Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (9): The Roxy 1975

Es ist Mitte Oktober im Jahr 1975 und nach zwei freundlich aufgenommenen, aber verkaufsmäßig eher mittelprächtigen Alben will die Plattenfirma es wissen: Bruce Springsteen und seine gerade neu formierte E Street Band bekommen eine generalstabsmäßig geplante Kampagne spendiert. Doch Springsteen ist viel zu schlau um nicht zu merken, was hier gespielt wird.

Aktuell 43 Live-Mitschnitte, aufgenommen zwischen 1975 und 2013, bietet Bruce Springsteen auf seiner Website in der „Archive Series“ in verschiedenen Formaten zum Download an. In der Regel erscheint am ersten Freitag jedes Monats eine neu abgemischte Archiv-Show.

Welches Konzert hatte die schönste Setlist? Wo war der Sound am besten? Ein Springsteen-Guide als Serie, zum 70. Geburtstag des Musikers: Aufnahmen, die man kennen muss.

Die Autoren:

Lutz Göllner ist Redakteur im Medienressort der Berliner Stadtmagazine „zitty“ und „tip“. Bei einem USA-Aufenthalt hat er 1974 erstmals Springsteen gehört, fühlte sich als Kind und Jugendlicher immer wie ein Loser, bis er merkte: Er selber ist die Hauptfigur in Springsteens epischen Songtexten – über Loser. Er hält „Darkness On The Edge Of Town“ für die beste LP aller Zeiten.

Erik Heier ist stellvertretender Chefredakteur von „tip“ und „zitty“, erlebte 1988 in Weißensee sein erstes Springsteen-Konzert, musste aber 28 Jahre ausharren, bis er endlich seinen Lieblingssong „Backstreets“ bei seiner elften Show live zu hören bekam. Jetzt wartet er noch auf „Lost in the Flood“.

Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (9): The Roxy 1975

von Lutz Göllner

Bruce Springsteen

Wie gewinnt man einen Club mit 500 Gästen für sich, die alle von der Plattenfirma eingeladen wurden? Besondere Begeisterung ist von solcherart Businesspartnern schließlich nicht zu erwarten. Und schon gar nicht kann man darauf spekulieren, dass sie Songs und Texte des präsentierten Künstlers kennen. Columbia hat zu sechs-Konzerten-an-vier-Abenden ins Roxy in Los Angeles geladen und halb Hollywood – Robert De Niro, Warren Beatty, Jack Nicholson, Musikerkollegen wie David Bowie, Jackson Browne, Neil Diamond und George Harrison, aber eben auch die versammelte Musikpresse der Westküste und jede Menge Typen aus dem Rockbusiness – sitzen vor der Bühne und warten. Im großartigen Jon-Altschiller-Mix hört man, wie sie am Anfang noch manierlich auf ihren Plätzen sitzen, man bekommt das Klickern der Flaschen und Gläser mit. Am Ende dieses Abends werden sie alle auf den Tischen und Stühlen stehen.

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Es ist Mitte Oktober im Jahr 1975 und nach zwei freundlich aufgenommenen, aber verkaufsmäßig eher mittelprächtigen Alben will die Plattenfirma es wissen: Bruce Springsteen und seine gerade neu formierte E Street Band bekommen eine generalstabsmäßig geplante Kampagne spendiert. Anscheinend hatte man verstanden, dass dieser komische kleine Typ mit der speckigen Lederjacke, der Ballonmütze, dem Fusselbart, den hippieesken Textkaskaden und dieser ethnisch-gemischten Band, die sich wie respektlose Punks benahmen, eben nicht der „neue Bob Dylan“ werden wird.

Am 25. August war das neue, dritte Album erschienen, „Born To Run“. Greil Marcus lobte im ROLLING STONE den majestätischen Sound, die mitreißenden Texte und hoffnungslose Romantik, die die LP durchzog. Jetzt wurde nichts dem Zufall überlassen! Für die Aufzeichnung der Konzerte wurde Ray Thompson engagiert, der Mann, der gerade für „Frampton Comes Alive!“ verantwortlich gewesen war. Ein Gig – der vom 16. Oktober – wurde über KWST-FM landesweit ausgestrahlt. Zwei Wochen nach der Konzertserie in L.A. wird das Bild Springsteens die Cover von „Time“ und „Newsweek“ gleichzeitig zieren. Mission erfüllt, ein Superstar war geboren.

Ein genau durch kalkulierter Gig

Bruce Springsteen selber sah das alles ambivalent: Einerseits hatte er die Erfüllung all seiner Träume direkt vor Augen, er musste nur zugreifen. Andererseits untergrub der Rummel sein zerbrechliches Ego, stürzte ihn in Selbstzweifel und Depressionen. Bei seinem ersten Konzert in London nur wenige Wochen später, hatte er einen legendären Wutausbruch.

Doch erstmal sind wir noch an diesem dritten Abend im Roxy. Springsteen ist viel zu schlau um nicht zu merken, was hier gespielt wird. Trotzig dankt er den Fans, die ihn bisher schon bei früheren Gigs an der Westküste unterstützt haben. Und dann legt er einen genau durch kalkulierten Gig hin, vom akustischen Einstieg „Thunder Road“ (mit dieser Aufnahme wurde dann auch die 5-LP-Box „Live 1975-1985“ eröffnet), über radikale Neu-Arrangements wie „E Street Shuffle“ (das an diesem Abend mit Sam Cookes „Having A Party“ ausklingt). Mit „When You Walk In The Room“, geschrieben von Jackie DeShannon, populär gemacht von den Searchers, schickt die Band aus Jersey einen Gruß zum Mersey. Es folgen Kracher wie „She’s The One“, die ausgekoppelte Single „Born To Run“ und „Backstreets“ mit einem donnernden Max Weinberg an den Drums, bis hin zur großen Rockoper „Kitty’s Back“ (mit musikalischen Grüßen an Donald „Duck“ Dunne und Peggy Lee) und „Jungleland“. Sogar Zeit für einen Publikumswunsch bleibt: „4th Of July, Asbury Park (Sandy)“ ist die wohlverdiente Atempause im Power-Set.

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„Ich hatte mir ‚Born To Run‘ als eine Reihe locker verbundener Episoden vorgestellt, die sich während eines einzigen langen Sommertags und der darauffolgenden Nacht abspielten“, schreibt Springsteen in seiner Autobiografie. „Das Album beginnt mit der frühmorgendlichen Mundharmonika von ‚Thunder Road‘. Die zentralen Figuren des Albums werden vorgestellt und die entscheidende Frage aufgeworfen: Willst du was riskieren?“ Am Ende des Albums ist der romantische Optimismus des Anfangs verflogen, die Zukunft ist ambivalent, düster, konfliktreich. Aber so funktioniert natürlich kein Konzert. Die Gäste wollen fröhlich und voller Hoffnung in die Nacht hinaus treten.

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Genau darum ist das Ende dieses Konzerts die Überraschung schlechthin: Nicht etwa das Detroit Medley oder ein Stück von „Born To Run“ sind die Rauswerfer. Springsteen spielt erst eine seelenvolle Version von Carole Kings „Goin‘ Back“, hier leider nicht – wie am ersten Abend der Serie – mit Frau King selber im Duett, ein Lied, in dem es um verlorene Unschuld und die Erkenntnis „alt werden ist keine Sünde“ geht. In seiner Anmoderation erwähnt Springsteen übrigens einen gewissen Nils Lofgren, der gerade eine tolle Version von „Goin‘ Back“ aufgenommen hat.

Neun Jahre später wird dieser Lofgren Gitarrist in der E Street Band. Das räudige (vorläufige) Ende des Abends wird von Chuck Berrys sehr lauten Hymne „Carol“ – es ist Berrys 49. Geburtstag – markiert. Gerade mal zwei Stunden ist dieser 14-Song-Auftritt lang, aber man fragt sich schon, woher Sänger und Band die Kraft für ein zweites Konzert an diesem Abend genommen haben.

Nach der Show hingen Springsteen und Jack Nicholson, beide verbunden durch ihre Herkunft aus New Jersey, in einer Kneipe herum. „Wie kommst du mit dem Ruhm klar?“, fragte der jüngere. Nicholson grinste nur und antwortet: „Als es bei mir los ging, war ich bereit.“ Die Konzertserie im Roxy markiert das Ende des hoffnungslosen Romantikers Bruce Springsteen und den wahrhaftigen Beginn seiner Karriere.

„The Roxy 1975“ ist das früheste Konzert in der Archive-Serie, und glaubt man dem Springsteen-Lager, wird es wohl keine Veröffentlichungen von Gigs vor diesem geben.

Set List:

THUNDER ROAD / TENTH AVENUE FREEZE-OUT / SPIRIT IN THE NIGHT / THE E STREET SHUFFLE / WHEN YOU WALK IN THE ROOM / SHE’S THE ONE / BORN TO RUN / 4TH OF JULY, ASBURY PARK (SANDY) / BACKSTREETS / KITTY’S BACK / JUNGLELAND / ROSALITA (COME OUT TONIGHT) / GOIN‘ BACK / CAROL

Tom Hill WireImage
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