Bonanza in Buenos Aires
Die fünf Konzerte in Argentinien dürften sich für die Stones im Rückblick wohl als Höhepunkt der gesamten Welt-Tournee erweisen. Das ganze Land war ausgehungert und und überschlug sich förmlich, als die Konzerte im März näherrückten. Die fünf Stadion-Shows wurden von 550 000 Menschen gesehen, fünf weitere Shows hätten problemlos ausverkauft werden können. Beim Vorverkauf kam es zu tumultartigen Szenen, bei denen zwei Menschen Opfer von Messerstechereien wurden; ein dritter starb in der Aufregung an einem Herzinfarkt. Insgesamt gab es sieben Todesfälle, die direkt oder indirekt durch die Stones-Tour ausgelöst wurden. Und was in Argentinien für noch mehr Schlagzeilen sorgte: Diego Maradonna verlor, zumindest vorübergehend, seinen Job als Fußballtrainer! Er, der gerade seine Kokain-Affäre überstanden hatte und als Trainer einer argentinischen Mannschaft zurück ins bürgerliche Leben wollte, war plötzlich für mehr als eine Woche wie vom Erdboden verschwunden. Zwischenzeitlich gesehen wurde er nur im Backstage-Bereich der Stones – wo er vermutlich auf „wohlwollende“ Menschen traf, die ihn prompt wieder vom Pfad der Tugend abbrachten. Argentiniens Präsident Carlos Menem, der sich bereits mitten im Wahlkampf befand (die Wahl fand Mitte Mai statt), war natürlich ebenfalls schlau genug, etwas vom Glanz der Stones abzubekommen.
Er lud sie samt Frauen und Kindern zu einem privaten Besuch auf seinen Landsitz ein und sorgte natürlich dafür, daß ausreichend Fotografen zur Stelle waren.
Als er dann aber bei einem der Konzerte versuchte, samt Entourage hinter die Bühne zu kommen, stand er vor verschlossenen Türen – auch wenn er kurz zuvor noch so nett mit den Stones geplaudert hatte, auch wer hier irrigerweise meinte, inzwischen als Freund der Band zu gelten und überall Zutritt zu haben: In diesem Punkt kennt die Security der Rolling Stones kein Pardon: Kann ja schließlich jeder kommen und behaupten, er sei der Präsident dieses Landes».
Bei ihrem zehntägigen Aufenthalt in Buenos Aires flog gerade Jerry Hall mit drei von Micks Kindern aus Rom ein. Charlies Schwiegermutter war da und Rons halbe Verwandschaft. Dann werden Landpartien veranstaltet, Spaziergänge unternommen, Polo-Clubs besucht und notfalls auch ein bißchen Sightseeing gemacht. Wenn eine architektonische Sehenswürdigkeit am Wegesrand liegt, werden Charlie und Shirley nie Nein sagen. Und mit einem Museum kann man sie auch immer locken.
Hinter der Bühne sind Kinder aber definitiv nicht erwünscht. Jerry Hall und Keiths Frau Patti kann man dort natürlich antreffen, für die Kids aber ist backstage tabu. Das Konzert und die Konzentration davor wird viel zu ernst genommen, als daß man sich durch Fragen wie „Papa, darf ich mal deine Gitarre spielen?“ ablenken lassen möchte.
Drei Stunden vor Konzertbeginn startet Mick sein Fitness-Programm. Er hat nicht nur einen Trainer, sondern auch einen „Workout Room“, wo er sich eine Stunde lang fit macht und seinen Vitamincocktail trinkt. Im Anschluß daran gibt es in Micks Garderobe das gemeinsame Einsingen mit Chuck Leavell am Piano und Backgroundsänger Bernard Fowler. Das sind festgefügte Rituale, an denen nicht mehr gerüttelt werden darf.
Keith und Ron hocken zur gleichen Zeit nebenan zusammen und spielen sich mit ein paar Country-Songs warm; manchmal stoßen einige Begleitmusiker dazu, und das Ganze artet in eine spontane Jam-Session aus.
In seiner Garderobe hat Keith stets seinen obligatorischen Strudel – einen englischen Pie, den er wie seinen Augapfel hütet und der von niemandem angerührt werden darf. Der Kuchen muß absolut fachmännisch von Keith selbst angeschnitten werden, da er sonst angeblich nicht frisch bleibt. Wenn sich da jemand in Unkenntnis der Lage unsachgemäß bedienen will, muß er damit rechnen, sich Keiths heiligen Zorn zuzuziehen.
Von Drogen bekommt man backstage nichts mit, jedenfalls nicht als Besucher der Voodoo-Lounge. Seit den Sechzigern, vor allem aber in den letzten Jahren, hat sich in diesem Punkte einiges geändert. Da hat sich offensichtlich das Bewußtsein durchgesetzt, daß man auch als Rock-Legende nur überleben kann, wenn man sich nicht gewaltsam umbringt. Gerade Keith merkt man die Absicht an, seinem Körper nicht mehr zu viel zuzumuten.
Zudem ist bei Keith auch viel Attitüde im Spiel: Die Leute erwarten das Image, also gibt er es ihnen. Er spricht manchmal so, als sei er sternhagelvoll, ist aber in Wirklichkeit stocknüchtern. Das ist eine Haltung, die er stilisiert und vermutlich schon längst verinnerlicht hat. Zum archetypischen „Mr.Rock’n’Roll“ gehört es eben, daß man die gesellschaftliche Etikette ignoriert und den Outlaw raushängen läßt. Wenn die Leute hinter seinem Rücken tuscheln, daß Keith wohl mal wieder völlig breit sei, kriegt er vermutlich seinen kleinen Kick daraus.
Und was sexuelle Angebote hinter der Bühne angeht: Wer gut aussieht und die nötige Chuzpe hat, wird vermutlich selbst die Security der Stones knacken können – frei nach dem Motto: „You wanna see Elvis? You gotta see me first!“, aber selbst wenn das einmal der Fall sein sollte, passiert da offensichtlich nicht viel. Keith ist ein Family-Man geworden, und zumindest nach außen hin scheint zwischen Mick und Jerry Hall auch wieder alles im Lot.