Britanniens Riot-Girls light
Im Königreich entwirft eine neue Generation junger Pop-Frauen ein modernes feministisches Leitbild. Tolle Musik machen die Damen außerdem.
Es könnte fast die Kulisse für ein gewöhnliches „Star-Interview“ mit, sagen wir: Britney Spears sein. Der Manager, der in Hörweite vorm Laptop sitzt. Die Dame von der Plattenfirma, ein Sofa weiter. Dazu noch eine Frau, die nichts sagt und deren Funktion nicht ganz klar wird. Vielleicht die persönliche Assistentin? Wir wissen es nicht.
Doch wo sonst darauf geachtet wird, dass der Reporter nur die erlaubten harmlosen Fragen stellt und der unmündige Schützling bloß nichts Falsches antwortet, ist der Betreuer-Auflauf in diesem Fall den räumlichen Gegebenheiten geschuldet. Wie zur Bestätigung löst sich nun eine Frau aus der Gruppe, die zunächst noch vom Manager verdeckt wurde: Marina Diamandis ist sehr schön, von enormer Ausstrahlung – und muss vermutlich bisweilen im Club noch den Ausweis zeigen, obwohl sie immerhin 24 ist. Dass man überaus schlecht beraten wäre, dieser funkensprühenden, klugen Frau den Mund zu verbieten, ist allerdings auch klar.
Marina ist eine Einzelkämpferin. Der ihrem Nachnamen geschuldete Zusatz „And The Diamonds“ steht nicht für eine Begleitband, sondern für ihre Fans – wer diese Frau mag, so hat sie sich das überlegt, ist ein Diamant. Anfang Februar erschien im UK ihr Debüt „The Family Jewels“ und erreichte auf Anhieb obere Chart-Regionen. Am 7. Mai wird das Werk auch bei uns veröffentlicht. Es ist das beste Pop-Album des bisherigen Jahres. Eine verführerische Melange aus Hochleistungs-Chart-Pop, Indie und Kate-Bush-hafter Exzentrik. Außerdem ist dieses Album der vorläufige Endpunkt eines fünfjährigen Marathons der Entschlossenheit. Denn in gewisser Weise ist Marina durchaus „gemacht“. Nur hat sie kein anonymes Star-System zu dem geformt, was sie heute ist, sondern einzig und allein sie selbst.
Geboren wird Marina Diamandis am 10. Oktober 1985 im walisischen Kaff Abergovenny, der Vater ist Grieche, die Mutter Waliserin. Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie abwechselnd in Wales und Athen, wo sie die britisch-amerikanische Schule besucht und abschließt. Sie trifft Freundinnen, spielt Flöte und Violine, träumt die üblichen Kleinmädchenträume. Man kann wohl sagen: Marina Diamandis hatte eine gute Kindheit.
Mit 18 verlässt sie die Familie und geht nach London, Popstar werden. „Das war ein viel größerer Kulturschock für mich als vorher Athen, ich war komplett auf mich selbst gestellt“, erinnert sie sich. „Allerdings war alles so aufregend, dass mir das gar nicht auffiel.“ In rascher Folge nimmt sie vier Studiengänge an diversen Schulen auf Tanz, Gesang, Komposition, Musikgeschichte – und bricht alle wieder ab. Die Marina jener Tage ist eine Frau auf der Suche.
„Ich musste zu Beginn doppelt so hart arbeiten wie andere, weil es mir an Talent fehlte“, sagt sie. „Das ist keine Koketterie: Ich war nicht gut genug, und das wusste ich. Also investierte ich fünf Jahre harter Arbeit, um das zu ändern.“
Fünf Jahre, in denen sie ihr Geld verdient in 20 verschiedenen Kellnerjobs, als Verkäuferin im Sockenladen und Hostesse bei Filmpremieren. Zuletzt betreibt sie einen eBay-Shop. Parallel bringt sie sich selbst das Klavierspielen bei, tritt abends in irgendwelchen Läden auf und arbeitet unablässig an ihren Songs. Eine moderne Musiker-Existenz. Schließlich nimmt sie erste Demos auf dem Laptop auf und stellt die Ergebnisse bei MySpace ein. Danach bricht ein Sturm los: Marina trifft sich mit nicht weniger als 18 A&R-Leuten und unterschreibt schließlich beim zum Warner-Konzern gehörenden 679-Label. Seit zwei Jahren, damals widmete der „Guardian“ ihr erstmals eine große Geschichte, gilt sie nun als upcoming star.
Bis zu einem gewissen Grad parallel verlief der bisherige Werdegang einer anderen jungen Britin: Mit Ellie Goulding teilte Marina im Dezember nicht nur alle sogenannten „Hot Lists“ für 2010. Die beiden Frauen sind auch befreundet, seit sie sich vergangenes Jahr bei einem gemeinsamen Konzert kennenlernten. Weshalb wir Goulding eine Frage von Marina mitbringen. Eine Mädchenfrage: „Was ist dein Lieblingsessen?“ Doch so vorhersehbar, wie die Antwort ausfällt – „Sushi“ -, ist bisweilen leider auch Gouldings Musik. „Lights“, ihr in diesen Tagen erscheinendem Debüt, das sogar noch höher gehandelt wird als „The Family Jewels“ und daheim in Großbritannien von null auf eins in die Charts ging, enthält überwiegend folkbasierten, gefälligen Radio-Pop.
Dennoch kündet auch diese Platte von einem großen Talent, das vielleicht nur noch nicht zur vollen Reife gelangt ist. Im Gegensatz zu Marina verkörpert Goulding eher das nette Mädchen von nebenan. Sie ist hübsch, ziemlich schüchtern, auf geheimnisvolle Weise lasziv. Unter der sehr glatten, perfekt geschminkten Haut lauern Abgründe, das merkt man schnell. Dennoch: Stellt man Ellie Goulding dieselben Fragen wie Marina, kriegt man drei Wochen später an einem völlig anderen Ort nahezu identische Antworten.
Auch Goulding wuchs in der Provinz auf, in Herefordshire an der Grenze zwischen England und Wales. Als Kind hat sie davon geträumt, Politikerin zu werden oder Musikerin. Mit 15 begann sie, ernsthaft Gitarre zu spielen und schrieb ihren ersten Song. Mit 16 zog sie zu Hause aus, erst zu ihrem ersten Freund, dann zum nächsten. Sie wollte einfach nur raus. Ein paar Jahre hing sie in der Luft, nahm schließlich ein Politik-Studium an der University of Kent in Canterbury auf, was sie bald darauf abbrach. Auch die Ellie Goulding jener Jahre war eine Suchende.
Vor anderthalb Jahren ging sie dann nach London. Mit dem unter dem Moniker Frankmusic bekannten Elektro-Popper Vince Frank nahm sie einen dancelastigen Track auf und stellte ihn ins Netz. Der Song löste eine Lawine aus, noch gewaltiger als bei Marina: Innerhalb weniger Wochen rief jede Plattenfirma Englands an. „Am Anfang ist wohl jeder das ,Mädchen von nebenan'“, erinnert sie sich an ihre ersten Schritte als Pop-Star. „Täglich wird meine Haut dicker – oder auch dünner. Oft leider dünner. Ich lerne, indem ich Fehler mache. Im Zeitraffer. Für Frauen scheint es besonders schwer zu sein, man muss doppelt so hart kämpfen, um die gute Laune zu behalten.“ Herefordshire ist sehr weit weg in solchen Momenten.
Die zweite Welle exzentrisch souveräner Brit-Ladies beweist endgültig, dass es sich bei Lily Allen, Kate Nash und den anderen nicht um Einzelphänomene handelte. Mit Marina und Ellie sowie der toll souligen Rox, der elfenhaften Jesca Hoop oder Stings Tochter Coco Sumner, die sich I Blame Coco nennt, tut sich gerade so einiges auf der Insel. Hier wächst eine neue Frauengeneration heran, die ein ähnliches Rollenverständnis eint und in einigen Fällen sogar: eine Freundschaft. „Ich kenne die meisten von ihnen, das sind ganz tolle Frauen“, sagt Florence Welch, die als Florence And The Machine im letzten Jahr eben jenen Rummel im großen Stil erlebte, der Marina und Ellie erst noch bevorsteht.
Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, und in diesem Fall scheint es, als forderte das von People-Magazinen, Modemachern und Casting-Shows vorgegebene Zwangsdiktat aus immer neuen Minusrekorden bei den Konfektionsgrößen und Besuchen beim Schönheits-Chirurgen als selbstverständlicher Bestandteil im Leben junger Frauen eine Gegenbewegung zum übersexualisierten R&B amerikanischer Prägung heraus. „Ich glaube, die Leute haben eine Sehnsucht, etwas zu hören, was mehr mit ihrem richtigen Leben zu tun hat als diese seelenlosen Massenproduktionen“, vermutet Welch. „Von mir aus können die Beyonces dieser Welt machen, was sie wollen – solange deren Form nicht die einzige gesellschaftlich akzeptierte Form von Weiblichkeit ist.“ Die Kampfhymne zum britischen Patchwork-Feminismus liefert Marina mit „Girls“. Der Zeile „Girls are not meant to fight dirty/ Never look a day past thirty“ stellt sie in dem Song ihr Selbstverständnis entgegen: „Look like a girl but I think like like a guy/ Not ladylike to behave like a slime/ Easy to be sleazy when you’ve got a filthy mind/ You stick to your yoghurts/ I’ll stick to my apple pie.“
Marina schätzt Beauvoirs „Das zweite Geschlecht“ und traf vor einigen Wochen die australische Frauenrechtlerin Germaine Greer. Sie findet aber, dass die heutige Zeit einen anderen feministischen Ansatz verlange. Den bekommt sie nicht zuletzt in Natasha Walters „Living Dolls: The Return Of Sexism“, jenem Buch, das die sexuelle Selbstausbeutung vieler heutiger Frauen kritisiert. „Ich beobachte ein tiefes Bedürfnis bei Frauen meiner Generation, nicht mehr nur als singende und tanzende Puppen wahrgenommen werden zu wollen“, sagt Marina. „Die Leute haben die Schnauze voll von den inszenierten Plastik-Existenzen aus den Gossip-Magazinen. Mit dieser Britney-Spears-Geschichte ist eine Grenze überschritten worden, das widert viele Menschen an. Ich glaube, dass wir uns in eine andere Ära im Umgang mit Weiblichkeit und Künstlichkeit bewegen.“
„Tatsächlich eint diese neue Generation in England die Tatsache, dass wir weibliche Rollenbilder anders definieren, als das etwa in den USA geschieht. Als ich aufwuchs, gab es nur diesen ganzen übersexualisierten R&B-Kram, an dem ich mich hätte orientieren können. Das hat sich nun geändert.“ Ellie Jackson telefoniert von einem Handy aus, unmittelbar bevor sie auf die Bühne geht. Mit ihrer Band La Roux und deren unbetiteltem Debüt hat sie vergangenes Jahr eine der bislang besten Platten der neuen britischen Frauengeneration vorgelegt. Denn wo in den Neunzigern, etwa bei den sogenannten Riot Grrrls, Attitüde und Aussage im Mittelpunkt standen, machen die meisten dieser Frauen ja wirklich atemberaubende Musik: Das letzte Lily-Allen-Album, das Marina-Debüt, „Lungs“ von Florence And The Machine – hier wird eine Qualität produziert, die dieses Movement (einmal wollen wir es so nennen) zu einem besonderen macht. Musik, die sich aus einem Indie-Background und Selbstverständnis speist, die aber in höchstem Maße Chart-affin ist. Lily Allen etwa funktioniert auch bestens auf „Bayern 3“ – solange man nicht auf die Texte achtet. Die Ikone dieser Frauen ist übrigens nicht Madonna, wie man vielleicht denken könnte, sondern: Kate Bush.
Sie hat ein völlig individuelles Frauenbild entworfen. Es gibt ja diese stereotype Erwartung, dass man entweder ein Vamp ist oder das totale Mannsweib, das sich für Fußball interessiert… Kate Bush füllt seit sehr langer Zeit überaus kreativ die Freiräume dazwischen aus.“ Kate Nash ist mit gerade einmal 22 Jahren fast schon so eine Art Elder-Stateswoman unter den neuen Brit-Girls. Nach dem Übernachterfolg ihres Debüts „Made Of Bricks“ musste sie sich vor zwei Jahren mit dem Erwachsenwerden beeilen. Mit 20 wurde sie zur Ikone einer neuen Frauengeneration erkoren, was sie weird fand, wie sie sagt. „Da habe ich nichts drauf gegeben, sonst hätte ich mich zu einem totalen Wichser entwickelt. Zum Glück hatte ich meine tolle Familie und gute Freunde. Aber wenn man in der Öffentlichkeit steht, hat man automatisch eine Vorbildfunktion. Man sollte das Beste daraus machen und gewisse Dinge ansprechen.“ Also Frau Nash, wie ist das nun mit der neuen Britfrauen-Generation? „Jedenfalls gibt es keine Stutenbissigkeit. Wir weigern uns, diesem Klischee zu entsprechen. Statdessen respektieren und mögen wir uns. Einige Leute hätten wohl gerne, dass wir uns über die Presse in die Pfanne hauen, aber den Gefallen tun wir ihnen nicht.“
Zurzeit hat Nash ohnehin andere Sorgen. Erstens laboriert sie an einem mittelschweren Kater vom Vorabend, zweitens hat sie gerade mit Bernard Butler ihr zweites Album fertig gestellt „My Best Friend Is You“. Es ist eine erstaunlich reife, eine gute Platte geworden. Die anders klingt als der freche Straßengörensound des Debüts. „Ich habe viel gelernt seitdem, dadurch lief alles bewusster ab. Zuletzt ging alles Schlag auf Schlag, jetzt habe ich lange an den Songs gearbeitet, auch mit anderen Leuten. Was eine gute Herausforderung war, ich muss endlich aufhören, so verdammt schüchtern zu sein.“ Man hat Kate Nash schon alle möglichen Eigenschaften angedichtet, Schüchternheit gehörte nicht dazu.
Ein orchestralerer Sound entstand so, der Girl Groups wie den Shangri-Las und Ronettes genausoviel verdankt wie Kates Zusammenarbeit mit der Punk-Band The Receeders. Am Doo-Wop der Sixties interessieren sie vor allem die Texte: „Viele Frauen dieser Zeit waren total frustriert, weil sie schablonenhaften Rollenbildern zu entsprechen hatten und ihre Träume nicht ausleben durften. Diese Songs klingen an der Oberfläche so fröhlich, enthalten aber einige der traurigsten Zeilen, die ich je gehört habe.“ Nash spricht sich in Rage, ein theatralischer, hochsympathischer Moment, in dem sie ihren bekannten Akzent überbetont und ganz bewusst einsetzt – diese Frau hätte es auch als Schauspielerin weit bringen können. In diesem Moment blinkt ihr Handy auf. Ihr Freund, Ryan Jarman von der Band The Cribs, schickt eine SMS. Aus Australien. Ist es nicht schwierig, eine Beziehung aufrecht zu erhalten, wenn beide ständig auf Tournee oder im Studio sind? „Leicht ist es nicht“, gesteht Nash. „Weil man sich immer so sehr vermisst. Aber dann ist es auch total schön, einander so gut zu verstehen, weil man genau weiß, was der andere macht.“ Als Jarman die letzte Cribs-Platte aufnahm, hielt ihm Nash den Rücken frei, bei den Aufnahmen ihrer eigenen Platte war es andersrum. Und irgendwie findet sie es auch „romantisch, jemanden zu vermissen“.
Die Frauen, mit denen wir gesprochen haben, kommen aus der Mittelschicht und betonen die Wichtigkeit ihrer Familien. Ihre Vorbilder heißen Patti Smith, Joni Mitchell, Björk und Kathleen Hanna. Irgendwann wollen sie Kinder. Sie haben mitunter Gewichtsprobleme, finden aber, dass es Wichtigeres gibt. Sie mögen asiatisches Essen und Cola light und Bier. Sie führen moderne Beziehungen und handeln ihre Verträge selber aus. Fünf ganz normale junge Frauen. Nur mit ein bisschen mehr Talent.