Boy George im Interview: „Ich definiere mich nicht über Sexualität“
Heute erscheint mit „Life“ das erste Album von Culture Club seit fast 20 Jahren. ROLLING STONE traf Boy George zum Interview.
Mit Culture Club und Songs wie „Do You Really Want To Hurt Me?“ oder „Karma Chameleon“ feierte George O’Dowd alias Boy George in den frühen Achtzigern Welterfolge. Nach der Bandtrennung folgten immer wieder private Abstürze, auch die Solokarriere wollte nie so recht in Schwung kommen. Nach einem erneuten gemeinsamen Versuch Ende der 1990er gingen Culture Club (teils) wieder getrennte Wege.
AmazonSeit 2014 sind sie in Originalbesetzung zurück, spielen Konzerte, doch erst jetzt kommt mit „Life“ neue Musik von „Boy George and Culture Club“ – wie sie sich jetzt nennen. Boy George im Interview über die neue Platte, alte Denkmuster, sein jüngeres Ich – und ob er lieber Haare oder Hut trägt.
Boy George im „Entweder – Oder“-Interview:
Warum heißt die Band jetzt „Boy George und Culture Club“?
Nicht weil ich ein großes Ego habe. Es hatte mehr damit zu tun, dass sie versucht haben, Culture Club ohne mich zu machen. Und als wir zurückkamen, fragten viele: Ist George wieder in der Band? Und wir fanden, die beste Lösung war, uns „Boy George und Culture Club“ zu nennen. Und außerdem habe ich ja auch Solo-Alben veröffentlicht und wollte nicht einfach von Culture Club verschluckt werden. Ich will auch als eigenständige Person existieren.
Wie war es, wieder mit Culture Club unterwegs zu sein?
Wir haben ja schon ein paar Jahre lang wieder Konzerte gegeben, aber kein neues Album gemacht. Vor ungefähr fünf Jahren planten wir eine Welttournee, und ich meinte, ich wäre dabei – falls das bedeutet, dass wir neue Musik herausbringen. Für mich war aber klar: Falls wir eine Platte veröffentlichen, dann muss es sich richtig anfühlen. Wenn es nicht läuft, dann muss man wieder einen Schritt zurückgehen. Ich denke aber, es war die richtige Entscheidung. „Life“ ist ein wirklich gutes Album und es erzählt davon, wer wir jetzt sind.
Und wer sind Sie jetzt?
Ich bin der, der ich vorher war, mit etwas mehr Erfahrung, mit der Fähigkeit, mein eigenes Verhalten zu erkennen – ich denke, wenn man jünger ist, ist einem weniger klar, was man tut und welche Konsequenzen das hat. Das fasziniert mich auch als Songschreiber: Wir werden oft von dem zusammengehalten, was wir nicht sagen. Ich habe letzte Woche getweetet: „The truth is dying“, und ich meine das nicht in einem Fake-News-Kontext, sondern dass niemand mehr ehrlich sein will. Vor allem Musiker. Wir leben in einer Zeit von großartigen Produktionsmöglichkeiten: Viele singen und tanzen wundervoll, aber wo ist die Seele? Ich suche nach Künstlern, die wirklich etwas zu sagen haben. Und es gibt nicht viele davon.
Gibt es neue Musik, die Ihnen gefällt?
Letzte Woche habe ich nach neuer deutscher Musik gesucht, um zu sehen, was ich so verpasse. Und ich blieb an dieser Rock’n’Roll-Girlgroup Gurr hängen, die ich wirklich mag. Auch Thomas Azier oder Planningtorock. Es ist ziemlich 80er-mäßig. Wie das meiste, was ich mag, klingt es nach altem Zeug. Aber mir geht es mehr um Glaubwürdigkeit. Klingt es überzeugend? Man kann sich anziehen wie Bowie, aber ist das authentisch?
In den frühen 1980ern waren sie „der Weiße mit den Rastalocken“: Was denken Sie über die aktuelle Diskussion zu kultureller Aneignung?
Ich bin der größte Kriminelle im Bereich kulturelle Aneignung (lacht). Ich glaube, es kommt darauf an, warum man es tut – nicht, ob man es tut. Aber ich glaube daran, dass wir in einer Welt leben, in der jeder die Kultur des anderen aufsaugen sollte. Beim Thema Religion muss man vorsichtig sein, aber ich finde, in der Musik und in der Comedy sollte es weniger Regeln geben. Wenn ich daran denke, was ich durchgemacht habe als Teenager um ausdrücken zu können, wer ich bin – und jetzt wird gesagt „du kannst das nicht tragen, weil …“ oder „du kannst das nicht sagen, weil …“, dann ist das deprimierend.
Sind Sie ein Vorbild für junge Leute aus der LGBTQ-Community?
Es ist schwer für mich zu sagen, ob ich ein Vorbild für Leute bin. Je älter ich werde, desto egaler ist mir, was jemand ist. Aber ich lebe in einer Kultur, die besessen davon ist, alles einzuordnen. Ich will in einer Welt leben, in der solche Dinge egal sind. Ich definiere mich nicht über meine Sexualität.
Hat sich die Bedeutung des Namens Culture Club verändert?
Ich denke, das Politischste was man tun kann, ist man selbst zu sein, wer oder was auch immer man ist. Ich will mit Leuten kommunizieren und sie davon abbringen, vorverurteilend zu sein. Und das war eigentlich schon immer die Botschaft dieser Band. Wir sind eine multikulturelle Gruppe mit verschiedenen sexuellen Orientierungen und verschiedenen Hautfarben – und die Botschaft ist eigentlich immer noch die gleiche. Aber jetzt bin ich mir all dem viel bewusster. Mit 19 war ich derart mit meiner eigenen Selbstgefälligkeit beschäftigt, dass ich nicht über den sozialen Einfluss von dem, was wir tun, nachgedacht habe. Jetzt denke ich definitiv mehr darüber nach.
Wie nehmen Sie die heutige Zeit in politischer Hinsicht wahr?
Die Leute sind wütend. Ich bin mir sicher, es gibt Menschen, die gute Gründe haben, wütend zu sein, aber die einzigen, die das raushängen lassen, sind rechtsorientierte Leute. Als Brite bin ich weder Demokrat noch Republikaner, ich bin überzeugter Sozialist. In Amerika ist ein Großteil unseres Publikums republikanisch. Ich hatte das Gefühl, ich muss eine Alternative anbieten und habe deshalb viel über Liebe, Kommunikation und Spiritualität geredet. Ich habe keine Lösung. Aber mit Musik kann man definitiv einen Weg anbieten, dem Ganzen zu entkommen.
Wovon erzählt das neue Album „Life“?
Die Songs sind mehr wie Fragen. Als ich 19 war, wollte ich Antworten. Mit 57 will ich keine Antworten mehr, weil ich denke, dass es die Antworten nicht gibt. Als ich jung war, wollte ich, dass alles Sinn macht, heute mache ich mir darüber keine Sorgen mehr. Was ich in den Songs singe – bin das ich, bin ich es nicht – muss keinen Sinn mehr machen. Ich benutze meine Songs nicht mehr als eine Art Tagebuch, wie ich es früher tat. Aber es ist immer bisschen was von mir darin.