Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (11): Fair Grounds Race Course, New Orleans April 30, 2006

Ein halbes Jahr nach dem Hurrikan Katrina kam Bruce Springsteen nach New Orleans. Im letzten Licht des Tages sah er, wie zur Stadthymne „When The Saints …“ tausende Hände weiße Taschentücher in den leichten Abendwind schwenkten. Publikum und Band begannen, Rotz und Schleier zu heulen. „Ich habe sehr, sehr viele Konzerte gegeben“, so der Boss, „aber nur wenige, die wie dieses waren. Ich hatte alles gegeben und die Band mit einer Überzeugung antreiben müssen, die ich selbst nicht recht gespürt hatte.“

Aktuell 43 Live-Mitschnitte, aufgenommen zwischen 1975 und 2013, bietet Bruce Springsteen auf seiner Website in der „Archive Series“ in verschiedenen Formaten zum Download an. In der Regel erscheint am ersten Freitag jedes Monats eine neu abgemischte Archiv-Show.

Welches Konzert hatte die schönste Setlist? Wo war der Sound am besten? Ein Springsteen-Guide als Serie, zum 70. Geburtstag des Musikers: Aufnahmen, die man kennen muss.

Die Autoren:

Lutz Göllner ist Redakteur im Medienressort der Berliner Stadtmagazine „zitty“ und „tip“. Bei einem USA-Aufenthalt hat er 1974 erstmals Springsteen gehört, fühlte sich als Kind und Jugendlicher immer wie ein Loser, bis er merkte: Er selber ist die Hauptfigur in Springsteens epischen Songtexten – über Loser. Er hält „Darkness On The Edge Of Town“ für die beste LP aller Zeiten.

Erik Heier ist stellvertretender Chefredakteur von „tip“ und „zitty“, erlebte 1988 in Weißensee sein erstes Springsteen-Konzert, musste aber 28 Jahre ausharren, bis er endlich seinen Lieblingssong „Backstreets“ bei seiner elften Show live zu hören bekam. Jetzt wartet er noch auf „Lost in the Flood“.

Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (11): Fair Grounds Race Course, New Orleans April 30, 2006

Bruce Springsteen mit Patti Scialfa und der Seeger Sessions Band

von Lutz Göllner

Um es ganz ehrlich zu sagen: Ich habe lange mit dieser Phase von Springsteens Karriere gehadert und mit dem Ausgangspunkt, der CD „We Shall Overcome – The Seeger Sessions“ gefremdelt. Die Gründe dafür? Zunächst mal war da die Vorabveröffentlichung „We Shall Overcome“, 1997 auf dem Pete-Seeger-Tribute „Where Have All The Flowers Gone“ erschienen. Sicher, eine Hymne der amerikanischen Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegung. Ich persönlich verbinde diesen Song jedoch eher mit trutschigen Klampffassungen, mit denen mich in den 80er Jahren deutsche Friedensfreunde fast ins Wachkoma gefoltert hätten. Aber damit nicht genug, Springsteen musste seinen Seeger-Sessions auch noch „Pay Me My Money Down“ und – schlimmer geht’s nimmer – „When The Saints Go Marching In“ hinzufügen, beides Standards, die man ab 1972 auf jedem SPD-Frühschoppen hören musste, meist gespielt von Dixieland-Kapellen in lustigen gestreiften Hemden und mit Strohkreissägen auf dem Kopf.

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Dazu kommt, dass ich Pete Seeger nicht besonders schätze. Hey, das war der Typ, der mit einer Axt die Bühne stürmen wollte, als Bob Dylan 1965 beim Newport Folk Festival mit einem elektrifizierten Blues-Set auftrat. Gegen sein pazifistisches Engagement gegen den Zweiten Weltkrieg und das politische Abenteuer in Vietnam, seine Kritik an der jahrzehntelangen aggressiven Außenpolitik der USA kann man ja nichts sagen. Aber musste er sich deshalb bei so ziemlich jedem unappetitlichen kommunistischen Diktator, von Honecker bis Castro, anbiedern? Nein, bei allen musikalischen Verdiensten, ich war und bin kein Fan von Pete Seeger.

Ein letzter Punkt, der mir bis heute sauer aufstößt: Im April 2006 als normale CD veröffentlicht, kam nur fünf Monate später eine um drei Stücke erweiterte Version in den Handel, „We Shall Overcome – The Seeger Sessions American Land Edition“. Böse Zungen könnten da von Abzocke reden. Und das widerspricht doch sehr dem urigen, antikapitalistischen „back to the roots“-Anspruch, den Springsteen mit diesen Aufnahmen postulierte. Etwas versöhnt hat mich dann ein Jahr später der Konzertmitschnitt „Live In Dublin“, der nicht nur sehr schön umarrangierte Springsteen-Standards präsentierte, sondern auch eine hinreißende Version des Folk/Reggae-Hits „Love Of The Common People“.

Ein halbes Jahr nach Katrina

Am 30. April 2006 jedenfalls, nicht einmal drei Wochen nach der Veröffentlichung des Albums, trat Springsteen erstmals mit der Session-Band beim New Orleans Jazzfestival auf. Nur ein halbes Jahr vorher war die Stadt am Mississippi-Delta vom Hurricane Katrina – man muss es so sagen – vernichtet worden. Das Festival war so ziemlich die erste große Kulturveranstaltung, die nach dem Wirbelsturm in der Heimat des Jazz stattfand. Durch Katrina waren insgesamt 1.836 Menschen gestorben, der Sachschaden betrug 108 Milliarden Dollar. Es gibt Filme, Spike Lees außerordentlicher Dokumentarfilm „When The Levees Broke: A Requiem In Acts“ etwa, und Bücher – „Sturm über New Orleans“ von James Lee Burke – die nachdrücklich beschrieben, was im Vorfeld und im Verlauf der Katastrophe alles falsch gelaufen war: der Fluss des Mississippi war verändert, die ökologisch wichtigen Feuchtgebiete vernichtet worden, als dann die aus finanziellen Gründen nur notdürftig gewarteten Dämme brachen, lief die Stadt voll. 80 Prozent des Stadtgebietes standen unter Wasser, teilweise stand die brackige Brühe 7,60 Meter hoch. Evakuierungspläne erwiesen sich als Makulatur, New Orleans war abgeschnitten, es kam zu Plünderungen, Gewaltausbrüchen und Ruhr-Erkrankungen. Es war apokalyptisch!

Nur sechs Monate später stand Bruce Springsteen am Rand der alten Galopprennbahn, auf der seit 1972 das New Orleans Jazz & Heritage Festival abgehalten wird (ironischerweise sind die Veranstalter die gleichen, die auch das oben erwähnte Folk Festival in Newport, Rhode Island kuratieren). „Den ganzen Morgen über hatte es wie aus Eimern gegossen“, erinnert sich Bruce Springsteen in seinen Memoiren, „das Feld war durchweicht und sah wie das Land der tausend Seen aus. Es war klamm und eiskalt.“ Keine guten Voraussetzungen für ein Konzert unter freiem Himmel. Dazu kam, dass die Bühne absolut schalltot war, die Lautsprecher so weit entfernt, dass nur ein muffliger Sound ankam. „Man konzentriert sich“, so Springsteen weiter, „ und schlägt die Brücke zum Publikum mit purer Willenskraft, und man vertraut darauf, dass der Schuss Showtime-Adrenalin sein Übriges tut.“

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Vor Bruce Springsteen und seiner Session-Band trat Allen Toussaint auf, das musikalische und spirituelle Oberhaupt der Mississippi-Metropole, und forderte die Zuhörer auf, die „Kids“ freundlich zu empfangen. Das Konzert begann am frühen Abend mit „O Mary Don’t You Weep“, einem Sklavensong aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg und hangelte sich dann an weiteren Spirituals entlang. Die Reaktion: kritisches Wohlwollen. Erst nach etwas über einer Stunde brachen schließlich die Dämme. „Ich trieb uns zu einem immer rockigeren Rhythmus an und spürte langsam, wie der Swing und Rock’n’Roll ineinandergriffen.“

Im letzten Licht des Tages sah Springsteen, wie zu New Orleans‘ Stadthymne „When The Saints …“ tausende Hände weiße Taschentücher in den leichten Abendwind schwenkten. Publikum und Band begannen, Rotz und Schleier zu heulen. „Ich habe sehr, sehr viele Konzerte gegeben“, schreibt Springsteen, „aber nur wenige, die wie dieses waren. Ich hatte alles gegeben und die Band mit einer Überzeugung antreiben müssen, die ich selbst nicht recht gespürt hatte.“

Wie bei allen Konzerttourneen veränderten sich die Auftritte im Lauf der Monate. Bei diesem ersten Set standen noch hauptsächlich die Songs der neuen Platte im Mittelpunkt, es wurden nur wenige umarrangierte Springsteen-Klassiker gespielt. Die reguläre Live CD „Live In Dublin“ und diese Veröffentlichung aus den Archives ergeben jedoch eine Klammer, die zeigt, wie aus sturer Roots-Musik mit Spielfreude, Herz und Humor etwas sehr frisches, freundliches, neues wird. Speziell „My City Of Ruins“, geschrieben als Complainte über den industriellen Niedergang von Freehold, New Jersey, zu Ehren gekommen als Epitaph in der Folge von 9/11, traf an diesem Abend ins Herz des Big Easy.

Lassen wir Bruce Springsteen selbst die letzten Worte: „Auch so etwas augenscheinlich Unbedeutendes wie Musik kann hilfreich sein. Sie erzeugt ein Gefühl von Gemeinschaft, Ermutigung und Stärkung, das unweigerlich aufkommt, wenn Menschen sich zusammenfinden und sich miteinander im Takt bewegen. Das ist eine schöne Erfahrung.“

Set List:

O MARY DON’T YOU WEEP / JOHN HENRY / JOHNNY 99 / OLD DAN TUCKER / EYES ON THE PRIZE / JESSE JAMES / MY OKLAHOMA HOME / MRS. McGRATH / HOW CAN A POOR MAN STAND SUCH TIMES AND LIVE? / JACOB’S LADDER / WE SHALL OVERCOME / OPEN ALL NIGHT / PAY ME MY MONEY DOWN / MY CITY OF RUINS / BUFFALO GALS / YOU CAN LOOK (BUT YOU BETTER NOT TOUCH) / WHEN THE SAINTS GO MARCHING IN

Das komplette Konzert kann man sich – professionell aufgenommen und geschnitten – auf Bruce Springsteens youtube-Kanal anschauen:

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BONUS TRACKS

Da dies meine letzte Folge ist, seien mir an dieser Stelle noch einige Archives-Erwähnungen erlaubt, die es nicht in unsere engere Auswahl geschafft haben. Ich mag ja z.B. die kurzen, konzentrierten Auftritte sehr gerne, „No Nukes 1979“ (beide Auftritte) oder „Bridge School, October 13, 1986“, ein Konzert, das akustisch beginnt und sich im Lauf der Zeit immer mehr steigert.

Ich liebe auch die beiden rauhen Soundboard-Aufnahmen in Mono, die am 7. und 8. Februar 1977 in Albany und Rochester entstanden sind. Mitgeschnitten auf einem Rekorder am Mischpult und jedes Mal, wenn die Kassette umgedreht werden muss … ach, hören Sie sich das selber an.

Ich erinnere mich an Springsteens Auftritt im Berliner ICC im Zuge der „Devils & Dust“-Tournee. Beim letzten Song, dem auf einer 100 Jahre alten Orgel dargebotenen Suicide-Cover „Dream Baby Dream“, begannen die beiden Frauen neben mir hysterisch zu Heulen. Musik als quasi-religiöse Erfahrung. Seitdem ist dieser Song, dokumentiert auf drei Archive-Aufnahmen, einer meiner liebsten Springsteen-Songs (Gruß an die Herren Z. und W.).

Und eine der tollsten Live-Aufnahmen ist die Drei-Konzerte-Box „Metlife Stadium 2016“, aufgenommen am 23., 25. und 30. August 2016 in Springsteens „Wohnzimmer“ in East Rutherford. Gerade aus Europa zurückgekehrt läutet die E Street Band hier das letzte Bein der „The River“-Tour ein. Spielfreude pur, 102 Songs, jedes Konzert fast vier Stunden lang. Kein Bestandteil der Archives, aber absolut empfehlenswert.

Und eine große Hoffnung: Es gibt ja Konzerte, die Bruce Springsteen selber als lebensverändernd beschrieben hat. Einige davon, die im Roxy 1975 und 1978, die drei Abende in Passaic, New Orleans 2006, sind bereits Teile der Archive-Serie. Nicht nur ich warte auf Ost-Berlin 1988.

Rick Diamond WireImage
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