möglich hinterher, auch ins Ausland. Ich will beide Bands nicht ständig vergleichen, aber The Cure überraschen live immer wieder. Immer eine andere Setlist und jede Show dauert bis zu drei Stunden. Depeche Mode hingegen bieten kaum Überraschungen. Ansprachen kommen wie auf Knopfdruck. „Good evening …“, und dann der Name der Stadt. „Ladies and Gentlemen, Mr. Martin! L.! Gore!“. Es gab Tage, da ging ich beim zweiten Konzert in derselben Location ein Fischbrötchen essen, weil ich nicht glaubte, irgendetwas zu verpassen. Das klingt alles abwertend, ist aber nicht so gemeint. Natürlich liebe ich Depeche Mode nach wie vor.
Wie schätzt ihr den Einsatz von Visuals bei den Konzerten ein? Oft demonstrieren Depeche Mode darin eine politische Agenda, die so dringlich inszeniert wird, dass man vom Bühnengeschehen komplett abgelenkt werden könnte – wie im Kurzfilm über einen Crossdresser zur Musik von „Walking In My Shoes“.
Sascha Lange: Anton Corbjin, ihr Fotograf und Filmporträtist, spielt dabei sicherlich eine große Rolle. Mit den Visuals wird auch die Verbindung zwischen ihm und der Band zum Ausdruck gebracht. Bei der „Memento Mori“-Tour fand ich die Visuals schon ansprechend. Der Abstand zur Bühne spielt auch eine Rolle. Ich stand weit hinten und fand die Filme im Gesamteindruck mit dem Bühnenbild sehr harmonisch. Ich kann mich in gewisse Probleme jedoch hineindenken. Wenn ich auf Lesetour bin und ein bestimmtes Foto an die Wand werfen lasse, dann weiß ich, dass die Leute abgelenkt sein werden, weniger auf das konzentriert sind, was ich vorlese. Die sehen dann das Bild eines alten Kassettenrekorders und fangen an, sich darüber zu unterhalten, statt weiter zuzuhören.
Wie seid ihr für euer Buch an all die Fotos von Eintrittskarten, Stickern, Briefe gekommen?
Dennis Burmeister: (holt einen Aktenordner hervor) Ich habe ein umfangreiches Archiv. Dies ist nur einer der Ordner. Tickets, Pins, Backstage-Pässe, Pressefolder. Heute kann man das kaum noch bezahlen. Aber früher war ich einer der wenigen Fans, der noch jede an Journalisten versandte Pressemitteilung aufgekauft hat. Der Pressefolder von „Speak & Spell“ hat mich damals rund eine Mark gekostet. Das Teil wechselt heute für 250 Euro den Besitzer. Im digitalen Zeitalter sind die Archivare auch besser vernetzt. Man kann Daten und Fotos gut über soziale Netzwerke austauschen. Viele Fotos aus der Frühphase der Band hat man damals einfach im Tabakladen gekauft. Den Foto-Satz für fünf, sechs Mark. Und das Problem bei solchen Buchprojekten besteht vor allem darin, die Fotografen von damals herauszufinden. Für dieses Buch haben und Fans ihre großartigen Fotos zur Verfügung gestellt.
Ein Höhepunkt des Buchs stellen die handgeschriebenen Briefe Martin Gores an einen weiblichen Fan dar. Er bezeichnete die junge Deutsche 1982 als bedeutendste Kennerin ihrer Musik – und ihre Einschätzung sei wichtiger als jede Kritikermeinung.
Dennis Burmeister: Die Briefe hat ein sehr guter Freund und Sammelkollege von mir aufgekauft. Es ist ein Wunder, dass diese Briefe aus den Jahren 1981 und 1982 überhaupt noch existieren. Wirklich brisantes Zeugs steht da ja auch nicht drin. Martin schreibt einem weiblichen, sehr aktiven Fan zum Beispiel, dass sie die wichtigste Person für die Band-Promo in Deutschland sei. Ein 13jähriges Mädel! Das wirkt vielleicht wie aus der Zeit gefallen, ist doch aber irgendwie auch niedlich.
Bemerkenswert ist auch die Notiz von 1984, nach der Frauen auf Konzerten besonders zu schützen seien. Ein wieder sehr aktuell gewordenes Thema.
Sascha Lange: Das stand in einem Tech-Rider von 1984, also dem für Booker angefertigten Tour-Anforderungsplan von Musikern. Depeche Mode hatten ein frühes Gefühl dafür, wann die Hysterie einsetzte, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt mit weiblichen Fans anders umgegangen werden musste, die Sicherheit immer wichtiger wurde. Dass es einen Graben geben muss, Polizei-Absperrgitter. Die Band hat damals Standards eingeführt, die heute Industrie-Standard sind. Man hat gemerkt, Depeche Mode wollten ihre Fans eben nicht wie Dreck behandeln.
Unvorstellbar aus heutiger Sicht, dass sich vor den Hallen Punks und Popper prügeln, wie 1984 bei Depeche Mode.
Sascha Lange: In den 1980er-Jahren haben Depeche Mode extrem polarisiert. Ich erinnere mich an die Dorfdiscos in Ostdeutschland. Da gab’s auch schon mal Dresche für Depeche-Mode-Fans.
Dennis Burmeister: Dafür gab’s bei uns sogar einen festen Begriff: Popper-Klatschen. Ich komme aus einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern. Und mein bester Freund Ronny war auch schon vor dem Fall der Mauer Depeche-Mode-Fan. Der hat jede Woche aufs Maul bekommen, weil er als Typ zu Depeche Mode getanzt hat. Aber das war ihm völlig egal. Der ist jede Woche zum DJ und hat gesagt: „Spiel mal bitte ‚Strangelove‘“? – „Ey Ronny, bist Du dir sicher?“ – „Ja, Strangelove!“ Dann drehte er auf der Tanzfläche seine Pirouetten – und bekam wieder aufs Maul. War ihm scheißegal. Bei uns im Ort gab’s halt viele Metal-Fans. Wer sich da als Fan von A-ha, Culture Club oder Depeche Mode outete, lebte gefährlich.
Sascha Lange: Martin Gore war ein Crossdresser, manchmal wirkte er androgyn. Das ist vielen maskulin pubertierenden Teenagern sauer aufgestoßen. Die fanden ihn unmännlich, und Fans der Band boten ihrer Ansicht nach eine Angriffsfläche. Es bildeten sich zwei Fronten. Auf der einen Seite die Harten, also Metal-Fans, Skins und Faschos – auf der anderen Popper, Gruftis und New Romantics. Darin geht es auch in unserem Buch „Our Darkness – Gruftis und Waver in der DDR“, welches 2022 erschien.
Dennis Burmeister: Gibt’s heute nicht mehr: Kids, die sich von Schublade zu Schublade angefeindet haben.
Depeche Mode wurden anfangs gerade von der Presse kritisch beäugt, manchmal als Playback-Band mit drei starren Keyboardern, die einem Hampelmann-Sänger zuspielen, verunglimpft. Dann entdeckten Depeche Mode Bleche und Stangen als Instrumente. Später kam ein Schlagzeuger dazu. Welche ist eure liebste Live-Phase?
Sascha Lange: Darin sind Dennis und ich uns einig. Wir sind natürlich hoffnungslose 80er-Jahre-Nostalgiker. Nicht nur in Sachen Depeche Mode, sondern generell. Wir würden da bis maximal 1993 gehen. Bis 1990 war die Band noch elektronischer, die Hallen kleiner. Es gab noch kein Schlagzeug. Ganz selten eine Gitarre. Modern, futuristisch, wie Kraftwerk. Synthetische Musik aus dem Synthi, aber begleitet von einer warmen, menschlichen Stimme. Nun entdeckte die Band mit der „Devotional“-Tour 1993 den Stadionrock, und ab 1998 wollten sie einen Schlagzeuger haben.
Gefällt euch Christian Eigners Arbeit an den Drums?
Sascha Lange: Ich versuche es mal so diplomatisch wie möglich auszudrücken: Auf der aktuellen „Memento Mori“-Tour hat Eigner, der Depeche Mode seit 1998 als Drummer begleitet, immerhin nicht mehr ganz so stark rumgerockt. Ein Schlagzeug mit Double-Bass-Drum passt, nach meinem plakativen Verständnis, doch eher zu Metallica. Aber letztlich ist das ja die künstlerische Entscheidung der Band, da kann und will ich mir keine Ratschläge anmaßen.
Dennis Burmeister: Songs wie „A Question of Time“ funktionieren für mich gar nicht mehr, wird komplett kaputtgekloppt. Da sage ich eher: Never change a winning horse. Ich erinnere mich, dass ich Mitte der 1980er-Jahre mit meinem Vater in unserer Küche saß und Radio hörte. Plötzlich lief „Pipeline“. Ich dachte, das Radio sei kaputt. Die Sounds, die Flächen, die Geräusche, das Sampling. Genau DAS hat die Band mal ausgezeichnet. Auch live. Depeche Mode haben sich von diesem Image komplett gelöst. Martin Gore, der nach vorne auf die Bühne geht und „Pipeline“ samt Geräuschkulisse trällert? Undenkbar. Für mich bleiben viele Gefühle auf der Strecke – vor allem auch wegen des Schlagzeugs. Aber wie ich bereits erwähnte, ist das Jammern auf höchstem Niveau.
Wie empfandet ihr die ersten Konzerte ohne Fletch?
Dennis Burmeister: Mich haben die Screenings, auf denen Andy zu sehen war, sehr berührt. Ich war in Berlin im Stadion und habe geweint. Überhaupt war die Arbeit am Buch sehr emotional. Ich saß nachts allein am Schreibtisch und habe beim Schreiben Zeitreisen unternommen. Es war meine Geschichte genauso wie die der Band. Und all die Fotos, Alan mit Andy Arm in Arm … und dann kommt der Moment von Andys Tod. Man sitzt dann am Schreibtisch, und das Kopfkino geht los. Ist schon Wahnsinn, was man als Fan ertragen muss, wenn man sich einer Band hingibt.
Wie sehr, schätzt ihr, hat der Abgang Alan Wilders 1995 die Musik der Band verändert?
Dennis Burmeister: Was mit Alan gegangen ist? Die Experimentierfreude. Alan saß auch dann noch im Studio und hat an den Stücken rumgefriemelt, wenn die anderen bereits feiern waren oder am Strand lagen. Ohne Alan hätte es den Welthit „Enjoy The Silence“ so nicht gegeben. Hätte Alan das Ding nicht umgekrempelt, wäre es eine schwere Gore-Nummer geblieben. Kein Welthit. Alan war den anderen Jungs immer zu unbequem. Alan wollte Perfektion. Und Anerkennung. Zu Recht.
Jetzt aber – die wichtige Frage: Ist Alan wegen Dave gegangen oder wegen Andy?
Sascha Lange: Ich könnte nur Gerüchte wiedergeben. In Interviews sagte Alan, er wolle einfach nicht mehr in einer Band spielen. Nach den Aufnahmen zu „Songs of Faith and Devotion“ 1992 in Madrid hat er zu Protokoll gegeben, dass es im Studio zu Situationen kam, an deren Ende er sich selbst sagte: Das will ich nicht nochmal erleben. Er kam ja als letzter zur Band, 1982, nach dem Ausstieg Vince Clarkes. Und die Gang-Mentalität der drei Basildon Boys hat er möglicherweise nie so ganz verstanden. Alle haben die gleiche Summe ausgezahlt bekommen, aber Alan war nun mal derjenige, der sich über Wochen im Studio vergrub und die Bänder vorbereitete, zuletzt 1994 für die „Exotic“-Tour. Alles wurde paritätisch geteilt, und während Alan arbeitete, waren die anderen, wie Dennis schon sagte, auch mal im Urlaub.
Wann könnte Alans Entschluss festgestanden haben?
Sascha Lange: Alan fühlte sich offenbar nicht genügend wertgeschätzt. Wird vielleicht nicht der ausschlaggebende Grund für seinen Weggang gewesen sein, dürfte aber einen Teil dazu beigetragen haben. In einem retrospektiven Interview sagte Andy, dass Alan 1995, nach der anstrengenden Tour, sowieso vom Ende Depeche Modes ausgegangen sei. Er habe gedacht, die Band sei tot – Dave war in Los Angeles versumpft. Somit konnte Alan für sich verbuchen, dass er der Erste ist, der geht.
>>> Hier das Depeche-Mode-Sonderheft im Shop bestellen
Das in eurem Buch abgedruckte Fax von Daniel Miller 1996 an Mute liest sich in seiner fast schon juristischen Sachlichkeit inklusive Schwärzungen geradezu kühl: Er versichert, dass mit der Band trotz Daves Drogenproblemen und Alans Ausstieg definitiv noch zu rechnen sei.
Dennis Burmeister: Ich finde den zeitlichen Ablauf zwischen den Faxen sehr interessant. Zeitlich genau einordnen zu können, wann Alan bereits aussteigen wollte oder wann genau Dave welche Probleme hatte. Deswegen finde ich das Kapitel von 1995/96 auch so spannend. Ich bin mir nicht sicher, ob in dieser Tiefe zuvor schon darüber berichtet wurde. Man kennt Schlagzeilen aus der „Bravo“, und auf die wollten wir verzichten. Stattdessen wollten wir zeigen, wie Label-Arbeit in Krisensituationen funktioniert. Daniel Miller hat die Vorgaben dieser Krisenkommunikation gegeben: So faxen wir das an MTV, und nicht anders.
Das erste offizielle Promofoto von Depeche Mode 1996 nach Alans Ausstieg ist ganz schön übel, oder? Drei ausgelaugte Musiker, komisch fotografiert. Andy im nur halbscharfen Dunkel, Dave mit leerem Blick. Wie kann man sich nur für ein derartiges Bild entscheiden?
Dennis Burmeister: Ich finde es gut, dass Bilder wie dieses den Betrachter triggern. Dann merkt man doch, dass man Fan ist. Die beste Auszeichnung, die man der Band als Fan machen kann, ist die, dass man sie liebt und dennoch kritisch ist.
Was halten Depeche Mode eigentlich von euren Büchern? Dass ihr 2013 in Berlin zu „Monument“ eine Ausstellung hattet, wissen die ja.
Dennis Burmeister: „Monument“ haben sie erhalten. Vielleicht schaffen wir es im Februar, ihnen ein Exemplar von „Depeche Mode: Live“ persönlich zu überreichen. Wir wollen uns aber nicht anbiedern. „Monument“ entstand vor zehn Jahren noch mit Mute. Wir haben Daniel Miller in Berlin getroffen. Und wir wurden von Anne Haffmanns, der damaligen Labelmanagerin von Mute Germany, unterstützt. Wir können ihr gar nicht genug dafür danken, für all die Brücken, die sie uns damals gebaut hat. Wir haben aber nie gefragt, wie unser Buch bei Depeche Mode ankam. Angeblich fanden die Jungs das Buch gut.
Dennis Burmeister, Sascha Lange: „Depeche Mode Live“, Blumenbar, 424 Seiten, 60 Euro.