Bob Dylans neues Album: nicht rough and rowdy, sondern klar und kontrolliert
Im Alter von 79 Jahren veröffentlicht BOB DYLAN mit „Rough And Rowdy Ways“ noch einmal ein großes – Album. Ist es sein letztes? Es ist auf jeden Fall sein erstes als Nobelpreisträger
Am 27. März 2020 sprach die Welt auf einmal über die Ermordung von John F. Kennedy. Dabei hatte man nun wirklich andere Probleme: das Klima, den Krieg in Syrien, den schwelenden Nahostkonflikt, den aktuellen US‑Präsidenten. Ostafrika war einen Tag zuvor von einer geradezu biblischen Heuschreckenplage heimgesucht worden, und dann war da noch eine Pandemie, die seit den Iden des März das System und unser Leben erschütterte. Im Radio spielten sie wieder „It’s The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine)“. Als dann auch noch ein fahrender Sänger, von dem man dachte, er sei unaufhaltsam und für immer unterwegs, seine geplante Reise nach Japan absagte, wusste man, dass es wirklich ernst war. Zum Trost veröffentliche er für seine treuen Fans an jenem Freitag Ende März über Nacht ein neues Lied, das er „a while back“ aufgenommen hatte.
Der Sänger, von dem hier die Rede ist, nennt sich natürlich Bob Dylan, der Song trägt den Titel „Murder Most Foul“ und erzählt von ebenjenem schicksalhaften Novembertag des Jahres 1963, als John F. Kennedy auf seiner Fahrt durch Dallas auf der Rückbank eines Lincoln Continental gegen 12.30 Uhr Ortszeit von wie vielen Kugeln aus wie vielen Gewehren auch immer tödlich getroffen wurde. Ein schändlicher Mord sei das gewesen, singt Dylan. Und dahinter steckte eine Verschwörung, da ist er sicher. Vor den Augen der Welt sei „ihnen“, wer immer das war, der größte Zaubertrick unter der Sonne gelungen, perfekt und mit Geschick ausgeführt. „What is the truth, and where did it go?/ Ask Oswald and Ruby, they oughta know/ ,Shut your mouth‘, said the wise old owl/Business is business, and it’s a murder most foul.“ Der Nation sei die Seele herausgerissen worden an jenem Tag und ein langsamer Niedergang habe begonnen, singt Dylan. Mit Blick auf das Oval Office oder den Golfplatz, auf dem Donald Trump den Großteil seiner Amtszeit verbringt, scheint das durchaus eine treffende Analyse.
„Murder Most Foul“ traf einen Nerv, nie zuvor wurde über einen Dylan-Song am Tag seines Erscheinens so viel geschrieben, und zum ersten Mal überhaupt in seiner sechs Jahrzehnte währenden Karriere stand der Songwriter an der Spitze der „Billboard“-Singles-Charts – eine Sensation, die allerdings etwas kleiner wird, wenn man weiß, dass sein Lied nur die Kategorie „Rock Song Digital Sales“ anführte; auf Platz 2 landete in derselben Woche „Time For Me To Fly“ von REO Speedwagon, das gerade prominent in der Netflix-Serie „Ozark“ gelaufen war, gefolgt von John Lennons von einigen Hollywoodstars für ein rührseliges Instagram-Video missbrauchtem „Imagine“.
Und an Kennedys Stelle sitzt plötzlich die Acid Queen
Dylan hat oft über nationale Tragödien gesungen, über rassistisch motivierte Gewalt, Morde, Kriegsangst, Naturkatastrophen, Schiffsuntergänge. Seit den frühen Sechzigern erzählt er die amerikanische Geschichte als moderne Form der Apokalypse, ein Blick, den er entwickelte, als er mit Anfang zwanzig in der New York Public Library Zeitungsartikel aus der Zeit des Bürgerkriegs studierte. „Damals ist Amerika gekreuzigt worden, gestorben und wiederauferstanden“, schreibt er in seinen Memoiren „Chronicles“. „Daran war nichts Künstliches. Diese gottverdammte Wahrheit sollte den allumfassenden Rahmen meiner künftigen Texte bilden.“ Das gilt für das 1963 veröffentlichte „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ ebenso wie für „Murder Most Foul“ von 2020.
Seinen Bericht von der Kennedy-Verschwörung scheint der Sänger von einem löchrigen Blatt abzulesen, und so rutschen manchmal Wörter und Zeilen aus anderen Erzählungen, die wohl auf den Blättern darunter stehen, in seinen Vortrag: aus dem Buch Jesaja, aus der den Kriegseintritt der USA einläutenden Rede von Präsident Roosevelt nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, vor allem aber aus der Geschichte der Popmusik. „You got me dizzy, Miss Lizzy/ You filled me with lead/ That magic bullet of yours has gone to my head“, klagt er etwa, so als hätte das schwindelerregende Fräulein Lizzy aus dem Song von Larry Williams vom Fenster im fünften Stock des Schulbuchlagers an der Elm Street auf den Präsidenten geschossen. Und an Kennedys Stelle sitzt plötzlich die Acid Queen aus Pete Townshends „Tommy“ hinten im Lincoln: „Riding in the backseat next to my wife/ Heading straight on into the afterlife.“
Parallel zum Attentat erzählt Dylan hier von der Gegenkultur, von den Beatles, die die Nation im November 1963 mit „I Want To Hold Your Hand“ aus der Schockstarre holten, von Woodstock und Altamont. Und der Präsident redet in Zungen, bittet den AFN-DJ Wolfman Jack, ihm ein Lied zu spielen, daraus wird eine ganze Litanei aus Songtiteln und Künstlern, von „St. James Infirmary“ bis „Another One Bites The Dust“, von Jelly Roll Morton bis Stevie Nicks, von der Vergangenheit bis in seine ungelebte Zukunft.
17 Minuten lang umgarnt ein Barklavier die Stimme, eine Geige klagt, ein gestrichener Kontrabass brummt, ein Schlagzeug akzentuiert, dann ist das Lied zu Ende und die Welt eine andere. Der Songtitel ist ein Zitat aus Shakespeares „Hamlet“, erster Akt, fünfte Szene, als der Geist des verstorbenen Königs seinen Sohn auffordert, den Mord an ihm zu rächen. Durch den Sänger von „Murder Most Foul“ spricht also Kennedy zu uns. Es ist nicht das erste Mal, dass der Präsident auf Dylans Stimme zählt. Zu Lebzeiten rief er ihn mal an und fragte: „My friend, Bob, what do we need to make the country grow?“ Und der damals 22-Jährige antwortete mit jugendlicher Chuzpe: „My friend, John, Brigitte Bardot, Anita Ekberg, Sophia Loren – country will grow.“
Auch Shakespeare ist ein alter Bekannter in Dylans Liedern. Hamlets unglückselige Geliebte Ophelia wurde 1965 in eiserner Weste nahe der „Desolation Row“ gesichtet, in der surrealen Odyssee „Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again“ tauchte der Barde ein Jahr später in spitzen Schuhen persönlich auf und unterhielt sich mit einem französischen Mädchen, das damit prahlte, den Songwriter gut zu kennen, auf „,Love And Theft‘“ geisterten 2001 mehrere seiner Figuren durch die Lieder. Und 2017 nannte Dylan Shakespeare in einem langen Text, den er, ähnlich wie „Murder Most Foul“, zu Klavierbegleitung vortrug, als wichtigsten Paten seiner Kunst: in der gerade noch fristgerecht als Audioclip abgelieferten Rede, die die Schwedische Akademie von ihm verlangte, nachdem sie ihn für seine „poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“ mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet hatte. Ein faszinierender Text, in dem Dylan gewohnt lässig mit seinen Quellen umgeht, aber zugleich ungewohnt viel über sein Selbstverständnis als Songwriter offenbart.
Als wäre das Staatsoberhaupt eigentlich ein Westernheld gewesen
Er erzählt von Musikern, die in prägten, aber vor allem von Büchern, die ihn seit seiner Schulzeit begleiten. Etwa Homers „Odyssee“. Er spricht über die Stelle, an der Odysseus dem heldenhaft gefallenen Achilles in der Unterwelt begegnet und der ihm gesteht, dass das mit dem Heldentum alles ein Missverständnis sei und er lieber ein niederer Tagelöhner wäre als ein König im Reich der Toten, ja dass das Leben dem Tod in jedem Fall vorzuziehen sei. „Und so ist es auch mit den Songs“, erklärte Dylan. „Unsere Songs sind lebendig im Land der Lebenden. Aber sie sind etwas anderes als Literatur. Sie sollen gesungen, nicht gelesen werden. So wie die Worte in den Dramen Shakespeares auf der Bühne gesprochen werden sollen, so sollen die Texte von Songs gesungen und nicht auf der Buchseite gelesen werden.“
Es scheint fast, als habe er „Murder Most Foul“ als Beweis für die Richtigkeit dieser Forderung geschrieben. Der Song ist erhaben, am Ende gar erhebend. Auf dem Papier jedoch wirkt der Text in seinen Belehnungen aus Song- und Bibeltexten, historischen Quellen und mit seinen auf die mündliche Überlieferung verweisenden Floskeln leichenblass und stellenweise unfreiwillig (?) komisch. „President Kennedy was a-ridin’ high“, liest man da etwa in der ersten Strophe, als wäre das Staatsoberhaupt eigentlich ein Westernheld gewesen. Aber Moment, war er das nicht auch? Ein mythisch verklärter strahlender Heros, der für das Zerstören der alten und das Errichten einer neuen, gerechteren Ordnung stand, der die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verkörperte.
Vier Wochen nach „Murder Most Foul“ erschien der nächste neue Dylan-Song, „I Contain Multitudes“, der Titel war wieder ein Zitat, diesmal aus „Song Of Myself“ vom amerikanischen Nationaldichter Walt Whitman, mit dem Dylan zu Beginn seiner Karriere oft verglichen wurde und dessen Einfluss vor allem in seinen epischen Balladen von „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ über „Desolation Row“ bis „Highlands“ zu spüren ist. „Song Of Myself“ ist ein amerikanisches Epos in freien Versen, in dem statt muskelbepackter, gewitzter, archaischer Heroen das Ich zum Helden wird: „I celebrate myself and sing myself/ And what I assume you shall assume/ For every atom belonging to me as good belongs to you.“ Eine bessere Beschreibung für das, was Bob Dylan seit fast sechzig Jahren tut, lässt sich schwer finden. Der Songwriter scheint mit diesen beiden Songs sein Programm aufzudecken und zu bekräftigen, was der Nobel-Juror Horace Engdahl in seiner Laudatio über ihn sagte. „Am unwahrscheinlichsten Ort von allen – auf der kommerziellen Schallplatte – gab er der Sprache der Dichtung den erhabenen Stil zurück, der seit den Romantikern verloren gegangen war.“
Dylan macht das mit den Mitteln des Folk (und des Pop), stellt das Sakrale neben das Profane, reimt Whitmans titelgebende Wendung mit „I paint landscapes, and I paint nudes“, „I drive fast cars, and I eat fast foods“ und „I’ll play Beethoven’s sonatas and Chopin’s preludes“, referiert auf Edgar Allan Poe und William Blake, zitiert Jimmie Rodgers, David Bowie, name-checkt Indiana Jones neben Anne Frank und „them British bad boys, The Rolling Stones“. Was wie eine aus dem Zettelkasten gezogene Lyrik des Zufalls wirkt, entfaltet sich allmählich zu einer Selbstbeschreibung; aus dem Gesammelten wird das Persönliche.
„I Contain Multitudes“ und „Murder Most Foul“ waren eindrucksvolle Vorboten eines Albums. „Rough And Rowdy Ways“ heißt es nach einem alten Song von Jimmie Rodgers. Es ist Dylans erstes mit eigenen neuen Liedern seit „Tempest“ von 2012. So lange hatte er sich noch nie Zeit gelassen. Kann sein, dass es sein letztes Album ist, auf jeden Fall ist es sein erstes als Nobelpreisträger.
In den vergangenen Jahren war Dylan als Maler, Gestalter von Metalltoren und Maskottchen seiner Whiskeymarke Heaven’s Door tätig. Vor allem aber als Interpret. Jahrein, jahraus hielt er auf den Bühnen dieser Welt seine alten Lieder am Leben und sang Standards der klassischen amerikanischen Songkomponisten, die er auch für die als Hommage an Frank Sinatra angekündigten Alben „Shadows In The Night“, „Fallen Angels“ und „Triplicate“ aufgenommen hatte. Solche Abschweifungen sind in Dylans Karriere nicht ungewöhnlich. Oft waren sie Inspiration und Übung für eine Wandlung: Zwischen dem surreal-noktambulen Folk-Rock „Blonde On Blonde“ und dem bibelfesten kargen Folk von „John Wesley Harding“ lag die Beschwörung der amerikanischen Songtradition, die man später die „Basement Tapes“ nannte, zwischen dem von Kinderliedern inspirierten All-Star-Rock von „Under The Red Sky“ und dem jenseitigen Blues von „Time Out Of Mind“ erschienen die Interpretationen alter Blues-Balladen und Folksongs auf „Good As I Been To You“ und „World Gone Wrong“.
Ein konzentrierteres Werk als der dunkle, ausufernde Vorgänger „Tempest“
Wer in den Liedern auf „Rough And Rowdy Ways“ nun nach Spuren von Sinatra und Tin-Pan-Alley-Liedern sucht, wird sie finden, hat Dylan doch in den Songtexten unter anderem die Titel der klassischen Alben „Only The Lonely“ und „In The Wee Small Hours“ versteckt. Auch seine herrliche neue Schnulze „I’ve Made Up My Mind To Give Myself To You“ kann man sich in einer Interpretation von „Ol’ Blue Eyes“ gut vorstellen. Aber der Einfluss ist subtiler, liegt vor allem in der Art, wie Dylan seine Tourband an diesen Standards geschult hat, um sie auf einen neuen Sound zu tunen, der gar nicht rough and rowdy klingt, sondern klar und kontrolliert: „Rough And Rowdy Ways“ spiegelt die fantastischen Konzerte der letzten Jahre, in denen Dylan seinen Act revitalisiert hat, äußerst prononciert singt, statt zu raspeln und Silben zu verschlucken, die Band vom Klavier aus dirigiert, statt entrückt vor sich hin zu orgeln. Und so ist dies ein konzentrierteres Werk als der dunkle, ausufernde Vorgänger „Tempest“. Die musikalischen Formen sind die gleichen geblieben. Die Themen auch, es geht weiterhin um Geschichte, Niedergang und Erlösung. Und trotzdem scheint sich in der Art, wie sie behandelt werden, etwas verändert zu haben.
In einem der neuen Songs etwa richtet der Sänger sich persönlich an die Mutter der Musen, die griechische Göttin der Erinnerung Mnemosyne, und bittet sie, für ihn von den Bergen, dem tiefen dunklen Meer, den Seen und den Wäldern zu singen, von Ehre, Schicksal, Ruhm, Liebe und Helden zu singen, von den Bürger- und Weltkriegsgenerälen, „who cleared the path for Presley to sing/ Who caught the path for Martin Luther King“.
Schon irritierend, wenn in einem Popsong (im weiteren Sinne) plötzlich die Taten von Generälen gefeiert werden, auch wenn sie Befreier waren. Noch dazu, wenn der Autor von „John Brown“ und „Masters Of War“ ihn singt. Doch in „Chronicles“ schreibt Dylan, wie er sich als junger Mann auf morbide Art vom Hauptwerk des preußischen Militärwissenschaftlers Carl von Clausewitz, „Vom Kriege“, angezogen fühlte und dass er, bevor er das Songschreiben für sich entdeckte, gar zur Militärakademie in West Point hatte gehen wollen: „Ich hatte mir oft vorgestellt, wie ich in einer heroischen Schlacht starb statt im Bett. Ich wollte ein General mit einem eigenen Bataillon werden und rätselte, welcher Schlüssel einem wohl das Tor zu diesem Wunderland öffnet.“
Glücklicherweise fand er diesen Schlüssel nicht. Doch er wurde zu einem der wenigen Songwriter, die Kriege nicht nur als ungerecht und verachtenswert verurteilen, sondern auch als Teil unserer Geschichte anerkennen. Er hat ein historisches Bewusstsein und beschwört die Göttin der Erinnerung: „Mother of Muses, wherever you are/ I’ve already outlived my life by far/ Let me lay down a while in your sweet loving arms/ Wake me, shake me, free me from sin/ Make me invisible like the wind/ Got a mind to ramble, got a mind to roam/ I’m traveling light and I’m a-slow coming home.“
Er scheint sich nicht länger hinter der Geschichte und den historischen Quellen zu verstecken, er schaut dahinter hervor, legt Spuren, denen man nicht nur als Dylanologe folgen kann. Diese Lieder funktionieren wie Geschichten, in deren Mittelpunkt immer derselbe widersprüchliche Protagonist zu stehen scheint, halb Trickster, halb Weltgeist. Einer wie der listenreiche, eine halbe Ewigkeit umherirrende Odysseus, mit dem Dylan sich zu identifizieren scheint. „Auch dein Wein wurde mit Drogen versetzt. Auch du hast dein Bett mit der falschen Frau geteilt. Auch du hast im Bann magischer, süßer Stimmen gestanden, mit fremdartigen Melodien“, wendete er sich in seiner Nobelpreisrede an ein früheres Ich (und seine Zuhörer). „Auch du bist weit gekommen und wurdest weit zurückgeweht.“ Und auch Dylan hat sich als junger Mann, wie Odysseus gegenüber seinen archaischen Kampfgefährten vor Troja, eine heldenhaftere Herkunft angedichtet und sich durch das Erzählen seiner Irrfahrten selbst neu erfunden. „I search the world over/ For the Holy Grail/ I sing songs of love/ I sing songs of betrayal“, singt er nun im räudigen Jump-Blues „False Prophet“. Im unheimlichen „My Own Version Of You“ zieht er durch die Klöster und Leichenhäuser, um die nötigen Körperteile zu finden, mit denen er wie Victor Frankenstein sein eigenes Wesen zusammenflicken will, mischt den Pacino aus „Scarface“ mit dem Brando aus „Der Pate“, begegnet Freud und Marx in der Hölle und erwartet das Jüngste Gericht in der Black Horse Tavern an der Armageddon Street. In „Black Rider“ konfrontiert er einen mysteriösen Rivalen (oder ist es gar der Tod?), im Boogie-Rock „Goodbye Jimmy Reed“ hält er sich an der Bibel fest und erliegt schließlich doch der erotischen Versuchung, in „Crossing The Rubicon“ zieht er gottesfürchtig in den Krieg gegen die vergehende Zeit, und im letzten Stück der ersten LP/CD von „Rough And Rowdy Ways“ (die zweite ist allein „Murder Most Foul“ vorbehalten) landet er schließlich im Paradies.
Das Lied trägt den Titel „Key West“, mit dem geheimnisvollen, in Parenthese gesetzten Zusatz „Philosopher Pirate“ (als die Plattenfirma Sony das Album digital verschickte, hieß der Song rätselhafterweise „Key West (Pilot Philosopher)“). Es beginnt mit einem Zitat aus dem Folksong „White House Blues“, der vom nach einem Attentat langsam an einer unentdeckten Kugel verreckenden US-Präsidenten William McKinley erzählt, dann trifft man den Sänger, der am Golf von Mexiko nach Liebe und Inspiration sucht und mit der Welt nur über Piratensender aus Luxemburg und Budapest verbunden ist. Er erinnert sich an die Dichter Corso, Ginsberg und Kerouac, die wie er auf der falschen Seite der Gleise geboren wurden, reflektiert über das Leben, erzählt davon, wie er im Alter von zwölf Jahren mit einer Prostituierten vermählt wurde und immer noch glücklich sei: „We’re still friends, she’s still cute.“ Key West sei der Ort, an dem man Unsterblichkeit finden könne, singt Dylan, „Key West is paradise divine“.
Was das alles zu bedeuten hat, kann man zunächst nur erahnen. Man sucht nach dem Schlüssel, lässt sich dann aber von Dylans mystischem Raunen und dem sehnsüchtigen Akkordeon überwältigen. „Dass ein Song einen bewegt, allein darauf kommt es an“, sagte er in seiner Nobelpreisrede. „Man muss nicht wissen, was er bedeutet. Ich habe in meine Songs alle möglichen Dinge hineingeschrieben. Und ich mache mir keine Gedanken darüber, was das alles bedeuten könnte.“
Dylan beendete die Rede mit den ersten Worten aus Robert Fitzgeralds Übersetzung der „Odyssee“, die 1961 erschien – in dem Jahr also, als er nach New York trampte, um sein moribundes Idol Woody Guthrie im Krankenhaus zu besuchen und Songwriter zu werden: „Singe in mir, o Muse, und durch mich erzähl die Geschichte.“ So schön und klar wie auf „Rough And Rowdy Ways“ hat Dylans Muse selbst in seinem epochalen Spätwerk selten gesungen. Hoffen wir, dass sie ihn nicht allzu bald nach Hause gehen lässt.