Boygenius im Porträt: Zusammen stärker
Die Singer-Songwriterinnen Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus haben unter dem Namen Boygenius gemeinsam emanzipatorische Lieder geschrieben
Ein schlauchendes Tourleben, jeden Tag an einem anderen Ort, heikle Pressetermine, die Erwartung eines Publikums, das nicht mehr aus vertrauter Szene sondern aus fremden Menschen besteht, Ansprüche des Labels – ein plötzlicher Erfolg bringt viele ungewohnte Situationen mit sich. Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus mussten schnell lernen, damit umzugehen. Die jungen Künstlerinnen sind plötzlich gefragt und konnten sich mit ihren Debütalben unmittelbar in der alternativen Musikszene behaupten. Ihre klugen Texte treffen auf energische Stimmen, untermalt mit sanften Gitarren. Eigentlich kein Geheimrezept in der Popkultur. Doch die den Liedern eingeschriebene Verletzlichkeit bescherte den Anfang-20-Jährigen reichlich Aufmerksamkeit – möglicherweise sogar etwas zu viel.
AmazonDeshalb ist es nicht überraschend, dass die drei immer wieder aufeinandertrafen, immer häufiger Ideen austauschten und Baker und Bridgers schließlich gemeinsam tourten. „Als wir uns kennenlernten, waren Lucy, Phoebe und ich jeweils an ähnlichen Punkten in unserem Leben und unserer musikalischen Laufbahn“, erzählt Julien Baker. „Wir hatten auch eine ähnliche Haltung zu Musik, sodass wir unmittelbar Freundinnen wurden.“ Schließlich beschlossen die drei Singer-Songwriterinnen, im November gemeinsam auf Nordamerika-Tour zu gehen.
„Es war wie in einer Therapiegruppe. Ich habe diese weibliche Energie gebraucht“
Dafür wollte das Trio zunächst eine Promo-Single aufnehmen, jede der drei brachte dazu eine Idee mit. Doch die Arbeit war so ergiebig, dass schließlich sechs Songs entstanden, die die Sängerinnen auf einer EP unter dem Namen Boygenius bündelten. Vier Tage haben die Frauen benötigt, um die Lieder in einem Studio in Los Angeles zu schreiben, aufzunehmen und eigenständig zu produzieren. „Es glich einer Therapiegruppe,“ so Bridgers in einem Interview mit „The Fader“. „Wir haben unsere gegenseitige Energie gebraucht. Ich habe diese weibliche Energie gebraucht. Ich konnte meine Meinung durchsetzen, und niemand hat mich infrage gestellt.“
Alle Songs entstanden unter weiblicher Eigenregie mit Begleitmusikerinnen, was für Dacus, Baker und Bridgers grundlegend war. Darauf bezieht sich auch der Name der Supergroup: ein ironischer Kommentar über die dominierenden Männer in der Musikindustrie, deren Gedanken meist prompt für genial gehalten würden – anders als bei Frauen, die beigebracht bekämen, Selbstkritik zu üben und sich kleinzumachen. So haben sich die drei Künstlerinnen wohl durch die erlebte weibliche Selbstbestimmung mit allen durch den Erfolg aufkommenden Schwierigkeiten arrangiert. Das Projekt ist fast schon wie ei ne Selbsthilfegruppe.
Dreifache Harmonie
Dabei scheint musikalisch zunächst alles erwartbar: Da ist die geradlinige Gitarrenmusik, angereichert mit leisen Streicherelementen. Essenziell sind aber der Gesang, das Gesungene und die Art, wie beide Elemente miteinander in Beziehung stehen: Bridgers’ Lässigkeit, Bakers Rohheit und Dacus’ Ruhe harmonieren immer wieder aufs Neue. So wie sich ihre Stimmen miteinander verweben, so ist es auch mit den verbindenden Erlebnissen und Gefühlen in den Texten.
In „Bite The Hand“ etwa beklagt das Trio mit einer erschütternden Bittersüße den Schmerz angesichts gescheiterter Beziehungen. Manchmal schreien sie die Lyrics mit einer immensen Gewalt aus, wie bei „Salt In The Wound“, der Klimax der EP. Dann versinken die Sängerinnen mit „Ketchum, ID“ in melancholischer Harmonie. Es ist eine Ballade über die in Idaho liegende Kleinstadt Ketchum, umgeben von Wald und Bergen. Doch eigentlich besingen die Frauen das Leben auf Tour und die emotionale und physische Distanz, die damit verbunden ist. Eine Erkenntnis, die alle drei auf sehr schnellem Wege gewinnen mussten und nun miteinander teilen.
Einen Monat lang sind Julien Baker, Lucy Dacus und Phoebe Bridgers zusammen auf Tour. Sie spielen die Konzerte gemeinsam, jedoch nicht miteinander – alle drei werden stattdessen jeweils mit Solo-Sets auftreten. Aber bestimmt bekommen die entstandenen Songs ihren Raum in den Konzerten. Hoffentlich ist die EP kein einmaliges Phänomen und es entstehen in diesem Zeitraum, zwischen den Shows, weitere Boygenius-Lieder.