Bonbons aus Crème fraîche und die amazing Camemberts des Peter Tosh Oder Musikalische Perlen aus der Grabbelkiste
Es hat sicher irgendetwas zu bedeuten, ich weiß nur nicht was: In der letzten Woche habe ich ganze sechs Euro für Musik ausgegeben. In Aachen.
Folge 95
Wie vor jedem meiner Auftritte führten mich auch hier meine Schritte in die örtliche Schallplattenfachhandlung. Der Laden, den ich in Aachen entdeckte, trug den Namen „High Fidelity“, ein kleines Geschäft, dem man keine allzu übertriebene Sortiertheit vorwerfen kann.
Die Platten, die ich fand, waren nicht eben dazu angetan, mich in irgendeiner Weise in sonderliche Erregung zu versetzen, aber das muss in meinem Alter auch nicht immer sein. In Zeiten wie den unseren zählt oft schlicht das grundsolide Produkt.
Erinnerungen an Eiskugeln und im Meer herumtollenden Bikini-Schönheiten
Bei der ersten Platte, die ich aus einer Kiste zog, handelte es sich um einen Franzosenpop-Sampler aus den späten Achtzigern. Der Titel der Polydor-Zusammenstellung, „Crème fraîche – 16 Hit-Bonbons aus Frankreich“, weist die Macher als mit viel Einfühlungsvermögen ausgestattete Kenner der französischen Seele aus. Während manch sensibler Zeitgenosse angesichts des Titels gedanklich wohl noch ein Weilchen an einem Crème-fraîche-Bonbon herumlutscht, darf sich der optisch orientierte Musikfan bereits über den in den Farben der Tricolore gehaltenen Hahn auf der Hülle freuen.
Erinnerungen an ähnlich orientierte Italopop-Zusammenstellungen mit Spaghetti-Tellern, Eiskugeln und im Meer herumtollenden Bikini-Schönheiten werden wach. Man hätte natürlich auch einfach irgendeinen fromage aufs Cover knallen können (oder eben einen Crème-fraîche-Eimer). Man kann den Hüllengestaltern mithin gar nicht genug für ihr Fingerspitzengefühl danken.
Jenseits des Covers und der Auswahl der versammelten Künstler– Vanessa Paradis, Les Rita Mitsouko, Charlotte Gainsbourg, Alain Delon (!) – lockte die Platte mit einem kleinen Aufkleber, der vom Verkäufer mit „1 Euro, gut!“ beschriftet war. Gar keine Frage: Hier musste zugeschlagen werden. Und tatsächlich – kaum rotierte die Platte erstmals auf der heimischen Anlage, hob der elektrische Camenbert auch schon komplett ab.
Hitzkopf, dem vor Aufregung die Fontanelle zu platzen drohte
Die zweite Platte, die ich für nur einen Euro erstand, war Peter Toshs Album „Bush Doctor“, auf dem sich bekanntlich Mitglieder der Rolling Stones mit dem Doctor auf Abenteuerreise durch jamaikanische Hanfnebel begaben. Wikipedia weiß dies zu berichten: „Peter Tosh bekam später den Spitznamen „Bush Doctor“ oder „Bush Docta“, weil er über weitreichende Kenntnisse der Marihuana- oder Cannabispflanze als Heilungsmittel verfügte.“
So kann man das natürlich auch sagen. Mit Sicherheit war Toshs Wissen über jamaikanische Kulturpflanzen weitreichender als das der Polydor-Hüllengestalter über Frankreich. Bevor Tosh von allen mit „Bush Doctor“ angeredet wurde, lautete sein Spitzname übrigens „Steppin’ Razor“, der ihn als Hitzkopf ausweist, dem gerne mal vor Aufregung die Fontanelle zu platzen drohte. Vielleicht ganz gut, dass er die Kulturpflanzen für sich entdeckt hat.
Das dritte Album (für zwei Euro), das mir in die Einkaufstasche geriet, war eine Schallplatte, auf welcher der tolle Schauspieler Serge Reggiani Texte von Francois Villon singt. Reggiani, ein gebürtiger Italiener, der mit seinen Eltern während der Mussolini-Ära nach Frankreich flüchtete, ist einer meiner europäischen Lieblingsschauspieler. Das liegt neben seinem nicht unbeträchtlichen Talent auch an seiner Physiognomie, die ebenfalls von einiger Beträchtlichkeit ist: Reggianis ebenso melancholisches wie drolliges Gesicht sollte man eigentlich täglich in Schulbänke und Bäume ritzen.
Ich empfehle vor allem seine Nebenrolle in „Der Leopard“, wo er einen sizilianischen Gewährsmann Burt Lancasters gibt. In Marco Ferreris irrem „Berühre nicht die weiße Frau“ spielt er einen glatzköpfigen indianischen Berater, der nur einen Lendenschurz trägt.
Hochgradig talentierter Kerl mit weit klaffenden Abgründen
Als letzte Platte (noch mal zwei Euro) zog ich eine Zusammenstellung der größten Erfolge des einstigen Animals-Keyboarders Alan Price aus einer Kiste. Price ist eine faszinierende Type: Ein hochgradig talentierter Kerl mit weit klaffenden Abgründen. In der extrem sehenswerten 1965er-Dylan-Doku „Don’t Look Back“ turnt Price, soeben von seiner Band vor die Türe gesetzt, mit Dylan, Joan Baez und Bob Neuwirth durch britische Backstageräume. Seinen Gram über den Rausschmiss sucht er im Alkohol zu ertränken – Price ist eigentlich in allen Szenen des Films sichtlich angetrunken. Einmal öffnet er eine Bierflasche an einem Klavier, was für Splitter im Getränk sorgt.
Wer den tollen Keyboarder Price erleben will, der höre sich die Animals-Version von „House Of The Rising Sun“ an, da lässt Alan es ordentlich schmoren. Seinen größten Hit (Nummer 4 in den UK-Charts) als Sänger hatte er wohl mit Randy Newmans „Simon Smith and his Amazing Dancing Bear“ – so müssen Nummer-4-Hits heißen! Price ist immer noch aktiv und tourt gelegentlich durch England. Seine gefürchteten Ansagen, so heißt es, fallen oft weitaus länger aus als die darauffolgenden Songs.
Am Donnerstag geht es zum Auftritt nach München. Ich hoffe auf weitere Perlen aus der 1-Euro-Kiste. Bis dahin erfreue ich mich weiter an den Abenteuern von Serge Reggiani und seinen amazing Back-Camenberts.