Bluten für Gorbi

Der Schriftsteller Wladimir Kaminer („Russendisko“) über Pop und Perestroika.

Meine Kinder waren neugierig, als ich einen Stapel alter LPs unter dem Sofa meiner Schwiegermutter hervorholte. Sie hatten Schallplatten bisher nur im Fernsehen oder auf dem Flohmarkt gesehen und betrachteten sie nun wie eine museumsreife Rarität aus dem vorigen Jahrhundert. Es waren die so genannten Gorbi-Platten, die 1985 in der Sowjetunion rauskamen. Es war die Zeit der politischen Wende, Gorbatschow zog in den Kreml ein. Er kam vom Land und sprach einen starken Dialekt. Die Menschen in den beiden Hauptstädten hatten Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu verstehen. Deswegen blieben zunächst viele Nuancen seines politischen Programms unklar. Aber eins war klar, ab sofort hatten wir per Beschluss eine bürgerliche Gesellschaft. Nun sollten die Ausländer in unsere Wirtschaft investieren. Allerdings hatte Gorbatschow Bedenken, die Sowjet-Bürger könnten die Investoren abschrecken, denn sie wirkten nach wie vor sehr unlocker, wie Geiseln in den Händen von Terroristen. Auf einer internen Sitzung des Politbüros im März 1985 wurde die Frage der westlichen Popmusik diskutiert. Im Programm der Sitzung hieß dieser Tagesordnungspunkt: „Bereicherung der sowjetischen Kultur durch Erneuerung des Repertoires“. Die einzige Plattenfirma des Landes, Melodia, bekam den Auftrag, im Zuge der musikalischen Aufklärung eine Reihe von kommerziell erfolgreichen Schallplatten im Westen zu klauen, am besten mit klaren Anweisungen, die dem sowjetischen Bürger zeigen sollten, was zu tun war. Die erste Gorbi-Platte war „Lass uns tanzen“ von David Bowie, die zweite „Lass das Blut fließen“ von den Stones. Wir dachten damals, mit dieser Platte habe auch bei uns endlich die Stunde der Freiheit geschlagen. Die Jugend erhebt ihre Stimme. Aus der heutigen Sicht scheint mir diese Vorstellung naiv und lächerlich, zumal Mick Jagger genau so alt ist wie meine Schwiegermutter.

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