Bob Dylan – Ein Land voller Geister
Geschichte und Geschichten, Apokalypse und Lebensbilanz: Warum "Tempest" ein Meisterwerk ist, wie das Album entstand und was Dylan selbst dazu sagt
Es war ein regnerischer Sommerabend an der Atlantikküste von New Jersey. Irgendwer muss sich an diesem Typen gestört haben, der im langen schwarzen Regenmantel durch die hispanische Arbeitersiedlung von Long Branch strich, und meldete ihn bei der Polizei. Officer Kristie Buble, die eh gerade in der Gegend war, fand den kleinen Mann unweit der Stelle, die der Anrufer beschrieben hatte, eine Straße hinunter gehen. Er war vollkommen durchnässt und wirkte verloren in den zwei viel zu großen Regenmänteln, die er übereinander trug. Seine Beine steckten in einer klammen schwarzen Jogginghose, die er in seine Gummistiefel gesteckt hatte. Als er sich nach ihrem „Excuse me, Sir“ zu Kristie umdrehte, konnte sie sein Gesicht kaum erkennen. Seine Augen waren von gleich drei Kapuzen (unter den Regenmänteln trug er noch einen Hoodie) verdeckt. Seine knittrigen Wangen, der faltige Hals und der altmodische, wie mit einem Kajalstift angemalte Schnauzer unter seiner markanten Nase deuteten darauf hin, dass er wesentlich älter war als sein Outfit vermuten ließ. Er schien sich nicht nur am falschen Ort, sondern auch in der falschen Zeit aufzuhalten. „Was machen Sie denn hier?“, fragte Kristie. „Ich suche nach einem Haus, das ich kaufen kann“, antwortete er mit einem Akzent, der auf eine Herkunft aus dem Mittleren Westen schließen ließ. Seiner Erscheinung nach zu urteilen, wird er sich nicht mal eine der leer stehenden Bruchbuden in dieser Gegend leisten können, dachte Kristie.
„Wie heißen Sie?“, fragte sie. Der Alte hob überrascht seine Augenbrauen, seine Wangen zogen sich zusammen und sein Mund wurde ganz klein, als würde er ein Bonbon lutschen. „Bob Dylan„, murmelte er. Kristie war erst 24, aber von Bob Dylan hatte sie gehört. Sie hatte ihn auf alten Fotos gesehen. Und soviel sie wusste, sah dieser sonderliche Streuner ihm kaum ähnlich. „Okay, Bob“, sagte sie in einem leicht respektlosen Tonfall, den sie für Obdachlose und Betrunkene reserviert hatte, „was machst du hier in Long Branch?“
Der Poet Laureate des Rock’n’Roll, die Stimme der Hoffnung der 60er-Jahre-Gegenkultur, der Typ der Folk mit Rock ins Bett zwang, sich in den Siebzigern Make-up anlegte, im Nebel des Drogenmissbrauchs verschwand und schließlich Jesus fand, der Ende der Achtziger als „War-einmal“ abgeschrieben wurde, dann plötzlich ein paar Gänge hochschaltete und in den späten Neunzigern einige der stärksten Aufnahmen seiner Karriere veröffentlichte, schien eher amüsiert zu sein als verärgert.
Vielleicht entspann sich im Folgenden einer dieser Dialoge, wie sie die sonderbaren männlichen Protagonisten aus seinen Liedern öfter mit jungen Frauen führen. Etwa der hadernde Hagestolz in „Highlands“ mit der langbeinigen Kellnerin, der maulfaule Herumtreiber mit seiner Göttergattin in „Isis“ oder der unverschämte Lover mit dem genervten Mädchen in „4th Time Around“. Bob Dylan konnte sich jedenfalls nicht ausweisen, und so musste er in jenem Juni 2009 die junge Polizistin ins Hotel begleiten, um seine Identität zu verifizieren.
Diese kuriose Geschichte aus dem Juli 2009 machte im Internet schnell die Runde, wurde weitererzählt, ausgeschmückt und – so wie hier – gedruckt. Am Ende war es natürlich ein Dylanologe und kein Polizist, der das Motiv für den abendlichen Ausflug des Songwriters aufdeckte. Ganz in der Nähe des Ortes, an dem er aufgelesen worden war, befindet sich das kleine Häuschen, in dem Bruce Springsteen 1974 die Lieder für „Born To Run“ schrieb. Dylan liebt solche Orte, die von der Geschichte einmal kurz angehaucht wurden, an denen etwas entstanden ist, das den Lauf der Welt verändert hat. Er hat die Geburtsstätten von Buddy Holly und Roy Orbison besucht; Anfang Mai 2009 wurde er in einer Busreisegruppe identifiziert, die das Haus an der Menlove Avenue 251 in Liverpool besichtigte, in dem John Lennon bei seiner Tante Mimi aufgewachsen war. Stundenlang soll er dort durch alte Fotoalben geblättert haben. Im November 2008 stand er mit Cowboyhut, in Lederhose und Biker-Boots wie einer dieser Cowboys, die in David-Lynch-Filmen immer hinter Diners lauern, im Vorgarten eines Hauses im kanadischen Winnipeg. Der junge Neil Young hatte hier mit seiner Mutter gelebt. „Ich wollte sein Schlafzimmer sehen“, hat Dylan dem Rolling Stone später erklärt. „Wo er aus dem Fenster schaute. Wo er träumte. Wo er jeden Tag aus der Tür ging. Ich wollte sehen, was in dieser Gegend von Winnipeg los war.“
Es ist nicht allein die Nostalgie, die Bob Dylan an diese Orte treibt. Bekanntermaßen ist er ja ein Historiker und Mythenforscher. Wenn sich der Staub gelegt hat, die Geschichte zu einem steinernen Bild erstarrt ist, sich Rosen und Legenden darum ranken, wird sie für ihn interessant. Dann taugt sie als Material für seine Songs. Könnte daran liegen, dass er das Songschreiben an den alten Balladen aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg lernte. Die „irrsinnige moderne Welt“ habe ihn als jungen Songwriter in Greenwich Village nicht sonderlich interessiert, schreibt Bob Dylan in seinem fragmentierten Bildungsroman titels „Chronicles“, den manche auch den ersten Teil seiner Biografie nennen. Die Mythen um den starken Schienenleger John Henry und den Outlaw John Hardy, die Flut von Galveston und der Untergang der Titanic seien für ihn in seinen Lehrjahren viel interessanter gewesen. „Das alles war gegenwärtig und lag offen zu Tage.“
Als im Sommer 1962 seine ersten Songs auf einer LP erschienen, mit deren Titel er sich endgültig von Robert Allen Zimmerman in Bob Dylan verwandelte, jährte sich der Untergang des unsinkbaren Schiffs zum 50. Mal. Es hat dann noch einmal ein halbes Jahrhundert gedauert, bis das Lied über die Titanic fertig war. Es ist das Titelstück seines 35. Studioalbums (wenn man die unbeliebte, unautorisierte Coverversionensammlung „Dylan“ von 1973 mitzählt). „Tempest“, Sturm, heißt dieser 14-minütige Walzer mit dem Jahrhundert. Historiker werden natürlich wissen, dass die Katastrophennacht vom 14. auf den 15. April 1912 windstill war und sternenklar.
„Leo took his sketchbook/ He was often so inclined/ He closed his eyes and painted/ The scenery in his mind“, singt Dylan zu einer Shantymelodie, und man denkt bei Leo natürlich sofort an Leonardo di Caprio als mittelloser Künstler Jack Dawson in James Camerons Untergangsblockbuster. Doch wenn man sich mit der Fiktion nicht begnügen will, kann man auf der Passagierliste der Titanic tatsächlich einen Leo finden, einen Namensvetter von Bob Dylan, einen historischen Doppelgänger, wenn man so will: den 29-jährigen Bauern aus Todtmoos im Schwarzwald namens Leo Zimmermann.
Die Passagiere drehen durch, kämpfen bis auf den Tod, ein Bordellbesitzer und ein Bischof treten auf, die Geschichte wird zur Allegorie. „Die Leute werden sagen:, Also, das ist nicht besonders nah an der Wahrheit'“, erklärte der 71-jährige Dylan dem US-Rolling Stone in einem ersten Exklusiv-Gespräch. „Aber einen Songwriter kümmert es nicht, ob etwas der Wahrheit entspricht. Er interessiert sich dafür, was hätte passieren sollen oder passieren können. Das ist eine andere Form von Wahrheit. So wie Menschen, die Shakespeare-Stücke lesen, aber noch nie eines gesehen haben. Sie benutzen einfach seinen Namen.“ Dylan weist im Namen der Titanic also auf etwas anderes hin. Auf die conditio humana vielleicht oder auf die modernen Zeiten, „the New Dark Ages“, wie er sie im Begleittext seines Folkalbums „World Gone Wrong“ nannte. „Tempest“, das ist der Wind des Fortschritts, mit dem wir aus dem Paradies geweht werden. Und die Zeilen „He closed his eyes and painted/ The scenery in his mind“ beschreiben den Songwriter, der die Katastrophen dieser irrsinnigen modernen Welt vor seinen geschlossenen Augen sieht.
Seine ursprüngliche Absicht sei gewesen, ein religiöses Album zu machen, wie Bob Dylan meinem amerikanischen ROLLING STONE-Kollegen Mikal Gilmore erzählte. Doch er hätte einfach nicht genügend religiöse Lieder gehabt, als er im Januar diesen Jahres mit seiner Tourband und dem Gitarristen, Violinisten und Akkordeonspieler David Hidalgo von Los Lobos in Jackson Brownes Groove Masters Studio am Memorial Park in Santa Monica gegangen sei. „Ich wollte dezidiert religiöse Songs. Doch man braucht sehr viel mehr Konzentration, um das zehn Mal entlang eines roten Fadens hinzukriegen, als es nun gebraucht hat, die Platte zu machen, die am Ende rausgekommen ist.“
Dabei ist „Tempest“ voller Gleichnisse, Sündenfälle und biblischer Katastrophen. Wie eigentlich alle großen Dylan-Alben, denn der Songwriter hat seine Kunst auf dem Fels der Religion gebaut, auf gottesfürchtigen Liedern aus Country und Folk, Gospel und Blues. „All meine Überzeugungen kommen aus diesen alten Songs“, hat er 1997 in einem Interview mit der „New York Times“ gesagt. „Man kann meine Philosophie in diesen alten Songs finden. Ich glaube an einen Gott über Zeit und Raum. Aber wenn die Leute mich dazu befragen, ist mein erster Impuls, sie zurück zu diesen alten Songs zu leiten. Ich glaube an Hank Williams, wenn er, I Saw The Light‘ singt. Ich habe das Licht auch gesehen.“
Im letzten Jahr erschien „The Lost Notebooks Of Hank Williams“, ein Album, für das Dylan Künstler aus Pop und Country versammelt hatte, um einige hinterlassene Texte des großen amerikanischen Songwriters zu vertonen. Und zu Beginn von „Tempest“ rechnet man jeden Moment damit, dass Williams seinen Twang-Tenor in das countryeske Intro hebt, doch dann ist es Dylan, der da bellt (und unverkennbar auch orgelt). „Listen to that Duquesne whistle blowing/ Blowing like it’s gonne sweep my world away.“ Der Sänger befindet sich in dem Geisterzug, der schon in dem alten Folksong „The Wreck Of The Flyer Duquesne“ besungen wird. Der Himmel reißt auf, die Gottesmutter ruft, er fragt sich, ob die alte Eiche wohl noch steht, auf die sie als Kinder immer geklettert sind.
Im nächsten Stück, „Soon After Midnight“, spielt die Band zum Schwof, doch der Sänger ist allein, ein Mädchen hat sein Geld genommen, eine scharlachrot gewandete Hure taucht auf, und eine Mary, ganz in grün, eine gute Fee und eine Leiche. Dylan spricht Liebesschwüre zur Geisterstunde. Dann, in „Narrow Way“, schwebt die Angebetete schon in himmlischen Sphären, während der Sänger sich noch ziemlich undurchsichtig durchs irdische Höllental schlägt. „This is hard country to stay alive in/ Blades are everywhere/ I’ve been breaking my skin.“ Der nach sieben Jahren Pause zur Tourband zurückgekehrte Gitarrist Charlie Sexton lässt den rustikalen Jump Blues krachen und beißen, Dylan belfert und krächzt und ist ohne Frage in seinem Element. Und das war ja nicht immer so in den vergangenen 50 Jahren.
Als er Mitte der Achtziger – nach seiner christlichen Phase, die manch inspirierten Gospelsong hervorgebracht hatte – die Religion zumindest öffentlich hinter sich ließ, schien er heimatlos, jenseits von Gut und Böse und Meilen entfernt vom eigenen Ich. Ein Video zeigt ihn, wie er im Januar 1985 in einem Studio in Los Angeles vier Zeilen für die Wohltätigkeitssingle „We Are The World“ einsingen muss. Der Produzent Quincy Jones, der sich an diesem Tag wohl zum Ziel gesetzt hat, jeden Künstler wie sein eigenes Klischee klingen zu lassen, hüpft begeistert um ihn herum, doch Dylan schüttelt nur den Kopf. Das eingespielte Playback geht ihm auf die Nerven, und er findet nicht den richtigen Ton. Er klingt zwar immer noch wie Bob Dylan, aber er fühlt sich nicht mehr so.
Zwei Jahre später dachte er dann sogar ernsthaft ans Aufhören. In „Chronicles“ beschreibt er, wie eine regelrechte Kette von Epiphanien ihn aus dieser Identitätskrise befreite. Und er lernte wieder, Bob Dylan zu sein. Jeden Abend neu. Es war ein langer Weg mit vielen Rückschlägen, wie Bootlegs aus dieser Zeit mit Titeln wie „Can You Please Tell Me What I’m Doing Here?“ und „Name That Tune“ bezeugen. Das letztgenannte dokumentiert übrigens Dylans Gastspiel in der Stuttgarter Liederhalle am 17. Juni 1991 – nach Meinung vieler sein miesestes Konzert überhaupt. Nur die Fangemeinde bemerkte die vielen Sternstunden, die in den nächsten Jahren folgten. Der Rest der Welt schien Bob Dylan langsam zu vergessen.
Eine lebensgefährliche Herzerkrankung brachte ihn im Mai 1997 zurück in die Schlagzeilen, und zwangsläufig erinnerte man sich wieder an Dylan. Der Kulturhistoriker Greil Marcus half da ein bisschen nach, als er in seinem zu dieser Zeit erschienenen Buch „Invisible Republic“ die Essenz des Dylanschen Schaffens gewohnt nebulös in Worte fasste. Die Musik, die der Songwriter nach seinem Motorradunfall 1967 mit den Musikern von The Band aufnahm (und die später zu einem viel zu kleinen Teil als „The Basement Tapes“ veröffentlicht wurde), erzähle vom gleichen Ort wie die anarchischen, unheimlichen und auf ethnographische Weise wilden Folksongs aus den Zwanzigern und Dreißigern, die der Beatnik Harry Smith auf seiner „Anthology Of American Folk Music“ kompiliert hatte, schreibt Marcus. Er nennt diesen Ort „the old weird America“.
Einige Monate nach „Invisible Republic“ kam „Time Out Of Mind“, Dylans erstes Album mit eigenen Kompositionen in sieben Jahren. Es war keine große Transferleistung nötig, um Marcus‘ Analyse der „Basement“-Aufnahmen auf das neue Werk anzuwenden, denn die Lieder klangen tatsächlich, als hätte Dylan ein lang vergessenes Amerika anhand von Fragmenten alter Folk- und Bluessongs rekonstruieren wollen. Das Album sei wie eine Karte, die man nach dem ersten Ansehen wegwerfen könne, weil man sie nie wieder vergessen werde, schrieb Marcus in einer Besprechung des Albums. Kritiker, Schriftgelehrte und Fans hatten sich nach kürzester Zeit jeden Feldweg und jedes noch so kleine Kaff des old weird America ganz genau eingeprägt, um sich nie wieder zu verlaufen in Bob Dylans Werk. Selbst das bei Erscheinen 1990 arg geschmähte Album mit apokalyptischen Kinderliedern, „Under The Red Sky“, ließ sich nun neu erkunden.
Natürlich muss man „Time Out Of Mind“ nicht wie eine Landkarte lesen. Man kann darin auch einen tieftraurigen und hochkomischen Versuch über die Liebe, das Alter und den Tod sehen. Es gibt einen Song auf „Tempest“, der an diese Topoi anknüpft: „Long And Wasted Years“. „It’s been such a long long time since we loved each other and our hearts were true/ One time, for one brief day, I was the man for you“, singt Dylan und lässt es wie einen Triumph über die Zeit klingen. Er rettet diese Aufmüpfigkeit bis in den nächsten Song, gibt sich böse, sardonisch, rachsüchtig und raspelt mit wunden Stimmbändern: „I drink my fill and sleep alone/ I pay in blood but not my own.“
Plötzlich hat „Tempest“ eine Dringlichkeit und Tiefe, die auf „Together Through Life“, dem eher hingeworfenen letzten Album mit eigenen Songs von 2009, fehlte. Die Lieder, die Dylan damals (größtenteils mit seinem Freund, dem Grateful-Dead-Texter Robert Hunter) für einen desaströsen Film des „La Vie En Rose“-Regisseurs Olivier Dahan titels „My Own Love Song“ schrieb, schienen ungewohnt leicht und humorvoll und erinnerten ein bisschen an Alben wie „New Morning“ oder „Nashville Skyline“. Doch von Bob Dylan, dem Propheten aus dem alten unheimlichen Amerika, erwartete man mehr. Homerische Epen, ovidsche Elegien.
In der zweiten Hälfte von „Tempest“ bekommt man all das. „Scarlet Town“ etwa ist ein dunkles, romantisches und unheimliches rewrite der alten Ballade „Barbara Allen“. „In Scarlet Town the end is near/ The seven wonders of the world are here/ The evil and the good living side by side/ All human forms seem glorified.“ Dylan spielt Klavier, ein Banjo wird gepickt, eine Fiddle weint sehnsüchtig, an einer Stelle schleicht sich eine E-Gitarre ein, die verdammt nach Mark Knopfler klingt. Das neunminütige „Tin Angel“ ist noch besser. Eine Tragödie um verlorene Liebe von Shakespeare’schem Ausmaß, die Dylan ausgehend von einer Zeile aus Woody Guthries „Gypsy Davy“ erzählt. Er zieht ein großes Drama auf wie einst in seiner Folkballade „Ballad Of Hollis Brown“ von 1964.
Tempest“ ist Dylans Rückkehr zum Storytelling. Natürlich fehlt die Entrüstung von damals, als man ihn noch einen Protestsänger nannte. Doch wenn seine von der Zeit gebrochene Stimme aus dem Auge des Hurrikans der Geschichte von dreams and schemes, Träumen und Intrigen, erzählt, sind die moralischen Narrationen seiner Anfangstage immer präsent. Es gibt Gesetze und einen Gott in diesem unheimlichen Land, von dem er kündet.
Bob Dylan hat das neue Album unter seinem Pseudonym Jack Frost wieder selbst produziert. Seit er 1999 mit seiner damaligen Tourband in einem New Yorker Studio das später Oscar-prämierte „Things Have Changed“ für Curtis Hansons Film „Wonder Boys“ in nur fünf Stunden aufnahm und mischte, misstraut er aufwendigen Produktionen und soundtechnischem Voodoo. Im Studio ist er nicht gern länger als unbedingt nötig. Er muss nicht experimentieren. Er muss sich nur erinnern. Und die treuen Musiker, die ihm jedes Jahr um die Welt folgen, sind ihm auch hier auf den Fersen. Für „Tempest“ mussten sie in der Zeit noch weiter zurückreisen als für die musikalischen Anverwandlungen auf dem Album in Anführungszeichen, „,Love And Theft'“ von 2001. „Tempest“ klingt so dunkel und geisterhaft wie Dylans Bürgerkriegsepos „‚Cross The Green Mountain“, das er 2003 für den Soundtrack des Historiendramas „Gods And Generals“ aufnahm. Man muss aber kein Folkkenner oder Historiker sein, um dieses Album zu lieben. Man wird einer, wenn man es hört.
Ein Vierteljahrhundert ist nun vergangen, seit Bob Dylan überlegte, in Rente zu gehen. In dieser Zeit gewann er neun Grammys, und seine Alben erreichten die Spitze der Charts. Er wurde mit dem Oscar und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, und der Literaturnobelpreis wird vermutlich früher oder später folgen. Im Mai dieses Jahres verlieh ihm Barack Obama die höchste zivile Auszeichnung des Landes: die Presidential Medal of Freedom. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die bereits 2011 bekommen, und Dylans Mundwinkel machten der Vorjahrespreisträgerin bei der Zeremonie alle Ehre. Stumm ertrug er die präsidialen Floskeln, nahm mit einem Augenbrauenzucken hin, dass das Staatoberhaupt in der sehr kurzen Laudatio seinen Geburtsort von Duluth am Lake Superior 140 Kilometer nordwestlich nach Hibbing verlegte. Ohne die Sonnenbrille abzunehmen trat er nach Obamas jovialem „C’mon, Bob“ ans Pult und ließ sich teilnahmslos die Medaille umlegen. Dylan lässt sich nicht gern vereinnahmen von politischen Würdenträgern. Auch nicht von Obama, dessen Autobiografie „Dreams From My Father“ er begeistert gelesen hat und über den er vermutlich mehr weiß, als der über ihn. „Er ist wie ein fiktiver Charakter, nur dass er echt ist“, hat Dylan 2009 in einem auf seiner Website veröffentlichten Interview über den Präsidenten gesagt.
Seinen eigenen Bericht zur Lage der Nation trägt er auf „Tempest“ zum Riff von Muddy Waters‘ „Mannish Boy“ vor. „All the early Roman kings/ In their shark skin suits/ Bow ties and buttons/ High top boots“, singt er und gibt den gut gelaunten Hiobsboten. „They buy and they sell/ They destroyed your city/ They’ll destroy you as well.“ Die Gegenwart hallt in der kühlen Gruft der Vergangenheit. „Tempest“, das ist der Wirbel der Zeit (lat. tempus), in den wir geraten, wenn sich die Geschichte wiederholt.
Am Ende, als die Titanic schon gesunken ist, sticht ein weiteres Schiff in See, in die gleiche Richtung, mit ähnlich tragischem Ausgang. An Bord John Lennon – in Liverpool geboren, in New York City ermordet. Dylan erzählt von den Quarrymen, von Hamburg, vom Ruhm und vom Tod. Und zwischen den Zeilen läuft immer sein eigenes Leben mit, denn er hat dem Lied den Titel eines alten Folksongs gegeben, den er vor 50 Jahren, kurz vor Erscheinen seines ersten Albums, im Radio sang: „Roll On, John“. Die erste Zeile dieses Lennon-Tributs stammt vom Bluesgitarristen Lonnie Johnson, dem Dylan in „Chronicles“ gleich mehrere Seiten widmet. Und wenn er die „A Day In The Life“-Zeile „I read the news today, oh boy“ wie einen schweren Seufzer klingen lässt, evoziert er eine emotionale Nähe, die die beiden Songwriter zu Lennons Lebzeiten vermutlich nie hatten. Vielleicht haben sie zueinander gefunden, als der landstreichende Historiker in einem Kinderzimmer an der Menlove Avenue stand. Mit einem Notizbuch in der Hand wie Leo auf der Titanic.
Als Wiegenlied lässt Dylan sein Nachtstück „Tempest“ ausklingen: „Tiger, tiger burning bright/ I pray the lord my soul to keep/ In the forest of the night/ Cover him over and let him sleep.“ Und in diesem Crossover aus William Blake und Kindergebet klingen die Worte des alten Magiers Prospero aus Shakespeares „Der Sturm“ nach: „We are such stuff/ As dreams are made on, and our little life/ Is rounded with a sleep.“ Bob Dylan erzählt aus seinen Träumen, während Amerika schläft.
8 Dinge
…die Sie nicht über Dylan wussten
Er boxt:
In einem Club in Santa Monica soll Dylan gelegentlich trainieren. Schauspielerin Gina Gershon schlug ihn bei einem Sparring 1996 k.o. Dylan: „Von Zeit zu Zeit brauche ich eine gute Frau, die mir in den Hintern tritt.“
Er schwindelt:
Zu Beginn seiner Karriere erzählte Dylan Journalisten, er sei ein Waisenkind. Seine Eltern waren nicht amüsiert.
Er modelt:
2004 trat Dylan an der Seite der schönen Adriana Lima in einem Werbespot für die Dessous-Fima Victoria’s Secret auf. „Er ist den Anweisungen des Regisseurs konzentriert gefolgt“, lobte Marketingchef Ed Razek.
Er winzert:
Ein italienischer Rotwein, Jahrgang 2002, trägt den Namen „Planet Waves“. Dylan gab dem Fan und Winzer Antonio Terni sein O.K.
Er golft:
„Wie kommt es, dass alle so an meinem Handicap interessiert sind?“, fragte Dylan einen Journalisten.
Er hat Rücken:
Seit Jahren leidet Dylan unter Rückenproblemen. Er greift deshalb relativ selten auf der Bühne zur Gitarre, lässt sich besonders leichte Instrumente bauen.
Er hält Hunde:
Sechs Mastiffs sollen auf seinem Anwesen in Malibu leben. Er nehme die Hunde auch gern mit auf Tour, schrieb Dylan.
Er schweisst:
Jack White hat von Dylan eine Einführung in das Handwerk bekommen, Paul Simon hat seinem Freund ein selbstgemachtes Gartentor abgekauft.
6 Alben
Fünf Wegbereiter & das neue Meisterwerk
„The Times They Are A-Changing“, 1964
Dylan offenbart sich als Historiker und Erzähler moralischer Geschichten.
„The Basement Tapes“, aufgenommen 1967
Dylan und The Band (er-)finden das alte, unheimliche Amerika.
„John Wesley Harding“, 1967
Die King James Bible wird zum wichtigen Referenzpunkt. Die klare Sprache steht im Dienst der gleichnishaften Geschichten.
„The Bootleg Series Volumes 1-3“, 1991
Auf dieser Raritätensammlung findet sich das Meisterstück“Blind Willie McTell“ von 1983. Dylan verlegt Ingmar Bergmans „Das Siebente Siegel“ nach East Texas und beschwört die „ghosts of slavery“.
„Time Out Of Mind“, 1997
Dylan geht durch verlassene Straßen eines unheimlichen Amerikas und rezitiert alte Bluessongs, als könnten sie ihm den Weg weisen.
„Tempest“
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„Tempest“ wurde zwischen Januar und März 2012 in Jackson Brownes Studio in Santa Monica aufgenommen, wo 2009 bereits Dylans Alben „Together Through Life“ und „Christmas In The Heart“ entstanden. Wieder wird der Songwriter von seiner aktuellen Tourband und David Hidalgo von Los Lobos begleitet.