Bonnie „Prince“ Billie – London, Royal Festival Hall
Will Oldham und Band eröffnen ihre Europatour vor ausverkauftem Haus
Der erste warme Frühlingsabend des Jahres. Am Südufer der Themse strömen die Geschäftsleute in die laue Abendluft, lösen ihre Krawatten oder öffnen den zweitobersten Blusenknopf. Rotköpfige Touristen knipsen den Big Ben am anderen Ufer im Licht der untergehenden Sonne. Durch das rege Treiben zieht sich ein beträchtlicher Strom halbjunger Menschen. Sie tragen verschwitzte Kunstfaseranzüge oder braune Seventies-Lederjacken zu Sonic Youth-T-Shirts. In ihren Händen „Rough Trade“-Taschen, Bücher oder die Pfötchen gebatikter Hippiemädchen. Es sind viele. Wenn man ihnen folgt, kommt man automatisch zur Royal Festival Hall. Fast 3000 Leute gehen da hinein. Als die Norwegerin Susanna ihre verhuschten Interpretationen alter Lieder vorträgt, sind vielleicht die Hälfte der Plätze besetzt. Mein Sitznachbar quält seine Augen bei schlechtem Licht über die Zeilen einer Bert-Jansch-Biografie.
Als gegen halb Neun ein bärtiger Mann mit Latzhose auf die Bühne tritt, ist der Laden voll, und neben mir fällt ein Buch zu Boden. Getuschel geht durch die Halle, niemand scheint den ersten Song zu kennen. „Killing Brothers, stealing from others/ Why must it be?“ Eine von der Band mit Nachdruck dargebotene Jeremiade. Dann legt Will Oldham die Gitarre zur Seite, läuft apathisch im Kreis, setzt seine sinisterste Mine auf und rezitiert die ersten Zeilen von „Sheep“ zu einer Musik, die klingt wie eine Punk-Version von Fairport Convention. Gitarrist Emmett Kelly changiert zwischen subtilen britischen Foik-Motiven und Gelärme, die bezaubernde Cheyenne Mize fiedelt, und hinter ihr fegt Jim White über sein Minimalschlagzeug. Ein meditativ-beseeltes „My Life’s Work“ folgt, dann ein liebliches „Grand Dark Feeling Of Emptiness“. Oldham schüttelt sich, plustert sich auf wie ein kleiner bierbäuchiger Vogel, dann erscheint „Love Comes To Me“ in prächtigstem Gefieder. Das mit der Bandchemie ist eine oft benutzte Phrase, doch an diesem Abend sind es wirklich die Beziehungen zwischen den Musikern, die diese Songs so besonders machen. Die Art wie sich die Stimmen von Oldham und Mize umgarnen, wie White buddhagleich hinter seinem Schlagzeug thront und sowohl seine Mitmusiker als auch das Publikum mit ein paar einfachen Bewegungen nah an die Erleuchtung führt. Zusammen mit Josh Abrahams am Bass lässt er „Just To See My Holly Home“ durch die plüschige Halle wippen und zieht später die dunkle Leinwand auf, auf die Kelly, Mize und Bonnie mit sachten Strichen „I See A Darkness“ malen; den größten Song des Abends — man ist, gefangen in dieser Darbietung, sogar versucht zu sagen: aller Zeiten. Nach zwei Stunden zwischen Tanz und Transzendenz klingt selbst ein tieftrauriges Lied wie die Stanley Brothers-Nummer „Nobody’s Darling On Earth“ wie ein ausgelassenes Fest. Jeder aus der Band darf eine Strophe singen, dann gehen sie ab, kehren aber für „Nomadic Revery (All Around)“ noch einmal zurück. „Today was one where, lost in thought, I really feel I am.“ Als das Licht angeht, ist mein Sitznachbar verschwunden. Sein Buch liegt noch unter dem Sitz.