Bowies längster Tag
Zehn Jahre lang war er verschwunden. David Bowie lebte abgeschottet in New York, Musik interessierte ihn kaum noch. Jetzt ist er zurück. Mit einem neuen Album, das nach letztem Vorhang klingt. Spurensuche im Leben des grossen Popkünstlers
Er war übertrieben freundlich. Der Händedruck, die Gags, das Onkel-aus-Amerika-Grinsen, alles an David Bowie wirkte leicht angestrengt. Zumindest angestrengter, als man es erwartet hätte, damals, im Juni 2003, vor fast zehn Jahren. Als er im New Yorker Thompson Hotel zum bisher letzten Mal in seinem Leben mit der deutschen Presse sprach.
Ein paar Straßen weiter, in den Looking Glass Studios am Broadway, war der alte Freund und Produzent Tony Visconti noch dabei, die elf Songs des neuen Albums „Reality“ fertigzustellen, während Bowie schon die dazu passenden Interviews gab. Blaue Weintrauben naschte, das R in „terrific“ rollte. Die unbekannte neue Band TV On The Radio lobte, die Raveonettes rügte, für ihren allzu einfältigen Beatnik-Pastiche („Mehr Stil als Substanz, very nineties!“). Zum Spaß setzte er zwischendurch die Kappe auf, die er draußen in Manhattan als Verkleidung benutzte. Merkte an, dass man Christopher Walken hier ja viel öfter über den Weg laufe als Robert De Niro. Und dann sagte er etwas, das vielleicht indirekt erklärt, woher der seltsame Überschwang kam, der das Mysterium Bowie unter der Hotelzimmerbeleuchtung fast ein wenig gewöhnlich wirken ließ.
„Was mich im Umgang mit den großen Plattenfirmen immer mehr frustriert hat“, sagte er, „waren die strikten Abverkaufspläne, die einem vorschreiben, frühestens alle 18 oder 24 Monate ein neues Album zu machen. Irgendwann wurde das untragbar für mich. Weil ich einfach viel zu viel schreibe.“ Also, heute in einem Jahr das nächste Interview, zur nächsten Platte? „Wenn es nach mir geht, gern!“ Bowie lachte gellend. „Wie in den Siebzigern!“
Was der kleine Psychologe sagt: Der Mann war einfach saufroh, mit „Reality“ endlich fertig zu sein. Und auf Tournee gehen zu dürfen. Diese voreiligen Am-liebsten-würde-ich-sofort-die-nächste-Platte-machen-Bekenntnisse hat man auch schon von anderen komplizierten Leuten wie Scott Walker oder Kate Bush gehört. So was sagt man leichtsinnig dahin, wenn nach einer Produktion der Druck abfällt. Und dann kommt nie was.
Den historischen Witz braucht man jetzt, wo die Bowie-Neuigkeiten längst in der Welt sind, nicht mehr zu erklären. Ein Jahr nach dem Termin in New York veröffentlichte er natürlich kein neues Album. Auch nicht 2006, nach drei Jahren, der bis dahin statistisch längsten Periode, die je zwischen zwei Bowie-Platten gelegen hatte. Es blieb still. Viele sorgten sich um ihn. Die gelegentlichen Geburtstagsgrüße lasen sich schon wie Nachrufe. Umso gewaltiger schäumte die Freude, als die Nachricht kam: Anfang März 2013 wird „The Next Day“ erscheinen, sein 24. Soloalbum, endlich. Nach einer Pause, die fast so lang war wie die kompletten Siebziger, in denen Bowie mehrfach die gesamte Popmusik um die eigene Achse gezwirbelt, tiefgekühlt, aufgetaut, geschlechtsumgewandelt, rot, neon und schwarz gefärbt hat.
Kriegt er das mit 66 noch mal hin, in der Post-Postmoderne? Hat er dafür einfach Kraft gesammelt? Man hofft es ja. Wer, wenn nicht der gute, alte Bowie? So gesehen wird schon der erste Durchlauf von „The Next Day“ enttäuschen: Nein, ein allzu großer Schritt weg von der Manier seiner letzten aktiven Rockjahre ist das nicht. Kein poetischer dritter Weg. Keine neue Galaxie. Wäre auch ein Wunder, solange er immer dieselben Gelegenheitsmusiker für sich spielen lässt. Und trotzdem ist da etwas. Etwas, das man so noch nicht kannte von ihm. Ein neuer, sympathischer Gesichtszug. Aber dazu später.
Auf die Frage, was er eigentlich die ganze Zeit gemacht hat, gibt die Musik allerdings keine Antwort. Falls Bowie noch im Juni 2003 ernsthaft geglaubt haben sollte, er könne seine Kreativität kaum zügeln – was ist da bloß passiert?
Leider wird er uns das Rätsel nicht lösen. Bowie hat angekündigt (immerhin, eine Botschaft!), zu „The Next Day“ keinerlei Interviews zu geben, warum auch immer. Die Geheimnistuerei brachte es mit sich, dass nicht mal die Bandmitglieder, die wir Ende Januar für diesen Artikel interviewten, das fertige Album kannten. Einige waren sich beim Durchlesen der Vorab-Tracklist sogar unsicher, bei welchen Stücken sie überhaupt mitgespielt hatten. Weil Bowie oft noch in letzter Minute Titel und Texte verändert.
Gail Ann Dorsey zum Beispiel, die glatzköpfige Bassistin aus Philadelphia. Seit Herbst 1995 gehört sie zu Bowies Liveband, spielt und singt jetzt auch auf dem neuen Album. Am Tag vor unserem Interview ist sie in New York unterwegs gewesen, musste mit ihrer Hündin zum Tierarzt, hat vorher noch schnell etwas im Büro von Bowies Management vorbeigebracht. Da lief tatsächlich die neue Platte, im Hintergrund. „Und ich gleich:, Stopp, Moment, lasst mich mal hören!'“ Zwei Songs erwischte sie. Einer kam ihr bekannt vor. Der andere nicht. „Wir müssen uns wohl alle gedulden, bis das Ding rauskommt“, seufzt Dorsey, aber nachsichtig,
Ab und zu habe sie mit Bowie gemailt in den letzten acht Jahren. Weihnachten. Geburtstage. Als Alexander McQueen starb. Einmal, als sie sich ins Texteschreiben vertiefen wollte und er ihr das Buch „Lyrics“ von Oscar Hammerstein empfahl. Auch die Frage, ob sie Zeit für Plattenaufnahmen habe, lag eines Tages, im Frühjahr 2011, plötzlich in ihrer Mailbox. Bei allen war es so: Bowie mailte. Und er präsentierte auch gleich die Bedingung: absolutes Stillschweigen, um jeden Preis.
„Ich kann ihn verstehen“, sagt Dorsey. „Die Leute hätten ihn belauert, ständig danach gefragt, ihn unter Druck gesetzt. Und hätte er sich am Ende entschieden, das Material nicht zu veröffentlichen, hätte es geheißen:, Bowies Platte muss ja ganz schön scheiße geworden sein, wenn er sie jetzt zurückhält.'“ Keiner verriet etwas. Einige sagen sogar, sie hätten gar nicht mehr daran gedacht, weil nach den Studiotagen so lange nichts passierte. Akkordzettel, Textblätter, Demo-CDs wurden jeden Abend eingesammelt, nichts durften sie mitnehmen. Im März 2011 war Bowies unveröffentlichtes Album „Toy“ im Internet aufgetaucht, aus indiskreter Quelle. Darüber hatte er sich wahnsinnig geärgert.
Deshalb also die Vorsicht, die fast psychotische Vertraulichkeit. Die eine Platte ja vielleicht sogar ein bisschen anders klingen lässt, als wenn sie im halböffentlichen Raum entsteht, in den ständig jemand rein- und rausstiefelt. So wie jede Limitierung, die man sich selbst auferlegt, eine kreative Hilfe sein kann. Was ausgerechnet Bowie am besten bewiesen hat, mit seinen Mauerberlin-Platten.
Bei den Sessions zu den Nullerjahre-Alben, „Heathen“ und „Reality“, wäre man wiederum gerne dabei gewesen. Lustige Musikantenstadl-Partys müssen das gewesen sein, wenn man nach dem geht, was erzählt wird. Keiner schaute auf die Uhr, weil Tony Visconti in den Looking Glass Studios ein Freund des Hauses war, praktisch seinen eigenen Schlüssel hatte. Bowie hatte gerade die britische Comedy entdeckt, ließ sich VHS-Kassetten aus England schicken, unterhielt die Meute damit. „Bei den Aufnahmen zu, Reality‘ spielte er uns jeden Tag eine Folge von, The Office‘ vor“, erzählt Schlagzeuger Sterling Campbell wehmütig. „Ich freute mich immer schon auf die Mittagspause. Wir haben uns nassgemacht vor Lachen.“
Aber das Studio gibt es nicht mehr. 2009 machte es zu, für „The Next Day“ mussten ganz regulär Sessionzeiten gebucht werden, im Magic Shop in Downtown Manhattan, zwei Jahre lang immer on und off. „Der Zeitrahmen, an den wir uns zu halten hatten, war eher streng“, erinnert sich Toningenieur Mario McNulty, auch ein langjähriger Vertrauter. „Fernsehen war diesmal nicht drin.“
Da ist zwar immer viel Autosuggestion dabei, aber: Man glaubt es der Platte tatsächlich anzuhören. Die leichte Hetze, die beengten Umstände müssen Idealbedingungen gewesen sein für die klaustrophobischen, für Bowie-Verhältnisse stockdunklen Stücke wie „Love Is Lost“ oder „If You Can See Me“. Oder für den Titelsong, den er aus der Perspektive eines gestürzten Tyrannen zu singen scheint, dessen Körper schon am Galgen baumelt.
Was natürlich nicht heißt, dass Bowie in Grabeslaune war. Die ganzen Sorgen, die wir uns gemacht haben, nach seinem Herzanfall im Juni 2004 beim Hurricane Festival in Scheeßel, der nach 112 Konzerten zum Abbruch der Tour führte und seine seltsame New-York-Einsiedelei einleitete: Sie waren völlig unbegründet, wenn man den vielen Zeugen glaubt. Hat er denn wenigstens seinen Musikern erzählt, warum es so unfassbar lange gedauert hat mit diesen Songs, was hinter ihnen steckt? „Ich frage David nie nach solchen Sachen“, sagt Earl Slick, der schon 1974 bei „Diamond Dogs“ dabei war. „In der Regel bin ich glücklich und zufrieden, wenn ich meine Gitarre spielen kann. Mehr will ich gar nicht wissen.“ Die Session-Cracks sind keine große Hilfe für die Bowie-Grundlagenforschung. Vielleicht genießen sie ja das Rätselhafte. Vielleicht fürchten sie den Meister auch ein wenig. (Tony Visconti dürfte die Ausnahme sein, er gab zumindest dem ROLLING STONE ein ausführliches Interview.)
Eines muss trotzdem noch gesagt werden, obwohl es wie eine mutwillige Spielverderberei klingt, und obwohl es natürlich viel schöner wäre, sich einfach treiben zu lassen mit der 2013er-Online-Hysterie und dem gewaltigen Rascheln, das die Album-Ankündigung ausgelöst hat: Es ist lange her, dass David Bowie maßgebliche Musik veröffentlicht hat. Worauf genau freuen sich die Leute eigentlich so? Wann haben wir das letzte Mal freiwillig zu einem neuen Bowie-Song getanzt? 1986 vielleicht, wenn wir da schon laufen konnten, zu „Absolute Beginners“.
Die Faustregel: In den Siebzigern war Bowie gut, aber es ging ihm schlecht. In den Achtzigern ging es ihm besser, dafür wurde die Musik schlecht, und das weiß er auch. In den 90er- und Nullerjahren perfektionierte er dann das Private, heiratete seine bis heute amtierende Ehefrau, zog ins schnucklige Manhattan, wurde noch einmal Vater, hörte zu rauchen auf. Blieb zwar präsent und künstlerisch unberechenbar, ließ die (zu großen Teilen schon noch ziemlich guten) Ausflüge in Drum’n’Bass und Serienkiller-Konzeptmusik aber seltsam beliebig aussehen. Seltsam unverbindlich, haltungslos.
Die wenigsten können wohl genau zuordnen, welches der berühmten, historischen Bowie-Gesichter – der Karottenkopf, der Pirat, der Mann mit dem Blitz im Gesicht, der blasse Flaneur, der böse Clown – zu welcher Karrierephase gehört. Aber bessere Masken, stärkere Zeichen hat eben kein Popkünstler geschaffen. Die Strahlkraft ist geblieben. Exakt deshalb wirkt eine Bowie-Ankündigung, selbst die banalste, immer noch wie eine Verheißung. Als würde er nur endlich, endlich einlösen, was er uns als Christus vom Mars so oft versprochen hat: die Pop-Utopie, die keiner sonst so grandios in eine Science-Fiction-Erzählung übersetzt hat.
Und genau darum hätten wir 2003 auch eisern zurückfragen sollen: Wäre es nicht mal Zeit, den Akku aufzuladen, rechts oder links ranzufahren und zurückzublicken? Wenn Bowie damals tatsächlich so viele Songs schrieb, dass er mit dem Plattenveröffentlichen kaum mehr nachkam – wieso füllte er die letzten zwei Alben „Heathen“ und „Reality“ dann mit mittelmäßigen Versionen fremder Stücke auf, mit Songs von Jonathan Richman, den Pixies, George Harrison?
Vielleicht war die Muse ja schon damals weg. Vielleicht hätte Bowie seine Maxipause viel früher einlegen müssen.
„Ich war ein wenig schockiert, als er die Arbeit niederlegte“, sagt Tony Oursler rückblickend. Der 55-jährige New Yorker Videokünstler, ein freundlicher, sehr kluger Mann, lernte Bowie Mitte der Neunziger kennen, ab und zu arbeiteten sie zusammen, vor allem wurden sie Freunde, gingen zusammen ins Museum, tranken Tee. „Ich hatte ihn eigentlich als Workaholic kennengelernt, als Macher, als Geistesverwandten in dieser Hinsicht.“ Jahrelang habe er regelmäßig gefragt, ob Bowie nicht mal wieder an Musik oder Gedichten arbeiten würde. Immer wich der Freund aus. „Aber wie könnte man bei einem Künstler von Davids Statur auch über Motivationen spekulieren?“, fragt Oursler rhetorisch, fast ein bisschen empört. „Wenn einer wie er eine Pause macht, dann müssen die Gründe dafür streng persönlich sein.“
Vielleicht ja doch die Herzsache von 2004. Die Lebensgefahr. Da können die Ärzte und Therapeuten noch so exzellent sein: Es dürfte niemanden wundern, wenn ein solcher Vorfall einen – zumindest kleinen – Riss in der Biografie hinterlässt. Wenn dieser Riss zum Nachdenken und Resümieren anregt. Auch bei einem wie Bowie, der stets und stolz verkündet hatte, er blicke immer nur nach vorn, er habe kein Interesse an der Vergangenheit, an Nostalgie und irgendwelchen weinenden Augen.
Einmal hat er trotzdem zurückgeblickt. 1980, als er mit Tony Visconti das Album „Scary Monsters (and Super Creeps)“ aufnahm, gerade erst der schlimmsten Drogenhöllenphase seines Lebens entkommen, in der Schweiz gelandet, von der legendären Angie geschieden. Man braucht keine Fantasie, um im Song „Ashes To Ashes“ eine Art Lebensbeichte zu erkennen, die auf koksweißen Streifen in die Vergangenheit führt, über Berlin und das Filmset von „Der Mann, der vom Himmel fiel“ bis zu seinem Hippie-Alter-Ego von 1969, dem Astronauten aus dem ersten Hit „Space Oddity“. Der im berühmten, immer noch gänsehauttreibenden „Ashes To Ashes“-Video als Verlorener in der Gummizelle sitzt. Schnell schwang sich Bowie anschließend wieder ins Jetzt, ins kanariengelbe 80er-Hemd. Umso stärker blieb dieser rare Augenblick hängen, in dem er sich öffentlich hinterfragte.
Vielleicht ist das ja der neue Bowie. Einer, der plötzlich einen Sinn, eine Notwendigkeit im Zurückblicken sieht. Nicht nur, weil sein Album „Toy“ – das ja nie veröffentlicht werden sollte – mehrere Neuaufnahmen ganz alter Songs enthält. Nicht nur, weil Bowie im Juni 2004, drei Wochen vor dem Herzanfall, bei einem Konzert in New Jersey seine allererste Single „Liza Jane“ ins Programm nahm, die an dem Tag ihr 40. Jubiläum feierte. Im Jahr 2013 steckt „The Next Day“ in einer Hülle, die das Motiv des „Heroes“-Albums abwandelt, expliziter hätte er den Bogen nicht schlagen können. Und die Frage nicht stellen können, die Bowie ganz sicher ernst meint: „Where Are We Now?“ Die Vorab-Single, eine Art Update zu „Ashes To Ashes“, in dem ein Mann in der eigenen Vergangenheit gestrandet ist, durch sie hindurchflaniert und irrt, über den Potsdamer Platz und die Bösebrücke in Berlin. Die Brücke, vor der sich am Abend des 9. November 1989 die Ostberliner versammelten, um zum ersten Mal nach drüben zu gehen.
Tony Ourslers Video zu „Where Are We Now?“ war am Morgen des 8. Januar 2013, an Bowies 66. Geburtstag, für ein paar Millionen Interessierte das erste, freudeschäumende, aber auch bizarre Wiedersehen mit dem Sänger, der sein Gesicht zur Abwechslung nicht maskierte, sondern von Oursler auf eine der typischen kleinen Puppen projizieren ließ, die der Künstler gern verwendet. „Diese Doppelschicht steckt ja schon im Song“, sagt Oursler. „Diese Art, wie sich hier auf mysteriöse Weise zwei Arten von Geschichte miteinander verschränken, die Lebensgeschichte des Erzählers und die Historie des Kalten Krieges. David ist sich dieser feinen Grenze sehr bewusst, auf der sich Theorie und Intuition begegnen. Die ein Künstler überquert, um sein Publikum produktiv in den Schaffensprozess miteinzubeziehen. Da, wo die wahre Kunst entsteht.“
Genau das macht auch den Rest von „The Next Day“ besonders, an den vielen schönen Stellen, an denen der Dampfhammer von Bowies derzeitiger Rock-Inkarnation vorbeihaut. Wenn die Schatten der Vergangenheit durchs Bild und durch den Lärm huschen, wie Projektionen, niemals greifbar, nie als klassische Nostalgie festzunageln. Das Gespenst von Ziggy Stardust, das den herrlichen Marmeladen-Glam von „Valentine’s Day“ durchschreitet. Die Andeutung der lüsternen Hyde-Park-Psychedelia in „I’d Rather Be High“. Die Doo-Wop-Stimmen, die Stücke wie „Dancing Out In Space“ („Girl, you move like water/ You got stars above your head“) und „How Does The Grass Grow“ wie aktuelle Dias auf eine sehr alte Leinwand werfen, die noch aus Bowies eigener Kindheit stammt, in der er hinten im Garten saß und „My Boy Lollipop“ sang.
Dass diese ganze komische Reise dennoch in die Dunkelheit des Jetzt führt, bis zum „next day“ eben, merkt man spätestens, wenn das nächste Gitarren-Schlachterriff dreinschlägt. Was auch immer David Bowie in den vergangenen zehn Jahren über seine eigene Geschichte, seine Vergangenheit, seine Wurzeln reflektiert hat – es hat ihn nicht etwa zu dem trotzigen Fehlschluss geführt, die Zukunft gehöre ihm. Ihm, dem Magier aus der Vorzeit, der genau weiß, dass er nur das alte, klassische Handwerk wirklich gut beherrscht. Der in den vergangenen Jahren vor allem als Mentor und guter Geist wirkte, für neue Leute wie Arcade Fire, Interpol, die besagten TV On The Radio, den Komiker Ricky Gervais und die singende Schauspielerin Scarlett Johansson. Irgendwie sogar für den eigenen Sohn Zowie, heute Duncan Jones, der – ha ha, völlig unabsichtlich, natürlich – aus „Space Oddity“ seinen Debütfilm „Moon“ machte.
Bowie, der Gandalf des Pop, der plötzlich mitten in der Nacht an die Tür klopft, völlig überraschend, und eine neue, kleine Botschaft hat. Dieses Mal, bei „The Next Day“, heißt sie: Die zehn Jahre waren nicht umsonst. Er hat sie genutzt, um sich selbst zu befragen, wo es schon kein anderer tut. Um schlau zu werden aus der eigenen Geschichte. Und, ja, ein bisschen sentimental.
Bleibt zum Schluss nur noch ein Anruf bei George Underwood in East Sussex, dem 66-jährigen Maler und Illustrator, einem lustigen Mann, den Bowie selbst als seinen ältesten Freund bezeichnet. Der mit dem Sänger, der damals noch David Jones hieß, im Londoner Stadtteil Bromley auf die Schule ging, ihn auf der ersten Single „Liza Jane“ mit der Gitarre begleitete, das Backcover für das „Space Oddity“-Album illustrierte, 1972 auf den wilden Tourneen dabei war und so weiter.
Es dauert nicht lang, bis Underwood Geschichten von ganz früher auspackt. Über Bryan Gill, den tollsten Halbstarken von der Bromley Grammar School, den Bowie als „Gilly“ im Song „Ziggy Stardust“ verewigte. Die Episode, als die Mütter Jones und Underwood zufällig beiden Jungs den gleichen Pulli strickten, blauweiß gemustert. Und die zwei Teenager anschließend wie uniformierte, gefährliche Droogs im Partnerlook die High Street rauf- und runterpantherten. Oder damals, als sie diesen Mädchen in falschem amerikanischen Akzent weismachen konnten, sie arbeiteten für die Everly Brothers. Was für Zeiten.
Und jetzt, zehn Jahre Plattenpause? „Das soll lang sein?“, fragt George Underwood zurück. „Nicht wirklich, wenn man älter wird. Manche Sachen dauern dann halt. Vielleicht war er einfach ein bisschen faul.“
Telefoniert haben sie länger nicht mehr, aber per E-Mail sind die zwei noch in Kontakt. In einer dieser Unterhaltungen hatte Underwood tatsächlich mal gefragt, wie es denn mit der Musik aussehe. Vor einem knappen Jahr war das, zufällig in der heißen, streng geheimen Phase von „The Next Day“. Die Antwort, die David Bowie seinem alten Freund schrieb, war kurz. Aber aussagekräftig. „I’m writing simple things.“
Einfache Sachen. Dass die oft am schwersten fallen, weiß ja jeder.
Changes
Bowies Frisuren
Kein anderer Popstar hat so bewusst und radikal sein Äußeres immer wieder verändert und eingesetzt, Kostüme, Makeup und Frisuren als künstlerischen Ausdruck verstanden wie David Bowie. Unsere Grafik zeigt seine Haargestaltung von 1965 bis heute.
1965
Davy Jones / The Manish Boys
1969
„Space Oddity“
1971
„Hunky Dory“
1972
„Ziggy Stardust“
1980
„Scary Monsters“
1983
„Let’s Dance“
1991
Tin Machine
2002
„Heathen“
2013
„The Next Day“