Blur: „Nicht ernst genommen wird man nur, wenn man wirklich wichtig ist.“
Zum Release der großen Blur-Box "21" präsentieren wir am heutigen Tag des Forums ein Interview aus dem Jahr 1993. Geführt wurde es von Gilbert Blecken, der nicht nur ein langjähriger Forums-User ist, sondern auch den Blog Destination Pop Interviews betreibt.
Am Freitag erschien das Gesamtwerk von Blur noch einmal in aufpolierter Form in der Box „21“. Am heutigen Tag des Forums zeigen wir Ihnen aus diesem Grund ein erhellendes Interview aus einer Zeit, in der das Medieninteresse an dieser Band eher von den gut informierten Fanzines ausging. Unser langjähriges Forumsmitglied Gilbert Blecken traf Damon Albarn und Alex James im Frühjahr 1993.
In den 90er Jahren war ich noch ein Fanzine-Schreiber, der seine Interviews in der Regel nur dadurch bekam, indem er die Musiker zwischen Soundcheck und Konzert persönlich ansprach. Die Plattenfirmen stellten den Kontakt hingegen nur selten her, wobei es hier eine Ausnahme gab: Wenn sich nicht genügend „wichtige“ Journalisten für eine Band interessierten, wurde gelegentlich ein halbes Stündchen frei, und da die örtlichen Promoter gegenüber den Mutterkonzernen in England oder Amerika möglichst volle Interviewtage präsentieren mussten, konnte mit etwas Glück auch schon mal ein Fanzine-Schreiber nachrücken. Dass mir das ausgerechnet bei Blur zugute kam, erscheint zunächst vielleicht ungewöhnlich, doch Anfang 1993 gab tatsächlich kaum jemand mehr einen Pfifferling auf die Band. Albarn und Co. hatten zwar mit „Leisure“ ein gutes Debütalbum vorgelegt, doch wurden Blur auch ein wenig mit Rave assoziiert, und man erwartete zwei Jahre später genauso wenig von ihnen wie etwa von EMF oder Northside.
Mir konnte das nur recht sein, denn dass „Modern Life Is Rubbish“ nicht nur ein klasse Album, sondern auch eine Art Karrierewendepunkt war, wusste ich bereits nach dem ersten Durchlauf. Und da die professionellen Journalisten-Kollegen gar nicht daran dachten, für diese vermeintlich abgemeldete Band früh aufzustehen, war ich meiner Erinnerung nach sogar der erste Interviewer an diesem Tag. In sehr angenehmer Atmosphäre traf ich dann also in einem Raum von EMI Berlin auf die noch putzmunteren Damon und Alex. Beide wirkten unglaublich jung (siehe auch das Foto, das nach dem Interview entstand), doch wurde mir schnell klar, dass sie genau wussten, was sie taten und wo sie hinwollten. Im Nachhinein vielleicht besonders bemerkenswert das Zitat, in dem sich Damon darüber beschwert, dass man „in einer kranken Gesellschaft“ lebe, und sich darum „viel reifer“ geben müsse als man eigentlich sei. Wenn man bedenkt, dass Albarn heute als ziemlich unnahbarer Schnösel und Banddiktator gilt, muss man aber wohl leider konstatieren, dass er 19 Jahre später seine ganz persönliche Reifeprüfung fast schon zu gut bestanden hat.
Was ich an Blur besonders mag, ist die Tatsache, dass ihr zu euren Ambitionen steht – immerhin in einer Zeit, in der sich andere Bands für ihren Erfolg schon fast entschuldigen.
Damon: Ich denke, dass unsere Egos viel zu groß sind, um uns in dieser Hinsicht irgendwie verstellen zu können.
Alex: Eigentlich möchte doch jeder erfolgreich sein und die Aufmerksamkeit der Medien haben. Viele verstecken das aber lieber, weil es heute einfach sehr viel angesagter ist, sich etwas apathisch zu geben.
Wie weit würdet ihr denn des Erfolgs willen gehen? Würdet ihr beispielsweise eine Coverversion aufnehmen, weil sie einen schnellen Hit verspricht?
Damon: Nein, ganz sicher nicht. Das wäre doch gar nicht unser eigener Ruhm.
Alex: Wir wollen vor allen Dingen etwas bedeuten und ernst genommen werden. Noch mehr liegt uns aber daran, nicht ernst genommen zu werden. Nicht ernst genommen wird man nämlich nur, wenn man wirklich wichtig ist.
Eure Single „For Tomorrow“ hat mit den anderen Songs auf dem Album nicht viel zu tun. Habt ihr auch mal mit dem Gedanken gespielt, die ganze LP in diesem Stil aufzunehmen?
Alex: „For Tomorrow“ war der letzte Song, den wir für dieses Album geschrieben haben. Das was schon so etwas wie eine Zusammenfassung; alle Elemente der Platte sollten da noch einmal untergebracht werden.
Damon: Mit der dritten LP werden wir vermutlich noch etwas orchestraler werden. Wir mögen große Orchester-Sounds.
Alex: Zumindest solange wir vermeiden können, pompös zu klingen. Wir gehen da soweit wir können.
Ein bisschen erinnert mich die LP auch an That Petrol Emotion.
Damon: Das kann ich zum Teil sogar nachvollziehen. Ich finde es wirklich schade, dass aus der Band nie richtig was geworden ist.
Alex: „Babble“ wurde doch so hochgelobt, aber wahrscheinlich waren sie einfach zu politisch, um ein breites Publikum zu erreichen. Es war doch klar, dass die BBC keinen Song über Nordirland spielen würde.
Damon: Noch mehr wurden wir aber von ihrer Vorgängerband, den Undertones, beeinflusst. Das war eine der besten Bands überhaupt.
Früher habt ihr immer betont, dass die Texte für euch kaum eine Rolle spielen. Meint ihr, dass euch zu bedeutungsvolle Texte davon abhalten würden, einfach nur eine gute Popband zu sein?
Damon: Ja, ich denke schon. Ich habe Sachen immer gehasst, die zuviel aussagen. Ich mag lieber einfache Dinge, die nicht erklärt werden müssen. Manchmal schreiben wir natürlich auch komplizierter, speziell auf diesem Album. Grundlegend bleibe ich aber dabei, dass die einfachen Songs die besten sind, weil sie einfach mehr sagen.
Alex: Musik ist doch ohnehin etwas, was man nicht greifen kann. Wenn man den Versuch macht, das zu analysieren, würde es in sich zusammenfallen – wie eine Luftblase, die plötzlich platzt.
Meint ihr also, ein guter Popsong sollte so geschrieben sein, dass ihn auch Kinder verstehen können?
Damon: Unbedingt. Ich denke, wenn ein kleines Kind einen Song mag, dann mag es ihn, weil er Charme hat, und nicht aus einem höheren Kontext heraus. Dabei ist es alles andere als einfach, einen unverfälschten, puren Popsong zu schreiben, aber dann auch umso befriedigender. Den Bands von heute wird einfach auch nicht genug der Rücken gestärkt, um ihre Gefühle nach außen zu tragen. Stattdessen scheinen viele von ihnen vollkommen von ihrem Medien-Image isoliert zu sein. Es wäre doch toll, wenn Bands auch mal in Grundschulen spielen würden. Doch leider leben wir in einer kranken Gesellschaft. Um nicht vollkommen durchzudrehen, muss man sich oft wesentlich analytischer und reifer geben, als man eigentlich ist.
Mal ein ganz anderes Thema: Euch eilt nun schon seit Jahren der Ruf einer exzellenten Live-Band voraus. Beim Food-Festival, an dem u. a. auch Jesus Jones teilgenommen haben, sollt ihr alle anderen in den Schatten gestellt haben.
Damon: Das war ja auch wirklich nicht gerade schwer. Als Lob würde ich das jedenfalls nicht bezeichnen.
Findet ihr es schade, dass es durch MTV heute nicht mehr so wichtig ist, ob eine Band auch live bestehen kann?
Damon: Ja, da stimme ich dir zu. Die Auftritte werden ja auch immer teurer und das stimmt einen natürlich auch irgendwie missmutig. Ich denke aber, dass unsere Konzerte auch der Hauptgrund dafür waren, warum die britische Musikpresse so oft über uns berichtet hat.
Stimmt es, dass du bei einem Auftritt auf die Boxen gestiegen bist, und es nicht alleine wieder herunter geschafft hast?
Damon: Ja, das stimmt. Ich bin so hoch geklettert, dass ich plötzlich festsaß. Die Leute mussten mir dann eine Leiter bringen.
Kannst du heute darüber lachen?
Damon: Darüber konnte ich schon damals lachen.
Alex: Auf der Bühne benimmt er sich sowieso manchmal wie ein Affe auf Kokain.
Damon: Die Sache war ganz schön gefährlich. Aber ich gebe halt gern mal etwas an, besonders vor 8.000 Leuten. Die wollen so etwas doch auch sehen. Das ist wie im Zirkus, für den ich übrigens eine Menge übrig habe.
Du bist also der Ansicht, ein richtiger Popstar sollte sich auch mal ab und zu zum Narren machen dürfen?
Damon: Natürlich. Ich hasse Leute, die das nicht können.
Ich muss euch an dieser Stelle mal auf eines eurer Zitate ansprechen. Irgendjemand von euch soll gesagt haben, dass ihr keine Kondome mögt, und es deshalb unvermeidlich sei, dass ihr euch früher oder später alle mal mit HIV infiziert.
Alex: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das gesagt haben.
Damon: Also wenn ich mich nicht daran erinnern kann, das gesagt zu haben und Alex auch nicht, dann wird es wahrscheinlich Graham gewesen sein. Das war ein wirklich dummer Ausspruch, egal, von wem er gekommen ist.
Alex: Ich möchte gar nicht wissen, was meine Freundin dazu sagen würde.
Wie seht ihr jetzt eigentlich eure erste LP „Leisure“? Gehört die Platte für euch nun definitiv der Vergangenheit an?
Damon: Mit dem Kapitel sind wir durch. „Leisure“ war ja vor allen Dingen ein Modealbum. Die Platte war uns so wichtig wie ein neues Paar Schuhe. Das neue Album bedeutet uns hingegen wirklich viel.
Würdet ihr sogar sagen, dass ihr zur Zeit von „Leisure” noch gar nicht reif wart, ein Album aufzunehmen?
Damon: Nein, das waren wir tatsächlich nicht. Wie das bei Übernacht-Erfolgen eben oft so ist, kam das Album viel zu schnell. Dabei hatten wir mal als Artschool-Punkband angefangen. Als wir dann merkten, dass wir sehr schnell sehr erfolgreich sein könnten, gaben wir uns dieser Lust auf den Erfolg eben einfach hin. Unseren Stil hat das natürlich vollkommen verändert. Das ist wie die Lust auf ein Mädchen oder einen Jungen. Da kann man schon mal blind werden. Aber wenn man diese Lust erst einmal befriedigt hat, merkt man, dass es doch nicht so toll war, wie man es sich vorgestellt hat.
Alex: Gute Metapher.
Gibt es irgendwelche Seiten an Blur, die mit der dritten LP verstärkt in den Vordergrund treten werden?
Damon: Ja, ich möchte vor allen Dingen noch mehr mit meiner Stimme machen.
Ist es beabsichtigt, dass sich deine Stimme auf manchen Stücken wie die von John Lydon anhört?
Damon: Manchmal denke ich, ich wäre John Lydon persönlich. Ich muss in dieser Hinsicht sicher noch mehr über mich herausfinden. Als Band wollen wir uns außerdem so entwickeln, dass wir so gut werden wie die Buzzcocks einerseits und Scott Walker andererseits.
Erstaunlich, dass du soviel von Scott Walker hältst.
Damon: Ich finde, er hat eine der besten Stimmen überhaupt. Er ist da ganz oben mit Frank Sinatra.
Was haltet ihr denn von seinen sogenannten Erben wie Marc Almond und Billy MacKenzie?
Damon: Marc Almond mag ich wirklich sehr.
Alex: Er hat schon ein starkes Rückgrat, so wie er seine Sache durchzieht.
Damon: Ich finde ihn großartig. Er steht für all diese schönen Fantasien, für die auch schon Scott Walker stand. Es ist doch toll, dass jemand wie er zweimal im Jahr die Royal Albert Hall füllen kann. Billy MacKenzie dagegen hat zwar eine großartige Stimme, aber ich habe so meine Probleme mit Schotten. Das mögen vielleicht ganz nette Leute sein, aber musikalisch habe ich nie so ganz verstanden, wo sie eigentlich herkommen.
Noch einmal zurück zu eurer neuen LP: Könnte es nicht auch passieren, dass eure Fans eure Entwicklung nicht mitmachen?
Damon: „For Tomorrow“ ist im Moment gerade in die Charts eingestiegen und wird auch dauernd im Radio gespielt. Es sieht also recht gut aus, obwohl der Song weder etwas mit Dance Music noch mit Rock zu tun hat. Ich finde, das zeigt ziemlich deutlich, dass die Leute es schon mitbekommen, wenn mal etwas veröffentlicht wird, was aus dem Rahmen fällt. Die Plattenfirmen denken natürlich immer, dass ungewöhnliche Songs keine Hits werden können, und auch uns hat man am Anfang gesagt, dass „For Tomorrow“ ein bisschen zu verrückt sei. Jetzt, wo der Song in den Charts ist, will es natürlich jeder von Anfang an gewusst haben. Man darf sich da als Band auf keinen Fall aus dem Konzept bringen lassen, sondern sollte immer den Weg gehen, den man selbst für richtig hält.
Ich finde „Modern Life Is Rubbish“ auch sehr gelungen, könnte mir aber gleichzeitig immer noch vorstellen, dass eure nächste LP sogar noch ein bisschen besser wird.
Damon: Das hoffe ich doch sehr. Wir sehen es auch noch nicht als unser definitives Statement. Aber zu unserem ultimativen Album ist es zumindest schon einmal eine sehr wichtige Zwischenstation. Wir haben es inzwischen geschafft, uns von vielen Dingen zu lösen und in unserer eigenen Welt zu leben, in der wir tun und lassen können, was wir wollen. Man muss sich einfach verändern. Von den Beatles angefangen haben sich alle großartigen Bands immer radikal verändert. Selbst eine Band wie Nirvana, die natürlich auf dem Rücken der letzten LP auch von der nächsten Platte viel verkaufen wird, wäre gut damit beraten, sich stark zu verändern, weil sonst das Interesse zwangsläufig sinken wird. Ich würde aber auch sonst heute soweit gehen, diese ganze Sache mit dem Erfolg zu opfern, um experimenteller zu werden.
Alex: Man sollte sich aber auch nicht vornehmen, sich verändern zu müssen. Das muss von ganz alleine kommen.
Damon: Und das ist mit das Schlimmste am Rock. Rock verändert sich nicht, er bleibt immer nur hart und unbeweglich. Als Popband hat man da viel größere Entwicklungsmöglichkeiten.
Über den Autor: Gilbert Blecken hat seine Interviews und seine Fotos in dem sehr schönen Blog Destination Pop Interviews versammelt, den Sie hier finden.