BOSS HOSS

Sobald sie auf der Leinwand erscheint, gehört der Film ihr. Ohne Kompromisse einzugehen, ist NINA HOSS unser größter Schauspielstar geworden. Im Herbst hat sie gleich zwei große Kino-Auftritte, einen an der Seite von Philip Seymour Hoffman

Der Kuss ist nicht echt. Der blasse, bullige Günther Bachmann und die kühle, schöne Erna Frey täuschen ihn nur vor, um nicht zu „verbrennen“, der beschatteten Person ihre Identität preiszugeben. So scheint es jedenfalls. Und doch ist dies der magischste Moment, den wir in diesem Jahr auf einer Kinoleinwand sehen können. Weil sich hier eine Spannung entlädt, weil all die Gesten, die Blicke, die gesprochenen und ungesprochenen Worte, die die beiden zuvor austauschten, plötzlich einen Sinn ergeben.

Weil dieser Augenblick ein Geheimnis preisgibt. Weil wir, ohne es zu wissen, die ganze Zeit darauf gewartet haben. Weil hier zwei der begabtesten Schauspieler unserer Zeit zu sehen sind. Er, Philip Seymour Hoffman, starb im Februar dieses Jahres an einer Überdosis Heroin. Sie, Nina Hoss, bringt gerade unseren Fotografen mit Faxen zum Lachen. Ihre Rolle im dritten Spielfilm des niederländischen Fotografen und Musikvideo-Regisseurs Anton Corbijn, der Adaption des John-le-Carré-Romans „A Most Wanted Man“ (deutsch „Marionetten“), ist vergleichsweise klein, doch sie hat mit ihrem unaufdringlichen, überlegten und wirkungsvollen Spiel einen großen Anteil, dass es vor allem die Beziehung zwischen Günther und Erna ist, über die jetzt alle reden (werden).

Der Film spielt in Hamburg, der Stadt, in der Mohammed Atta lebte, bevor er den American Airlines Flug 11 am 11. September 2001 in den Nordturm des World Trade Centers steuerte. Seitdem steht die islamische Gemeinde der Hansestadt unter Beobachtung. Als ein mysteriöser Fremder dort Zuflucht sucht und bei einer britischen Bank das illegal erworbene Vermögen seines Vaters einfordert, nimmt der Leiter der Spionageeinheit, Günther, seine Spur auf. Seine unkonventionellen Methoden haben ihm schon einigen Ärger eingebracht, doch seine Assistentin und Vertraute, Erna, hält zu ihm.

In den internationalen Besprechungen wird Nina Hoss gefeiert, John le Carré nannte sie kürzlich in der „New York Times“ „magnificent“, in Frankreich liegen ihr eh alle zu Füßen. Dort lösten Filme wie „Yella“ und „Barbara“, die sie mit dem Berliner Regisseur Christian Petzold drehte, Begeisterungsstürme aus. Und das wird auch bei der neuen Zusammenarbeit, „Phoenix“, die Ende September ins Kino kommt, sicher nicht anders sein. Ihr Auftritt in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Lillian Hellmans „Die kleinen Füchse“ geriet in Paris genauso zum Triumph wie in Berlin. Das war nach 15 Jahren im Ensemble des Deutschen Theaters ihre erste Produktion an der Schaubühne. Der Wechsel an das hippe Haus war in Berlin ein fast so großes Thema wie in Dortmund der Transfer von Mario Götze zu den Bayern. Kürzlich stand Nina Hoss zudem beim Festival in Glastonbury auf der Bühne. Mit den Manic Street Preachers sang sie – wie schon auf dem Album „Futurology“ – „Europa geht durch mich“ und zeigte dabei, dass sie auch größere Rockstargesten durchaus beherrscht.

Nina Hoss ist unser größter Schauspielstar. Und das, obwohl sie gemeinhin als kühl und kontrolliert, ernst und abweisend gilt – weil sie in den Rollen oft auf den ersten Blick so erscheint, weil ihre Figuren zu komplex und geheimnisvoll sind, um sie mit der narzisstischen Aufdringlichkeit auszufüllen, die hierzulande einen Star macht. Vieles passiert zwischen den Zeilen, im Andeuten und Weglassen.

Der französische Filmpoet Jean Cocteau hat geschrieben: „Die Frau ist geheimnisvoller als der Mann, und der Kinematograph lüftet die Geheimnisse.“ Nina Hoss gibt ihr Geheimnis vor der Kamera nie ganz preis. Auf dem Dach eines Berliner Hotels ist sie dagegen nahbar und offen, unkompliziert, aber auch bestimmt. Der Wind pfeift und dunkle Wolken ziehen auf. Ein Gewitter scheint im Anzug. Doch in den nächsten 40 Minuten rollt kein Donner, zuckt kein Blitz. Das wären auch allzu billige Effekte.

Wie war’s in Glastonbury?

Ganz großartig. Ein Kindheitstraum, mal auf so einer großen Bühne zu stehen und zu rocken. Das ganze Festival war unfassbar, weil die Stimmung dort unglaublich lebendig, fröhlich und liebenswert war – gar nicht so, wie man das vielleicht bei Engländern vermuten würde, dass da nur gesoffen wird. (Lacht) Einige Menschen hatten Blumen im Haar, und alle waren den Bands sehr zugewandt – es war unglaublich freudvoll. Deswegen hatte ich dann auch nicht mehr ganz so große Manschetten, auf die Bühne zu gehen. Ich habe natürlich nicht zum ersten Mal auf einer Bühne gesungen, aber in dem Kontext war es doch was anderes.

Haben Sie das wie eine Rolle angelegt? Sängerin in einer Rockband?

Eine Rolle vielleicht nicht, aber man fragt sich schon: „Wer bin ich?“ Das geht ins Philosophische. Ich habe mich dann auch nach anderen Schauspielerinnen umgeschaut, die irgendwann angefangen haben zu singen. Und ich habe festgestellt, dass es mir am besten gefällt, wenn man gar nicht so tut, als ob man das alles beherrscht. Wenn man unsicher ist, dann ist man eben kurz unsicher. So ging es mir bei unserem ersten gemeinsamen Konzert in Berlin. Ich dachte, ich setze mich nicht unter Druck und versuche nicht, eine Beyoncé auf die Bühne zu stellen. (Lacht) Es ist auch, ehrlich gesagt, ziemlich schwierig, innerhalb von drei Minuten etwas zu etablieren. Da hat man gar keine Chance – man muss einfach rausgehen. In Glastonbury habe ich nur gedacht: „Knall das Ding raus!“ Dadurch hat es auch diese Härte, dieses Deutsche, was gefragt war. Und es hat mir Spaß gemacht, damit zu spielen.

Ursprünglich wollten Sie mal Opernsängerin werden, oder?

Ja. Ich habe eine Ausbildung gemacht. Ich habe schon immer wahnsinnig viel gesungen – in meinem Kinderzimmer, mit Flasche als Mikro. Ich habe meine Eltern wohl so malträtiert, dass meine Mutter irgendwann gesagt hat: „Willste nicht mal Gesangsunterricht nehmen?“

Und warum ausgerechnet Oper?

Ich habe mit 15 Maria Callas gehört, und die hat mich einfach umgehauen – diese Kraft, diese Leidenschaft und dieses unfassbare Können. Dabei habe ich festgestellt, dass es nicht in erster Linie darauf ankommt, wie schön etwas klingt, sondern darauf, das zu vertreten, was man sagen will und es in den Gesang hineinzutragen. Das hat mich so beeindruckt, dass ich dachte: „Vielleicht kann ich das auch.“ So einfach ist das mit 15.

Hat Sie das Tragische und Divenhafte der Callas fasziniert?

Nein, das habe ich zunächst gar nicht wahrgenommen. Ich fand einfach, dass sie etwas zu sagen hatte. Und was sie mit ihrer Stimme gemacht hat, ist unerreicht. Später im Theater hat es mir sehr geholfen, ihre Sachen zu hören, weil sie ein Ansporn waren, alles zu geben, immer unter Hochspannung zu sein. Es hat mich beeindruckt, dass sich jemand so sehr einer Sache verschreibt. So kam ich auf den Operngesang. Von der Oper bin ich dann später abgekommen, weil mich die Rezitative genervt haben, aber das Singen habe ich nicht aufgegeben.

Sie haben in Robert Wilsons Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“ am Berliner Ensemble gespielt und gesungen. Die Ästhetik von Wilson – das überbordend Visuelle – kriege ich in meinem Kopf mit Ihrem sehr ökonomischen Spiel nicht zusammen.

Das hat immer mit dem Umfeld zu tun und mit dem, was von einem gefordert wird. Bei Christian Petzold kann ich natürlich nicht spielen wie auf der Theaterbühne. Daher ist es für mich kein Widerspruch, mit Wilson zu arbeiten. Es hat mich, im Gegenteil, sehr interessiert, von einer Äußerlichkeit zum Inneren zu kommen. Das ist einfach eine andere Herangehensweise, und die hat er durchdrungen.

Anton Corbijn kommt ja als Fotograf auch vom Visuellen. Merkt man das bei der Arbeit?

„A Most Wanted Man“ ist ja eine ziemlich geradlinige Erzählung, die ästhetisch nichts von seinen Musikvideos hat. Er hat konkret an Dialogen gearbeitet. Er hat sich eher von innen angenähert. Als Fotograf weiß er aber sehr gut, wie man etwas aus der Person, die einem gegenübersteht, herausbekommt. Und das probiert er mit viel Liebe und Zugewandtheit. Das hat mir sehr gut gefallen. Wenn man mit eher visuell veranlagten Menschen arbeitet, hat man ja oft das Problem, dass sie strikt ihrer Vision folgen und verzweifeln, wenn es dann nicht so aussieht, wie sie sich das vorstellen. Bei Anton war das anders – eher schwungvoll leicht. Gerade auch in der Kombination mit Philip Seymour Hoffman, der ja eine sehr ernste Rolle spielt und trotzdem sehr viel gelacht hat.

Ich finde es sehr beeindruckend, wie zwischen Ihren beiden Figuren in wenigen Szenen Intimität entsteht. Arbeitet man an so einer Beziehung auch, wenn die Kamera nicht läuft?

Als Philip und ich uns das erste Mal trafen, hat er mich natürlich erst mal abgecheckt. Wir saßen im Auto und haben über Theater gesprochen. Da hatten wir sofort eine gemeinsame Ebene gefunden. Das war ein großes Glück. Ich habe ihm dann auch erzählt, wie ich meine Figur sehe. In der Romanvorlage ist sie weitaus ausführlicher beschrieben als im Drehbuch. Sie ist dort eine sehr eigenständige, unabhängige Person, die ihren Job aus Überzeugung macht, weil sie an Günthers unkonventionelle Methoden glaubt. Sie hält ihm quasi den Rücken frei. Die beiden gehen sehr vertraut miteinander um, und ich habe gehofft, dass unsere Figuren eine solche Beziehung miteinander haben könnten, dass wir wie so ein altes Ehepaar sind, mit einer großen Zuneigung füreinander sind, obwohl wir nie zusammen waren.

Wie hat er reagiert?

Er hat das auch so gesehen und sich am Set dafür eingesetzt, dass wir mehr interagieren können, als es im Drehbuch vorgesehen war. Dann hat er etwa gesagt: „Lass doch Nina den Satz sagen, ich brauche den nicht.“ Das hätte ich in dem Fall nicht selber sagen können, das wäre eitel rübergekommen, aber ich fand’s für unsere Geschichte richtig, weil wir dadurch besser etablieren konnten, dass wir ein Team sind. Ich war ihm sehr dankbar dafür.

Hängt man nach Drehschluss abends noch zusammen ab?

Während des Drehs nicht so wirklich, aber am Wochenende ist Philip öfter mal nach Berlin gekommen. Und zwei Mal waren wir alle zusammen unterwegs in Daniels (Brühl, der ebenfalls in „A Most Wanted Man“ spielt -Red.) Bar, Raval. Er war einfach ein großartiger Mensch – vollkommen unprätentiös, sehr an seiner Arbeit dran. Wir haben viel über unsere Figuren gesprochen, aber auch über Politik und was gerade so in den USA abging – tolle Abende waren das. Ich habe ihm nicht angemerkt, dass irgendwas nicht stimmte.

Hatten Sie nach den Dreharbeiten im Herbst 2012 noch Kontakt?

Wir haben uns wirklich gut verstanden, und ich habe ihn in New York noch mal getroffen. Wir sind Pizza essen gegangen. Er kam mit dem Fahrrad angeradelt. Und dann hatte ich noch mal Kontakt mit ihm, als die Berliner Schule eine Retrospektive im MoMA hatte, das war im Dezember vergangenen Jahres. Ich habe nur zwei Filme vorgestellt und bin dann gleich wieder weg. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich bei ihm melden sollte. Ich dachte, vielleicht weiß er gar nicht mehr, wer ich bin. Aber ich habe ihm eine SMS geschrieben: „Ich war hier, bin jetzt aber auf dem Weg zum Flughafen. Vielleicht können wir uns ja das nächste Mal sehen.“ Und er hat sofort ganz entzückend zurück geschrieben. Ich bin so froh, dass ich das gemacht habe. Auch diese Stars sind ja ganz normale Menschen (lacht) und freuen sich, wenn man an sie denkt und Hallo sagt.

Die Regisseure der sogenannten Berliner Schule erzählen mit Stilwillen vom Nichts – von Nicht-Identitäten und Nicht-Orten, vom Alltag und von der Routine. Ihr bekanntester Vertreter ist Christian Petzold. Das Gesicht seiner Filme ist Nina Hoss. Die sechste Zusammenarbeit der beiden ist sicher ihre dramatischste, drastischste, vielleicht sogar beste. Hoss spielt die Jüdin Nelly Lenz, die nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager 1945 schwer verletzt, mit entstelltem Gesicht nach Berlin kommt. Ein Arzt versucht, ihre alten Züge zu rekonstruieren, doch als sie nach längerer Suche ihren nicht-jüdischen Mann Johnny ausfindig macht, erkennt der sie nicht. Er glaubt, ihre Ähnlichkeit zu seiner totgeglaubten Frau könnte ausreichen, um das Erbe der im Holocaust ermordeten Familie Lenz anzutreten. Und so bringt er der Unbekannten bei, Nelly zu sein – und zwar so, wie sie vor der Katastrophe war: eine glamouröse Sängerin mit gefärbten Haaren und Pariser Schuhen.

Petzold entwickelte das Drehbuch wie schon einige Male zuvor mit seinem Mentor, dem im Juli verstorbenen Regisseur Harun Farocki. „Phoenix“ handelt von der Unmöglichkeit des Neuanfangs nach Schrecken und den Gräueltaten des Dritten Reiches, ist ein Film über Schuld und Identität, Gesichtsverlust im physischen wie im moralischen Sinn -ein Melodram, das an Douglas Sirk, den Meister dieser Form, erinnert. „Phoenix“ ist ein Kammerspiel, in dem vor allem die Hauptdarsteller brillieren – Ronald Zehrfeld als Zweifel und Schuld wuchtig überspielender, Heinrich-Georgehafter Johnny und Nina Hoss als zögerliche Nelly, die sich nicht erkennt, weil sie von ihrer großen Liebe nicht erkannt wird. Und als sie schließlich zu sich findet – in einer berührenden, aufwühlenden Darbietung von Kurt Weills „Speak Low“ -, muss sie den einstigen Geliebten Orpheus-gleich in der Vergangenheit zurücklassen.

Haben Sie das Gefühl, dass alle Figuren, die Sie in Petzold-Filmen spielen, miteinander verwandt sind, sich kommentieren und vervollständigen?

Zu Beginn war das noch mehr so. Wir haben mit Leyla angefangen in „Toter Mann“, dann kam „Wolfsburg“ – da sah man eine Entwicklung von der Täterin und Verführerin zum Opfer, das sich wieder ins Leben zurückarbeiten musste – „Yella“ und „Jerichow“ haben dem weitere Perspektiven hinzugefügt. Auch „Barbara“ und „Phoenix“ haben natürlich was mit Christian und dem, womit er sich auseinandersetzen will, zu tun, und man findet bestimmt Ähnlichkeiten in der Struktur. Aber für mich fallen diese Filme aus dieser Reihung heraus. Hinzu kommt, dass ich dieses Mal als Schauspielerin so viel zu bewältigen hatte, dass diese Erfahrung für mich mit nichts anderem, was ich bisher gemacht habe, zusammenhängt.

Weil „Phoenix“ so ein großes und tragisches Thema behandelt?

Ja. Sich an so ein Trauma als Schauspielerin heranzuwagen, war wirklich schwierig. Ich musste meine Figur zu einem gesichtslosen Wesen machen, das seine Identität verloren hat und nicht mehr weiß, wer es ist und wie ein Blatt im Wind alles einfach mit sich geschehen lässt, gar nicht mehr in das Geschehen eingreifen kann.

Und wie haben Sie das gelöst?

Natürlich habe ich mich vorbereitet und viel gelesen, aber es gibt nicht so wahnsinnig viele Dokumente darüber, wie es den Überlebenden des Holocaust direkt nach der Befreiung ging – in welcher Art von Bewusstsein ist man da, in welchem Verdrängungszustand? Es geht an den Wahnsinn heran, wenn man plötzlich lacht, obwohl man nur noch weinen möchte. Ich musste mich so dermaßen konzentrieren, dass ich während des Drehs nicht mehr raussteigen konnte aus der Figur. Ich konnte nicht mit Christian über Filmtheorie reden wie sonst. Ich wollte keinen zusätzlichen Input -ich brauchte diese Leere. Ich musste einfach sehen, was kommt. So schräg das bei diesen fürchterlichen Szenen und dieser Welt, in die man sich hereinarbeiten muss, auch klingen mag: Es ist eine Freude zu erleben, dass Dinge passieren, die man gar nicht in der Hand hat.

„Phoenix“ handelt ja auch von der Frage, ob der Neuanfang in einem Land möglich ist, das sein Gesicht verloren hat. Ihr Vater Willy Hoss hat als engagierter Linker, Gewerkschaftler und Mitbegründer der Grünen daran gearbeitet, Deutschland ein neues Gesicht zu geben – wurde zu Hause viel über die deutsche Geschichte geredet?

Immer. Das war sein Antriebspunkt. Deswegen ist er so politisch geworden, weil er in dieser Zeit aufgewachsen ist, als 14-Jähriger Schützengräben ausgehoben hat und von seinem Vater, der Landarbeiter war, mitbekommen hat, dass man sich zur Wehr setzen konnte, ohne sich unbedingt zu gefährden -niemand konnte einem die Idee nehmen, dass es eine gerechtere Welt geben konnte. Das war sein Grundthema. Dazu kam das Gefühl, dass es ein Betrug war, all die Gräueltaten zu verschweigen.

So wie in „Phoenix“, wenn Johnny auf Nelly einredet, sie müsse bei der Inszenierung ihrer Rückkehr aus dem Lager so erscheinen, wie alle sie von früher kannten: mit gefärbten Haaren und schönen Schuhen. Niemand wollte mit dem Grauen konfrontiert werden.

Und so war es ja auch in den Fünfzigern, in denen alles zugeschüttet wurde und niedlich verpackt. Das hat meinen Vater verrückt gemacht, das war etwas, gegen das man angehen musste. Aber ohne Aggressivität – man hat ihn einen sanften Rebellen genannt.

Ich habe ein Foto aus Ihren Kindertagen gesehen, auf dem Sie mit Wolf Biermann an einem Tisch sitzen. War damals oft linke Prominenz zu Gast?

Wenn Wolf Biermann in Stuttgart aufgetreten ist, hat er immer bei uns gewohnt. Er hat mal eine Platte für Kinder aufgenommen – „Der Friedensclown“ hieß die. Das war damals meine Lieblingsplatte. Wenn er bei uns übernachtete, habe ich ihn genötigt, das für mich vorzutragen. Ich war damals auch auf allen Demos dabei und habe gesehen, wie mein Vater von der Macht abtransportiert wurde. Das hat mein Bild von diesem Land geprägt.

Haben diese Erfahrungen Ihre Berufsethik und die Wahl Ihrer Rollen geprägt?

Es ist ganz einfach: Ich nehme die Rollen an, die in einem Zusammenhang stehen, der mich interessiert. Und dann kann es auch, wie in „A Most Wanted Man“, eine kleinere Rolle sein. Wenn der Film etwas hinterfragt, mich zum Nachdenken bringt und herausfordert, ist er interessant für mich. Die Geschichte muss irgendeine zweite Ebene haben, ohne dass das verkrampft ist, sonst langweile ich mich zu Tode.

Haben die Figuren, die Sie bei Christian Petzold gespielt haben, einen Einfluss auf die Rollen, die Sie angeboten bekommen?

Das ist sicher so und nach sechs gemeinsamen Filmen auch logisch. Aber oft bin ich auch erstaunt, wie wenig genau hingeschaut wird. Es geht schon so weit, dass ich von mir denke: „Ah, ja, genau, du bist so kühl und abweisend.“ Dann habe ich neulich nachts per Zufall „Yella“ gesehen. Ich war irgendwie gerührt und dachte, die ist ja so verloren und zart …

… beinahe kindlich.

Genau. Und in der Presse hieß es wieder: „die alte abgebrühte Tante“ (lacht) – können die mal etwas genauer hingucken? Ich erlebe mich auch gar nicht so. Aber ich habe nichts gegen das Image. In Thomas Ostermeiers Inszenierung von „Kleine Füchse“ bin ich natürlich die alte bitch – aber die kommt auch irgendwo her, aus einer Verletzung. Es hat einen Grund, dass sie so ist, und der besteht nicht darin, dass ich sie spiele. Ich kann mir das immer herleiten.

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