Bundestagswahl: Es gibt kein Schwarz und Weiß bei der Migration
Warum die Debatte schief läuft, erklärt ROLLING STONE-Leser Christian Böß, der mit Migranten arbeitet.

Seit über 22 Jahren arbeite ich nun im Integrationsbereich für Menschen mit Migrationshintergrund in einer hessischen Kommune. Für mich ist es nach all den Jahren immer noch ein toller und sinnstiftender Job. Und ich habe berechtigte Hoffnung, diesen bis zu meinem Ruhestand auszuüben.
Doch gerade nach der Amokfahrt in München, fällt es mir schwer, mit Freude und Zufriedenheit auf mein berufliches Wirken zu schauen. Das hat auch mit der medialen Berichterstattung und den zahlreichen Kommentaren offline und in den sozialen Netzwerken dazu zu tun.
Schärfere Restriktionen sind fahrlässig
Das vorherrschende Schwarz und Weiß, das unseren gesellschaftspolitischen Diskurs bestimmt, frustriert mich zunehmend. Bela B. hat bereits 2009 gewusst: „Es gibt kein schwarz und weiß mehr; Wo hast Du nur den Scheiß her?“
Mich ärgert die Unterkomplexität, mit der unsere Politikerinnen und Politiker die Themen Migration und Integration diskutieren. Das deutsche Zuwanderungsrecht ist inklusive aller Verordnungen und Richtlinien eines der komplexesten Gesetze hierzulande. In vielen Artikeln, die ich gelesen habe, hieß es, schärfere Restriktionen seien die Lösung aller Probleme. Das halte ich für fahrlässig und falsch.
Niemand spricht über männliche Gewalt
Ich wünsche mir, dass unsere Politikerinnen und Politiker in der Lage sind, offen, transparent und nachvollziehbar zu erklären, warum die derzeitigen restriktiven Gesetze in der Praxis so schwer umzusetzen sind. Und dass angesichts der schrecklichen Attentate jüngster Zeit weniger auf die Herkunft der Täter, sondern mehr auf deren Geschlecht geschaut wird. Der Diskurs über männliche Gewalt fehlt mir aktuell gänzlich.
Ich wünsche mir, dass laut über die Zustände in den Gemeinschaftsunterkünften gesprochen wird. Dass eine bessere psychosoziale Versorgung der geflüchteten Menschen thematisiert und an entsprechenden Programmen gearbeitet wird. Was bekomme ich stattdessen im aktuellen Wahlkampf angeboten? Fünf bzw. Zehn-Punkte-Pläne, die zum Inhalt haben, wie Menschen unser Land entweder erst gar nicht betreten oder in großem Stil verlassen sollen.
Meine Kolleginnen und Kollegen mit internationaler Familiengeschichte unterhalten sich in der Pause öfter darüber, ob Deutschland angesichts der politischen Wahlergebnisse der letzten Zeit sowie der aktuellen Hochrechnungen noch ein lebenswertes Land für sie und ihre Angehörigen ist. Das macht mich traurig. Und wütend.
Täter sind nicht die Norm
Ich finde die Amok-Attentate der vergangenen Monate schrecklich und möchte deren Abscheulichkeit gar nicht relativieren. Es sollte jedoch auch klar sein, dass bei geisteskranken Tätern sowohl die Präventionsmaßnahmen als auch die innere Sicherheit an ihre Grenzen kommen.
Gleichzeitig stelle ich fest, dass immer mehr Menschen in meinem Umfeld die Attentäter mit „den Ausländern“ gleichsetzen. In den 22 Jahren meiner beruflichen Tätigkeit habe ich mich immer wieder an den Satz erinnert, den Tommy Lee Jones im Film „Men In Black“ zu Will Smith sagt: „And most of them are decent enough, they’re just trying to make a living.” Und das ist es doch: Diese Täter sind nicht die Norm, sollen aber politisch instrumentalisiert zur Norm gemacht werden.
Ich bin erst wieder am vergangenen Wochenende und im Laufe des letztjährigen Frühjahrs auf zahlreichen Demos gegen Rechts(extremismus) gewesen. So gut ich diese zivilgesellschaftlichen Bewegungen finde, so sehr hat es mich geärgert, dass auch in den Redebeiträgen, die ich dort gehört habe, eine gelungene Integration oft mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gleichgesetzt wurde. Verdammt – es geht doch um unsere Mitmenschen. Um Freundinnen und Freunde, Nachbarinnen und Nachbarn, Arbeitskolleginnen und -kollegen.
Verdrängung der positiven Integrationsgeschichten
Das bringt mich zu meinen letzten Wünschen: Wann wird die Zuwanderungsgeschichte in die BRD mit all ihren positiven Beispielen und Erfolgserlebnissen endlich in der Schule behandelt? Wann werden die Storys der zahlreichen Menschen, Initiativen und Institutionen erzählt, die sich tagtäglich für ein gutes und nachbarschaftliches Zusammenleben einsetzen? Warum werden Themen, die uns alle so dringend betreffen, wie die Mobilitätswende, bezahlbarer Wohnraum oder Digitalisierung so wenig im aktuellen Wahlkampf diskutiert? Wann zeichnet die Politik endlich das große optimistische Bild mit einer Perspektive für die kommenden vier Jahre?
Wir sind mehr. Und Deutschland sollte mehr sein als das, was es migrations- und innenpolitisch gerade von sich zeigt.