Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (2): 7/7/1978 The Roxy, West Hollywood, CA
Prove it all night: Nicht nur eines der besten Springsteen-Konzerte, sondern vielleicht sogar eines der besten Konzerte aller Zeiten – der Club-Auftritt in West Hollywood im Rahmen der „Darkness On The Edge Of Town“-Tour.
Aktuell 43 Live-Mitschnitte, aufgenommen zwischen 1975 und 2013, bietet Bruce Springsteen auf seiner Website in der „Archive Series“ in verschiedenen Formaten zum Download an. In der Regel erscheint am ersten Freitag jedes Monats eine neu abgemischte Archiv-Show.
Welches Konzert hatte die schönste Setlist? Wo war der Sound am besten? Ein Springsteen-Guide als Serie, zum 70. Geburtstag des Musikers: Aufnahmen, die man kennen muss.
Die Autoren:
Lutz Göllner ist Redakteur im Medienressort der Berliner Stadtmagazine „zitty“ und „tip“. Bei einem USA-Aufenthalt hat er 1974 erstmals Springsteen gehört, fühlte sich als Kind und Jugendlicher immer wie ein Loser, bis er merkte: Er selber ist die Hauptfigur in Springsteens epischen Songtexten – über Loser. Er hält „Darkness On The Edge Of Town“ für die beste LP aller Zeiten.
Erik Heier ist stellvertretender Chefredakteur von „tip“ und „zitty“, erlebte 1988 in Weißensee sein erstes Springsteen-Konzert, musste aber 28 Jahre ausharren, bis er endlich seinen Lieblingssong „Backstreets“ bei seiner elften Show live zu hören bekam. Jetzt wartet er noch auf „Lost in the Flood“.
Bruce Springsteen: 7/7/1978 The Roxy, West Hollywood, CA
von Erik Heier
Alles beginnt mit einem himmelschreienden Unterstatement: „We gonna do some Rock’n’Roll for you.“ Bisschen Rock’n’Roll. Nee, is klar.
Teil zwei unserer kleinen Auswahl aus der Bruce-Springsteen-Archiv-Serie geht ganz hoch ran. Springsteens energetischer, mehr als dreistündiger Auftritt mit der mächtigen E Street Band im legendären, nur 500 Besucher fassenden Club Roxy in West Hollywood auf der ebenso legendären 1978er „Darkness on the Edge of Town“-Tour gilt als eines seiner besten Konzerte aller Zeiten. Und das verdammt noch mehr völlig zu Recht.
Ein Beleg: Ein gutes Drittel der 25 an dem Abend gespielten Songs wurde später in den 80ern offiziell veröffentlicht (wenngleich mitunter im Studio erheblich daran herumgedoktert wurde, dazu später mehr), allein acht Stücke erschienen auf dem 1986er Fünf-LP-Album „Live 1975-85“).
Und: Jeder Fan, dessen Sammlung auch nur einigermaßen sortiert war, besaß in irgendeiner der vielen Bootleg-Inkarnationen den seinerzeit live auf dem in Los Angeles residierenden Sender KMET-FM ausgestrahlten Gig, eines der fünf Radio-Übertragungen auf der Tour, die den Ruf der E Street Band als grandiose Live-Kapelle, die alles in Grund und Boden spielte, wesentlich mehrte.
Roxy 1978: ein wahrhaft rauschendes Ereignis.
Jon Altschillers neuer Mix ist natürlich einige Levels besser als die alten Radio-Tapes, allerdings geht dabei auch ein stückweit die Euphorie der Fans verloren, die es tatsächlich in den Club geschafft hatten – Springsteen füllte auf der „Darkness“-Tour ansonsten längst die Hallen. Nur die Hälfte der wenigen Karten kam in den freien Verkauf, der Rest war Musikindustrie-Buddys vorbehalten, und einige Tickets wurden auch übers Radio verlost. So betrat auch ein leicht angesäuerter Boss die Bühne, um sich erst mal bei den Fans zu entschuldigen, die stundenlang dafür angestanden hatten, Bruce und die E Street Band noch einmal in einem kleinen Club zu sehen. Diese Gelegenheiten würden fortan rar werden.
Und wie erfahrene Fans wissen: Ein Bruce Springsteen, der ein bisschen pissed ist, ist mitunter am besten.
Ab der irrwitzig losbollernden Tourpremiere von Buddy Holly’s „Rave on“ werden keine Gefangenen mehr gemacht. Schnell wirft Bruce die Setlist aus dem Fenster, jagt die Band unter grellendem Kreischen der vornehmlich sehr jungen Fans durch die seinerzeit eher selten gespielte, von Max Weinbergs hyperaktiven Drums angetriebene Huren-Herrlichkeit „Candy’s Room“ von „Darkness“, lässt sich gleich danach zum hilfeschreienden „For you“ vom ersten Album „Greetings from Asbury Park N. J.“ (1972) überreden. Es gibt die Weltpremiere der bitteren, ausweglosen Ballade„Point Blank“ mit deutlicheren Drogen-Bezügen als in der zwei Jahre später auf „The River“ erscheinenden Version, und „Prove It All Night“ mit seinem langen, stellenweise improvisierten, grandiosen Gitarrenintro, das Springsteen nach dieser Tour jahrzehntelang nicht mehr anfassen würde (bis 2016 auf der nostalgischen „The River“-Tour, wo er auch das München-Konzert damit eröffnete, aber es würde nicht mehr die Brillanz von 1978 haben).
Einige der Songs an diesem Abend fallen in die Kategorie „Definitive Version“: „Adam Raised A Cain“, „Growin‘ Up“, „It’s Hard To Be A Saint In The City“, womöglich auch „Backstreets“ (der Autor ist allerdings auch ein großer Fan der 84er Tourversion), das Springsteen auf der „Darkness“-Tour mit einer mehr gesprochenen als gesungenen Interlude (von den Fans „Sad Eyes“-Interlude“ getauft) minutenlang ausdehnt, Teile davon würden auf dem nächsten Album „The River“ den Song „Drive All Night“ formen, die Springsteen von Abend zu Abend neu improvisierte, eine bittere Geschichte von Liebe und Betrug, und am Ende schreit er es raus, die Verzweiflung, den Betrug, die Ratlosigkeit, „I wanna know why you lie“. Diese Aufnahme erschien auch auf dem 86er Live-Album, aber ohne „Sade Eyes“ und auch mit einer von einem anderen Konzert reingemischten dritten Strophe. Hier ist dieses „Backstreets“ von „Born To Run“ (1975) jetzt in seiner ganzen Herrlichkeit zu erleben.
„Du reparierst jetzt das Auto!“
Überhaupt: die Geschichten. Springsteen war jahrelang für seine Schnurren bekannt, die er von der Bühne aus erzählte, vor allem über seinen Vater. Hier gibt’s auch einige davon. Vor „Racing In The Street“ zum Beispiel plaudert er launig und beachtlich selbstironisch von seiner völligen Unkenntnis, ein malades Auto zu reparieren. Da kann das Mädchen, das gerade bei der Panne neben ihm sitzt, noch so treuherzig sagen: „Du bist doch der Typ, der diese Songs über Autos schreibst, du reparierst jetzt das Auto!“ Und weil der Boss sich nicht nur bei Motorhauben vorkommt wie „Alice lost in wonderland“, sondern auch beim Gitarrenstimmen, gibt er aus der Not heraus Elvis‘ „Heatbreak Hotel“ zum Besten, als es ihm nicht glückt, das Lieblings-Instrument für „Rosalita“ vernünftig zu tunen.
Noch eine zweite Weltpremiere kurz vor Schluss, die beachtlich politische Vater-Sohn-Innenansicht „Independence Day“, nur vom Piano begleitet (auch dieser Song erschien später auf „The River“). Und mit Eddie Floyds „Raise Your Hand“ ist es das dann eigentlich auch. Aber die Fans marodieren zehn Minuten weiter, ein hellsichtiger Tontechniker lässt das Band weiter laufen (der Lärmpegel auf der offiziellen Version gibt nicht annähernd die frenetische Stimmung in der Hütte wieder). Jemand bittet die Fans, jetzt doch bitte nach Hause zu gehen, Bruce und die Band hätten längst das Gebäude verlassen (wie man das bei Elvis immer gemacht hat, wo es allerdings auch stimmte). Und keine 15 Sekunden später setzt sich Max Weinberg wieder ans Schlagzeug. Und weiter geht’s: ein finales „Twist and Shout“.
Noch ein bisschen Rock’n’Roll für die Ewigkeit.