Bob Marley: Der sanfte Revolutionär
Heute wäre Bob Marley 70 Jahre alt geworden. Ein Fundstück aus unserem Archiv: Der Tag, als der Reggae-Sänger starb.
Bob Marley: Der sanfte Revolutionär
Bob Marley ist tot. Auf dem Weg von München nach Jamaika starb er am 11. Mai 1981 in einer Klinik in Florida.
aus Musikexpress 7/1981
von Hermann Haring
Drei Tote in einem halben Jahr, jeder von ihnen Repräsentant eines ganzen Jahrzehnts in der Geschichte der Rockmusik: Billy Haley, John Lennon und Bob Marley. Bill Haley hatte seine Rolle Mitte der fünfziger Jahre bereits nach ein paar Hits ausgespielt. John Lennons ungeheure Popularität und Kreativität prägen die kulturelle Szenerie der Gegenwart noch immer. Bob Marleys Musik indes greift weiter. Denn seine Botschaft ist unsere Zukunft. Oder es wird keine Zukunft geben.
Die Stunde der Aasgeier schlug am Freitag, dem 22. Mai 1981. Der tote Körper von Bob Marley lag aufgebahrt im Stadion von Kingston. Jamaika erlebte eine offizielle staatliche Totenfeier für seinen bekanntesten Bürger. Der Totengottesdienst wurde nach dem Ritus der äthiopisch-orthodoxen Kirche abgehalten. Die Episteln lasen der britische Generalgouverneur sowie der jamaikanische Oppositionsführer und Ex-Premier Michael Manley. Die Gedächtnisrede hielt anschließend Ministerpräsident und Ex-Oppositionsführer Edward Seaga. Er sagte: „Bob Marleys Botschaft war ein Protest gegen Ungerechtigkeit, ein Trost für die Unterdrückten. Eine Suche nach Frieden und ein Ruf nach Hoffnung. Aber nicht nur für das kleine Eckchen der Schöpfung in dem wir leben, sondern eine universelle Botschaft an die Schöpfung als Ganzes in dem Versuch, die Dinge für alle zum Guten zu wenden.“
Marley konnte sich nicht mehr wehren gegen diese Gesten und Worte von Politikern, die die Herrschaft der Weißen über die Schwarzen mit Gewalt und schmutzigen Tricks aufrechterhalten, die den Rastas vor wenigen Jahren noch von der Polizei die Haare abschneiden ließen und sie ins Gefängnis warfen, wenn sie Ganja rauchten. In einem Interview hat Bob Marley sogar den Verdacht geäußert, daß der militante Flügel von Seagas Partei in das Attentat verwickelt war, bei dem im Dezember 1976 er selbst, seine Frau Rita und sein damaliger Manager Don Taylor verletzt wurden und nur knapp ihr Leben retten konnten. Marley Meinem Song „Revolution“ auf der LP NATTY DREAD: „never make a politician grant you a favour/they will always want to control you forever.“
Gunstbeweise von den Politikern Jamaikas hat Bob Marley nie entgegengenommen, aber er hat gelegentlich mit ihnen oder ihren Helfershelfern zusammenarbeiten müssen. Etwa bei der Vorbereitung eines großen Open-Air-Konzertes im Herbst 1976, das nur unter Einschaltung staatlicher Stellen in Szene gesetzt werden konnte. Da dieses Festival in die Zeit des heißen Wahlkampfes in Jamaika fiel, wurden diese Kontakte von gewissen Leuten ausgelegt als Unterstützung der damaligen Regierung unter Michael Manley. Das Attentat bei dem sich ein Kugelhagel in Marleys Haus an der Hope Road ergoß, war eine direkte Folge dieser Interpretation.
Der Anschlag, der Marley für eineinhalb Jahre ins Exil nach London und Miami trieb, wie auch die vom Staat groß inszenierte Totenfeier im Nationalstadion sind zwei überdeutliche Hinweise auf die Bedeutung, die Marley bis zu seinem letzten Lebenstag für Jamaika hatte. Bei uns in Europa war die Wechselbeziehung zwischen ihm und seiner Heimat in den Hintergrund gerückt, nachdem er weltweit die Hitparaden erreicht hatte und die Bedeutung seiner Botschaft für die westliche Welt klargeworden war. Marley hat jedoch auch nach den ersten zehn Jahren seiner Karriere, in denen er als poetischer Kämpfer aus Trenchtown, dem Getto von Kingston, populär geworden war, die Bindung an seine karibischen Wurzeln aufrechterhalten und Jamaika im Zentrum seiner Musik belassen.
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nahm er eine ganze Reihe von Singles speziell für den heimatlichen Markt auf, und ein Teil davon erschien nie in Europa: Jah Live“, „Smile Jamaika“, „Rastaman Live Up“. Er investierte viel von dem Geld, das er in Europa und Nordamerika verdiente, in Kingston, baute dort ein Studio, richtete einen Plattenladen ein, fütterte eine ganze Menge farbiger Arbeitsloser durch. Trotz des Attentats kehrte er schließlich in sein Haus an der Hope Road zurück und setzte sich im Frühjahr 1978 an die Spitze jener „One Love“-Bewegung, die die blutigen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den zwei großen politischen Strömungen des Landes schlichten wollte. Beim „One Love“-Festival im Stadion von Kingston gelang es Marley, die Führer der verfeindeten Parteien und Polit-Gangs auf die Bühne zu holen und zu den Klängen des Wailers Songs „One Love“ ihre Hände ineinanderzuschlagen und so den Frieden symbolisch zu besiegeln; dieser Friede hielt immerhin zwei Jahre lang, bis zum nächsten heißen Wahlkampf, und Marley machte diese Geste endgültig zum Nationalhelden.
Reggae ist in Jamaika Volksmusik, und gute Musiker gibt es wie Sand am Meer. Dennoch erreichten nur wenige von ihnen (etwa Peter Tosh, Dennis Brown, Keith Hudson, Bunny Wailer, Michael Rose, Winston Rodney, Pablo Moses, Ras Michael) in einigen ihrer Songs jene gewaltige poetische Kraft, mit der Bob Marley in beinahe jedem seiner Lieder sprach. Mit den Wailers hatte er zudem seit Anfang der siebziger Jahre eine Band hinter sich, die auch nach jamaikanischen Maßstäben nicht zu übertreffen war; nur Sly Dunbar und Robbie Shakespeare bilden eine ähnlich durchschlagende Rhythmus-Sektion wie Carlton Barrett und Aston Barrett von den Wailers.
Seit Marley 1965 mit den Wailing Wailers (zu denen auch Peter Tosh und Bunny Wailer gehörten) in Jamaika seinen ersten Hit landen konnte – „Simmer Down“ -, hat er in zunehmendem Maße das Elend in den Gettos seiner Heimat angeprangert, die Unmenschlichkeit der Sklaverei aus dem Unterbewußtsein des jamaikanischen Volkes wieder hervorgeholt, die afrikanischen Wurzeln der farbigen karibischen Völker offengelegt. Dies alles hat ihn in der Inselwelt zwischen den Bahamas und Trinidad populär und für den Westen als Anwalt der Dritten Welt interessant gemacht. Es erklärt jedoch nicht die charismatische Figur Bob Marley, deren Ausstrahlung weit über die eines herausragenden Musikers und sozial- und geschichtskritischen Sprachrohrs hinausgeht. Das, was man heute in Jamaika und in vielen Ländern der westlichen Industriezivilisationen mit dem Namen Marley verbindet, entstand vielmehr vor dem Hintergrund der Rastafari-Religion, zu der Marley bereits Ende der sechziger Jahre fand und die schon bald darauf wichtigste Quelle seiner Musik und seiner Botschaft wurde.
Der Rastafari- oder Rasta-Glaube wird bei uns oft als exotische Sekte abgetan, als unnützes Anhängsel der Reggae-Musik mit Texten, die niemand verstehen kann. Wer sich jedoch einmal näher mit der Religion der Rastas befaßt, wird schnell erkennen, daß sie uns näher steht als wir denken. Selbst die Rolle, die der verstorbene Kaiser von Äthiopien, Haue Selassi, in diesem Glaubenssystem spielt, ist gar nicht ungewöhnlich: Gottähnliche Wesen, die in wechselnden Inkarnationen auf die Erde kommen, finden wir in vielen Religionen, etwa bei den Tibetern mit ihrem göttlichen Oberhaupt, dem Dalai Lama. Auch die inbrünstigen Lobpreisungen von Jah (das ist der Rasta-Name für Gott) auf Reggae-Platten irritieren uns in Wirklichkeit nicht wegen ihrer exotischen Fremdheit, sondern weil sie uns unterschwellig und sehr schmerzhaft an Teile unseres Wesens erinnern, die im Zuge einer materiell-technologischen Erziehung zubetoniert wurden.
Rasta ist im Grunde gar keine Religion in unserer beschränkten Bedeutung des Wortes, sondern eine Lebensphilosophie, die sehr konkrete Aussagen über die Gegenwart und die Zukunft menschlicher Existenz macht. Die Rastas haben im Laufe von mehreren Jahrzehnten zunächst versucht, den als Sklaven verschleppten und nach Ende der Sklaverei sozial unterdrückten farbigen Völkern der Karibik ihre Identität wiederzugeben. Sie betonten die afrikanische Herkunft und stellten den noch natur- und gottverbundenen Menschen dem Bewohner der weißen Hälfte der Welt gegenüber, der seine Seele dem Materialismus geopfert und seine menschlichen Qualitäten immer weiter reduziert habe, um seine Maschinen bauen und die Natur ausbeuten zu können. Bob Marley in seinem Song „So Much Trouble“ auf der LP „Survival“: „You see men sailing on their ego trips/Blast off on their spaceship/Million miles from reality/No care for you, no care for me.“
Diese Zivilisation, mit einem Wort „Babylon“ genannt, hat nach Meinung der Rastas abgewirtschaftet und wird sterben, noch in diesem Jahrhundert. Deshalb setzten die Rastas der weißen Zivilisation, die die spanischen und britischen Kolonialherren nach Jamaika gebracht hatten, andere Werte entgegen, die das Überleben sichern können: eine Existenz zum Beispiel in einer kommuneartigen Wohn- und Lebensgemeinschaft, in der alle total gleichberechtigt sind, eine Ernährung von reinen, also chemisch, genetisch und mechanisch unbehandelten Naturprodukten, Liebe, Gewaltlosigkeit und eine tiefe, mystische Beziehung zu Gott, in der Körper und Seele Kraft schöpfen können. In Jamaika wurden die Rastafari, zu denen die meisten Reggae-Musiker gehören, rasch bekannt und entpuppten sich bald als wichtigste und populärste Alternative im sozialen, religiösen, philosophischen und politischen Bereich. Bob Marley begann, die Rasta-Lehren genau zu dem Zeitpunkt über die Grenzen seiner Heimatinsel hinauszutragen, als in der westlichen Welt die Grenzen des Wachstums offenbar wurden und alternatives Denken zu keimen begann.
Marley und der Reggae befruchteten die Alternativ-Bewegung in Europa und Nordamerika seit Mitte der siebziger Jahre ungemein, ähnlich wie zum Beispiel auch die Indianer Nordamerikas, deren Weltsicht mit der der Rastafari über weite Strecken übereinstimmt. Die Rasta-Philosophie besaß und besitzt indes einen Vorteil: sie verfügt über ein Medium, für das hierzulande in zwei Jahrzehnten Rockgeschichte der Boden bereitet wurde und das deshalb mit Leichtigkeit auf einen Schlag Millionen Menschen erreichen kann: der Reggae, der als vollkommene Einheit von Musik und Text selbst jenen Menschen Einsichten vermittelt, die sich mit der verbalen Botschaft überhaupt nicht befassen.
Reggae-Rhythmus und Reggae-Musik sensibilisieren und machen aufgeschlossen für den inhaltlichen Kern der Rasta-Philosophie, und wer lange und aufrichtig genug Reggae gehört hat, wird entdecken, daß sich sein Leben zu ändern beginnt, auch wenn er noch hie einen Gedanken an Jah, Babylon und I and I verschwendet hat.
Marleys Mission über den Ozean begann 1972, als er den Plattenvertrag mit Island-Records unterschrieb und mit den Wailers als erster jamaikanischer Musiker eine Platte unter den finanziellen und technischen Bedingungen produzieren konnte, die für die Rockmusik selbstverständlich sind. So entstand „Catch A Fire“, eine LP, auf der Rock und Reggae zu einer perfekten Synthese verschmolzen werden, unter dem Primat des Reggae allerdings.
Im Sommer 1975 kam die Band erstmals nach Europa und gab im Londoner Lyceum zwei denkwürdige Konzerte, die auch das Material für das „Live“-Album der Wailers lieferten. Einige deutsche Journalisten waren damals in London dabei und schrieben anschließend eine Reihe wegweisender Artikel: Teja Schwaners Serie in „Sounds“ und der „Spiegel“-Bericht von Siegfried Schmidt-Joos waren sicherlich Grundsteine für die spätere Popularität des Reggae in Deutschland. Marley selbst kam 1976 zum ersten Mal in die Bundesrepublik, und er tourte erneut in den Jahren 1977 und 1980. Im vergangenen Jahr war Deutschland neben Frankreich der wichtigste Markt für Reggae in der westlichen Welt, während seine Popularität kaum Grenzen kannte und vor allem auch in westafrikanischen Ländern wie Nigeria zu spüren war. Marley trat im befreiten Zimbabwe auf und erlebte, wie einer seiner Träume wahr geworden war: „Natty dread it ina Zimbabwe… Africans a liberate Zimbabwe.“
Zusammen mit den ideellen Impulsen gaben Marley und der Reggae auch im musikalischen Bereich entscheidende Anstöße. Die jamaikanische Musik stand Pate bei der Geburt der New Wave, sie spielte dort die gleiche Rolle wie der Blues bei der Beatmusik der frühen sechziger Jahre. Man kann dies in vielen Interviews mit New-Wave-Musikern wie Bob Geldof oder John Lydon nachlesen. Für die Mitte der siebziger Jahre stagnierende, etablierte Rockmusik brachte der Reggae frischen Wind, und nicht nur die Rock-Rebellen, sondern auch etablierte Musiker hörten auf den Rhythmus und die Klänge, die Marley herüberbrachte. Seit Eric Claptons „I Shot The Sheriff“ im Jahre 1974 hat sich eine ganze Kette von Hits gebildet, die Rockmusiker im Reggae-Rhythmus aufgenommen haben: „The Tide Is High“ von Blondie, „Banana Republic“ von den Boomtown Rats, „Master Blaster“ von Stevie Wonder, „Mother And Child Reunion“ von Paul Simon. Wichtiger als dieser Rhythmus, zu dem man so gut tanzen kann, bleibt jedoch der innere Gehalt dieser Musik, und den hat keiner so intensiv vermittelt wie Bob Marley. Seine Songs skizzieren den Untergang unserer westlichen Zivilisation und zeigen Wege auf, neu zu beginnen. Fast jedes Stück seiner LPs enthält entsprechende Hinweise, und seine Songtexte wurden glücklicherweise bei den meisten Platten mit abgedruckt. Marleys Botschaft ähnelt dem, was John Lennon in den Liedern zu vermitteln suchte, die er nach der Auflösung der Beatles aufnahm: „Imagine all thepeople, living life in peace… I hope someday you’ll join us, and the world will live as one.“
Im Westen erkennen mittlerweile immer mehr Menschen, daß die Menschheit nur weiterleben wird, wenn sie die einseitig materialistische Lebensweise aufgibt und zu neuen Werten findet, wie sie auch in der Musik Marleys auftauchten. „Rasta“, sagte Marley vor einem Jahr in einem Interview mit dem MusikExpress, „ist die Realität. Und wenn ich das nicht beweisen kann, dann wird das im Laufe der Zeit ein anderer tun, weil es die einzige Wahrheit ist.
Marley ist tot, und mit unserem Schulwissen können wir nicht erklären, warum gerade er nach monatelanger Krankheit an Krebs starb. Wir haben jedoch seine Musik und die hat sogar schon die Plattenfirma verändert, die sie im Westen vertreibt. Als Marley starb, setzte zwar der gewohnte Run auf die Plattenläden ein, aber Geld um jeden Preis wurde nicht verdient. Anders als beim Tode von Elvis Presley oder John Lennon kamen Mitte Mai keine zusätzlichen Marley-Platten auf den Markt, entsprechend einer Anweisung von Island-Records. Was Marley zu sagen hatte, ist auch längst auf Platten dokumentiert. Und mit dieser Musik kann jeder von uns für die Zukunft arbeiten: „We can make it work“, heißt es programmatisch auf der LP „Uprising“, die sein Vermächtnis wurde. “ We can make ist work“ und „None but ourselves can free our minds.“
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