Blur zeichnen das britische Sittengemälde der Gegenwart
Blur haben kein Problem damit, berühmt zu sein, im Gegenteil: Sie lieben es. Ausgelassen wie Kinder im Schullandheim flitzen sie durchs teuerste Hotel Londons, schmeißen sich aufs Sofa und breiten ihrem Gegenüber den neuesten Tratsch aus. Bassist Alex James verschränkt die Arme hinter dem Köpft „Eine verrückte Woche war das, wir haben wirklich jeden getroffen, den wir schon immer treffen wollten. Und überall, wo wir auftauchen, steht David Bowie rum. Ich sag dir, der Typ verfolgt uns!“ Sänger Dämon Albarn hingegen findet es doof, daß er so selten seine Freundin, die nicht minder berühmte Elastica-Sängerin Justine, sieht „Einmal in diesem Monat werden wir Zusammensein – und das bei einem Auftritt in Dublin“, sagt er. Und furzt. Vielleicht denkt er, das passe irgendwie gut zur Situation, vielleicht ging es einfach nicht anders. Der Schreiber eines englischen Weeklies hätte jetzt wahrscheinlich bester Dinge das Interview für beendet erklärt. Schon nach zwei Minuten hätte er eine Cover-Story im Kasten, und die Überschrift gäbe es gratis dazu: „Dämon farts his way to success.“ Ja, so werden Titelgeschichten produziert, und Blur sind die ersten, die sich darüber im klaren sind. Denn seit seine Band 1993 ihr zweites Album JModem Life k Rubbish“ herausgebracht hat, existiert in den britischen Charts wieder eine Musik, die funkelt und strahlt, die gleichzeitig aber auch immer von dem Ort erzählt, an dem sie entstanden und mit dem sie untrennbar verbunden ist Wer etwas über den Zustand des Königreichs wissen will, kann einen Film von Mike Leigh anschauen, die „Sun“ lesen – oder eine Platte von Blur anhören. Ihre Alben sind angelegt wie Sittengemälde, mit genauem Blick für das Detail. „The Great Escape“heißt das vierte Werk. Es beschreibt die vielen Alltagsfluchten, obwohl natürlich niemand tatsächlich der Wirklichkeit entkommt höchstens legt hier mal jemand den FahrkartenkontroUeur rein oder drückt sich vor dem Beischlaf mit dem Ehepartner. Wie die Leute in „Stereotypes“, dem Eröffnungs-Song. „Er handelt von ,key patties , erklärt Dämon. „Auf diesen Gesellschaften schmeißen die Frauen ihre Schlüssel auf einen riesigen Haufen, die Männer fischen sich dann einen raus, gehen zu dem entsprechenden Haus und ficken die Bewohnerin. Leider habe ich noch nie an sowas teilgenommen. In England ist das eine große Sache, besonders in den Vorstädten.“ Die aktuelle Single „Country House“ handelt von einem Stadtmenschen, der es sich bei Kräuterbad und Vollwerternährung auf dem Land gemütlich macht – von seinen zoophilen Ausschweifungen erfahrt nur, wer die Anspielung auf den Porno „Animal Farm“ versteht Der Humor von Blur ist herb, der Blick auf die Gepflogenheiten ihrer Landsleute streng. Trotzdem nehmen sie keinen erhöhten Blickwinkel ein. „Ich bin immer mittendrin, JParkliJe’Ist auch mein Leben.“ Und als ob Dämon es beweisen wolle, lehnt er sich zurück und schlürft genüßlich eine Tasse Tee. Blur treten auch auf „The Great Escape“ wieder in die Fußstapfen der Kinks, und Ray Davies klopft den vier jungen Männern inzwischen häufig öffentlich auf die Schultern. Aber mal ehrlich: na und? Der Wert ihrer Platten, und der der neuen ganz besonders, liegt eigentlich mehr darin, daß sich hier die Stile verschiedener Epochen des Brit-Pop zu einem schillernden Kaleidoskop ineinanderdrehen und für die Gegenwart aufgemotzt werden. Höhepunkt ist der Song „Fade Away“: Ska-Pop im Stil der späten Specials wird hier mit Beats in Tricky-Manier verzahnt Oft verbreiten Blur das Flair eines Vaudeville-Orchesters. Ja das ist die Musik, die ich als Kind geliebt habe: Zirkus-Lieder und Cartoon-Soundtracks!“ Dämon streckt andächtig die Arme zum Himmel und verdreht die Augen. „Ich mag Lieder, die mich auf eine Wolke tragen.“ Auf dem Weg zum Fahrstuhl muß ich durch diesen endlos langen Hotelkorridor. Ich denke an die letzten Sätze, die Dämon ernst ins Diktiergerät gesprochen hat: „Ich wollte immer berühmt sein. Als ich es noch nicht war, kam ich mir irgendwie unwirklich vor.“