BLUE NOTES
Anfang des 20. jahrhunderts gab es in Storyville, dem Vergnügungsbezirk von New Orleans, 2000 Prostituierte, 70 professionelle Spieler und 30 Pianisten -jedenfalls wenn man Michael Ondaatjes fantastischem Debütroman „Coming Through Slaughter“ glauben darf. Einer, der das bunte und sündige Treiben übertönte, der alle aus den Bars und Spielhöllen, Bordellen und Honkytonks auf die Straße lockte, war der Kornettist Buddy Bolden -Friseur, Trinker, Frauenheld und Bandleader. Er konnte keine Noten lesen und spielte nach Gehör – alles, was er aufschnappte: Ragtime, Trauermärsche, Blues und Gospel. Die Herkunft dieser Musik war egal, entscheidend war, was er daraus machte. Bald nannte man es Jazz, abgeleitet vom englischen jism, das sowohl die geistige Energie als auch den männlichen Samen bezeichnete. Eine Musik, die jeden, der sie spielte, zum Schöpfer machte.
Wenn der Blues von der tragischen Geschichte der Schwarzen, von Sklaverei und Rassismus, Armut und Krankheit Zeugnis ablegte, war Jazz die Utopie der Befreiung. „The best statements Negroes have made of what their soul is have been on tenor saxophone“, sagte Ornette Coleman; „triumphant music“ nannte Martin Luther King den Jazz und verwies auf die Parallelen zwischen dem Überlebenskampf der Afroamerikaner und dem Existenzkampf des modernen Menschen. „Jeder hat den Blues. Jeder sehnt sich nach Sinn. Jeder hat das Bedürfnis, in die Hände zu klatschen und glücklich zu sein.“
Buddy Bolden landete 1907 vom Alkohol niedergerungen im Irrenhaus, wo er 24 Jahre später starb. Auch das ist Jazz: die Drogen, der Wahnsinn, der zu frühe Tod und der Mythos. Über die Geburt dieser Musik gibt es jede Menge Geschichten, Tondokumente gibt es keine. Die erste Jazzaufnahme stammt aus dem Jahr 1917, und dann dauerte es fast noch mal 40 Jahre, bis Jazz Mitte der Fünfziger im Albumzeitalter angekommen war. Ragtime, Dixieland, Boogie und Swing waren da längst Geschichte, und der heiße, nervöse Bebop hatte Platz gemacht für die kühleren, relaxteren Stücke des Cool und des West Coast Jazz, den Musiker an der Ostküste mit dem intensiven, rhythmischen Hardbop konterten.
Das erklärt, warum in unserer Liste der besten Jazzalben so viele große Namen aus der Geschichte des Genres fehlen. Wenn man unserer Jury folgt, kann man die Jahre von 1955 bis 1970 wohl als die goldene Zeit des Jazzalbums bezeichnen, und es waren vor allem fünf Interpreten, die diese Ära prägten: Thelonious Monk, Charles Mingus, Miles Davis, John Coltrane und Ornette Coleman. Keiner von ihnen wirkte freilich allein: Die Stücke des neben Duke Ellington wohl größten Komponisten des Jazz, Thelonious Monk, strahlten besonders hell, wenn er John Coltrane oder Sonny Rollins an seiner Seite hatte. Charles Mingus profitierte bei den wuchtigen Performances seiner komplexen Stücke aus archaischem Blues, Gospel, New-Orleans-Jazz und Avantgarde von Ausnahmetalenten und Seelenverwandten wie dem Schlagzeuger Dannie Richmond und dem Saxofonisten und Klarinettisten Eric Dolphy. Miles Davis hatte viele Wegbegleiter in seiner langen Karriere, neben dem Komponisten und Arrangeur Gil Evans stechen die beiden großen Quintette heraus: Mit dem ersten entwickelte er in den Fünfzigern den modalen Jazz und befreite die Musik aus ihren konventionellen Akkordfolgen, mit dem zweiten fand er Mitte der Sechziger nach den Irrungen und Wirrungen zu Beginn des Jahrzehnts wieder zu großer Form. John Coltrane öffnete den Jazz, nachdem er das Davis-Quintett 1960 verlassen hatte, mit seinem legendären Quartet für afrikanische und indische Einflüsse, der andere radikale Neuerer, Ornette Coleman, hatte den Trompeter und Kornettisten Don Cherry an seiner Seite, als er Alben aufnahm, deren Titel förmlich nach Veränderung schrien: „Something Else!!!!“, „Tomorrow Is The Question!“, „The Shape Of Jazz To Come“, „Change Of The Century“ und schließlich „Free Jazz“. Mit dem immer schneller werdenden urbanen Leben beschleunigte sich auch die Entwicklung des Jazz. „I have lived more than I can express in bebop terms“, erklärte der Saxofonist Albert Ayler Ende der Sechziger. Die Musik wurde freier und zugleich spiritueller – Alben hießen nun „Ascension“,“Karma“ und „Music Is The Healing Force Of The Universe“.
Doch die enorme Geschwindigkeit, mit der sich Jazz entwickelte, forderte ihren Tribut. Spätestens Anfang der Siebziger war die Freiheit des Free Jazz selbst zu einer Formel geworden, und es gab nur noch zwei Richtungen, in die das Genre gehen konnte – zur Seite oder zurück. Der Seitfallschritt führte zu Vermählungen des Jazz mit Rock, Soul, Funk, Elektronik und vor allem Weltmusik. Der Weg in die Vergangenheit wurde u. a. von den Brüdern Wynton und Branford Marsalis beschritten, die zurück wollten zur reinen Lehre, um die Bereiche des Jazz zu erkunden, die die Musiker in den Fünfzigern und Sechzigern hastig hinter sich gelassen hatten. Im Grunde war Jazz selbst in seiner Retromanie noch Avantgarde, denn 20 Jahre später setzte im Pop eine ähnliche Entwicklung ein.
Der britische Essayist Geoff Dyer hat den Jazz mit einem Hai verglichen – er lebe nur, solange er sich bewege. Haben wir es also heute mit einem toten Hai zu tun? Oder riecht er nur komisch – nach Fisch vermutlich -, wie Frank Zappa 1974 behauptet hat? Der afroamerikanische Philosoph Cornel West schreibt in seiner Autobiografie, er sei ein blues man im Geiste und ein jazz man in der Welt der Ideen, er gehe von der Katastrophe aus, glaube aber an ihre Überwindung. Wo immer sich dieser Glaube findet, lebt der revolutionäre Geist des Jazz weiter.
1. A LOVE SUPREME
John Coltrane Impulse!, 1965
In John Coltranes eigenen Worten lässt sich die besondere Aura von „A Love Supreme“ am besten beschreiben. In Großbuchstaben hebt er „Erhebung, Eleganz, Begeisterung“ aus seinem Gebetsgedicht hervor, das er auf das Albumcover drucken ließ und dessen Litanei er im letzten Teil des Albums instrumental nachempfindet. Tatsächlich gibt es wohl kein Jazzstück, das so nachvollziehbar, intensiv und attraktiv vom spirituellen Gefühl berichtet wie diese grade mal 33-minütige Suite in vier Sätzen -zwei ruhigeren, offenen, ein-und ausleitenden Teilen und zwei sich mitunter recht exaltierenden Mittelstücken, die straffer und bluesartig strukturiert sind. Als öffnende Figur lässt Coltrane eine schlichte Fanfare aus vier Tönen wehen, die zugleich als Echo wie als Vorhall auf den Rest in Wiederholungen verebben. Sie bestimmen den ganzen ersten Satz mit dem Afrolatin-Bassriff und seinem schweifend kreisenden Solo und münden schließlich in das feierliche Grummeln seines in Overdubs vervielfältigten Mantras – eine materielle Konzentration und Klarheit, auf der die besondere Wirkung des Stücks im Ganzen beruht. Die leichthändig auf-und absteigende Melodiosität und repetitiv geprägten Soli klingen dabei auch in den ekstatischen und dissonanten Momenten kaum noch nach den sogenannten „sheets of sound“, den modal strömenden, akkordisch flirrenden Kaskaden, mit denen Coltrane nach dem Heroinentzug 1957 zunächst bei Thelonious Monk und dann Miles Davis die harmonischen und rhythmischen Bindungen vom Beat zum Puls öffnete.
Coltrane hatte sein Interesse schon seit 1960, als er sein eigenes Quartett gründete, das man in seiner klassischen Besetzung mit Jimmy Garrison am Bass, Elvin Jones an den Drums und McCoy Tyner am Klavier auch auf „A Love Supreme“ hört, von der texturalen Forschung zur Melodie verschoben, wobei er sich zugleich verstärkt mit afrikanischen und orientalischen Musiken beschäftigte. Die Melodiosität hatte dabei vielleicht nicht allein musiktheoretische Motive. Die vage exotisch anmutende Atmosphäre und Spiritualität traf natürlich auch glücklich den Zeitgeist der aufziehenden Hippiedämmerung.
Tatsächlich zeigt „A Love Supreme“ trefflich, wie Coltrane seine auch technisch virtuosen Experimente mit Harmonie und Rhythmus perfekt in eine freie und abstrakte, dabei melodische und groovende Intensität überführt hatte -es blieb nur noch der Aufstieg ins kosmisch Freie seiner letzten Jahre bis 1967.
Abgesehen von einem Auftritt auf dem Jazzfestival von Antibes hat Coltrane seinen größten Hit nie live gespielt. Offenbar hielt er die Aufnahme für so definitiv, dass er ihr nichts hinzufügen wollte. Auch damit hat er wohl recht. MARKUS SCHNEIDER
2. KIND OF BLUE
Miles Davis Columbia, 1959
Den Jazz-Einstieg für jedermann gibt es nicht. Post-Punk-Fans mag Monks kratzbürstiger Tastensinn reizen, und für Grindcore-Sozialisierte gibt es schließlich Brötzmanns „Machine Gun“. Doch „Kind of Blue“ kriegt uns alle. Für Miles spielten die meisten Hardbopper damals zu viel, zu lang und zu schnell. Seine Lösung: modales Spiel statt Akkordhektik, Midtempo, viel Luft zwischen den Noten. Zu den Sessions brachte er nur einige Skizzen, doch die Wahl des Ensembles war eine kompositorische Glanzleistung. Cannonballs Blues trifft auf Tranes waghalsige Läufe, Bill Evans setzt impressionistische Akzente, und Miles‘ Trompete hält die Zügel fest. Heute verblüfft, wie aufgeräumt und unbeschwert vom historischen Gewicht dieses Giganten-Sextett miteinander swingt. Für Drummer Jimmy Cobb war es „just another date“. FRANK CASTENHOLZ
3. MINGUS AH UM
Charles Mingus Columbia, 1959
Affirmation und Akklamation waren nie seine Sache, doch eröffnet Charles Mingus sein Wunderwerk mit Seelenmassage.“Oh yeah!“ ruft er beifällig, während der immens wandlungsfähige Klangkörper seines „Workshops“ über Blues-Riffs zu Gospel-Elan findet, melodisch begeisternd und herrlich unpathetisch. „Better Git It In Your Soul“ ist der erste Track eines an Kontrasten reichen Albums, auf dem Momente kollektiv brausender Improvisation mit linden Sax-Etüden wechseln, eruptive Soli mit schlurfenden Besen. Mingus ehrt Lester Young, Duke Ellington und Jelly Roll Morton, indem er deren Musik tributierend aufscheinen lässt, und er verflucht in „Fables Of Faubus“ die Segregation, eindringlich, ohne Worte. „Consistently exciting and stimulating“ sei „Ah Um“, befand der Kritiker Leonard Feather. Eine Untertreibung. WOLFGANG DOEBELING
4. KARMA
Pharoah Sanders Impulse!, 1969
Die Antwort des Jazz auf Hippies und Haight-Ashbury beginnt mit dem majestätischen Anrollen und Aufbäumen des Tenorsaxofons von Pharoah Sanders. Dann gibt der Kontrabass den Rhythmus vor, Marimba, Schellenkränze, eine Querflöte setzen ein und nach ein paar Minuten Leon Thomas‘ Stimme: „The creator has a master plan, peace and happiness for every man“ singt sie, bevor der Gesang in ein Jodeln übergeht und mit Sanders‘ Saxofon wetteifert. Mitten drin im groovy Exzess ist übrigens auch Lonnie Liston Smith am Piano, der Sanders‘ Vision fünf Jahre später mit „Expansions“ in den Soul überführen sollte. Der 33-minütige „Masterplan“ mündet in einen Improvisationsstrudel, ungezügelt, anarchisch, kreischend – und kehrt zum anfänglichen Groove zurück. So seelenvoll war freier Jazz nie wieder. SEBASTIAN ZABEL
5. OUT TO LUNCH!
Eric Dolphy Blue Note, 1964
Der Saxofonist, Flötist und Bassklarinettist Eric Dolphy gehört zu den großen Rebellen der frühen Sechzigerjahre. Er spielte mit John Coltrane, brillierte als Solist in der Band von Charles Mingus, doch das Manifest seiner Musik ist „Out To Lunch!“. Während sich andere Zeitgenossen noch das Fundament einer relativ stabilen rhythmischen Basis leisteten, um darüber die Improvisation in neue Sphären zu treiben, wurde hier die wahre Demokratie geprobt. Freddie Hubbard (tp), Bobby Hutcherson (vib), Richard Davis (b), Tony Williams (dr) und Eric Dolphy waren sehr wohl vertraut mit den traditionellen Techniken des Jazz -ließen sich aber nicht mehr davon fesseln. Dennoch versinken die fünf Kompositionen nie im Chaos, sondern entwickeln eine hochkomplexe, überaus raffinierte Struktur. JÜRGEN ZIEMER
6. IN A SILENT WAY
Miles Davis Columbia, 1969
Schon seit einigen Jahren hatte Produzent Teo Macero Miles-Davis-Aufnahmen im Studio mit Tonbandtricks auf Perfektion getrimmt. Diese bei Pop-Produktionen übliche, dem Image des Jazz aber eher abträgliche Praxis war allerdings noch nicht als Ästhetik erkenntlich. Das änderte sich hier schlagartig. Deutlich sind „Shhh/Peaceful“ und „In A Silent Way/It’s About That Time“ als Edits beziehungsweise Montagen erkennbar. Das Ergebnis ist ein keyboardlastiger (Zawinul, Hancock, Corea), pointillistischer Soundteppich aus Melodiepartikeln und geschichteten Akkordfolgen, der nur gelegentlich als Hintergrund für markante Soli von Davis oder Wayne Shorter fungiert -und ansonsten in alle Richtungen mäandert. Dieser hypnotische ozeanische Sound erlebte in den Neunzigern eine Renaissance als Ambient Jazz. OLAF KARNIK
7. THE BLACK SAINT AND THE SINNER LADY
Charles Mingus Impulse!, 1963
Eine echte Herausforderung für Produzent Bob Thiele: Die eigentlichen Aufnahmen für dieses Opus magnum waren an einem Tag im Kasten. Aber Mingus setzte auf im Jazz ungewohnte Overdubs. So wurden die intensiven Altsaxofon-Soli von Charlie Mariano nachträglich hinzugefügt. Das Elf-Mann-Ensemble konnte wie eine Big Band klingen, allerdings wilder, oft der Kollektivimprovisation nahe, obwohl es um ausgefeilte Bläsersätze und raffiniert kalkulierte Wechsel von Sounds, Rhythmen und Stimmungen geht. Als Selbstporträt einer zerrissenen Seele beschreibt der Therapeut (!) des Musikers in den Linernotes die sechsteilige Suite. Ein kühner Schritt in eine Richtung, die sich für Carla Bley als ebenso relevant erweisen sollte wie für das Art Ensemble of Chicago. KLAUS VON SECKENDORFF
8. AT CARNEGIE HALL
Thelonious Monk Quartet with John Coltrane
Blue Note, 1957/2005
Fast 50 Jahre nach dem Konzert des Thelonious Monk Quartet in der Carnegie Hall am 29. November 1957 wurde diese sensationelle Aufnahme in der Library Of Congress gefunden. Begleitet von Ahmed Abdul-Malik (b) und Shadow Wilson (dr) kam die Zusammenarbeit des Pianisten mit John Coltrane an diesem Abend zu voller Blüte. Fünf Monate hatten die beiden auf der Bühne des Five Spot im East Village für diesen Auftritt geübt, sie kannten einander in-und auswendig. Monks ruppiges, stockend stakkatohaftes Tastenspiel und Coltranes atemlos strömendes Saxofon sind nicht länger Gegensätze, sondern haben auf wundersame Weise zusammengefunden, solieren unisono. Das ist pure Dialektik. Kurz darauf verließ Coltrane das Monk Quartet Richtung Miles Davis. MAIK BRÜGGEMEYER
9. THE SHAPE OF JAZZ TO COME
Ornette Coleman Atlantic, 1959
Wie klingt eine Band, die sich um keinen Bandleader schart, sondern um einen Lehrer? Die sich nicht in Leitstimme und Begleitmusik scheiden will, sondern Einklang im Vielen sucht? Diese Musik, diese musikalische Freiheit klingt wie die Musik von Ornette Coleman. Mit „The Shape Of Jazz To Come“ hat er geprägt, was im folgenden Jahrzehnt dann „Free Jazz“ heißen sollte. Doch hat „free“ für Coleman niemals bedeutet, dass etwas zerspielt oder zerstört werden soll. Er wollte aufbauen, zusammenführen, echte Harmonie stiften. Unter den musikalischen Revolutionären jener Zeit ist er der größte Ideenmusiker: einer, der unaufhörlich an der Idee und der Form des Zusammenspiels arbeitet. In den schönsten Momenten klingen aus seinen Kompositionen das Glück und die Zärtlichkeit des gelingenden Kollektivs. JENS BALZER
10. MONEY JUNGLE
Duke Ellington United Artists, 1963
Im September 1962 begegnen sich drei der größten Styler, die der Jazz hervorgebracht hat: der 63-jährige Duke Ellington, der zu dieser Zeit schon mit Vorliebe vor Königen und Maharadschas auftritt, trifft auf die gut 20 Jahre jüngeren, wütenden und politisch expliziten Max Roach und Charles Mingus. Bei diesem Treffen entstand eine stürmische, skizzenhafte, Jam-Session-artige Platte, auf der sich die offenen kollektiven Formen der 60er-Jahre-Avantgarde bruchlos in die Traditionen von City Blues, Stride Piano, Swing und Jungle fügen. Das sind weniger drei Solisten als eine emanzipierte Rhythmusgruppe: Ellingtons elegantes, aber technisch limitiertes Klavier engt weder Roachs intellektuelles melodisches Schlagzeug ein noch den bluesdurchtränkten, rabiat treibenden Mingus-Bass. PETER THIESSEN
11. MY FAVORITE THINGS
John Coltrane Atlantic, 1961
Inspiriert durch Steve Lacy macht John Coltrane 1960 das Sopransaxofon in seiner Musik unersetzlich. Seine immens erfolgreiche Interpretation des Broadway-Hits beschert einen ganz neuen Umgang mit dem musikalischen Ausgangsmaterial. Stilistisch repräsentiert dieses Werk die modale Umbruchphase zwischen Hardbop und Free Jazz: radikal, riskant, richtungsweisend. CB
12. BITCHES BREW
Miles Davis Columbia, 1970
Das Cover des Doppelalbums psychedelisch, der Sound elektrifiziert, die Grooves zwischen Funk und Rock. Von allen Songstrukturen befreite Sessions auf meist modaler Basis, die Produzent Teo Macero raffiniert zusammengeschnitten hat. Ein wildes Fusion-Gebräu mit bis zu drei Keyboardern (Zawinul, Corea, Larry Young). Die Jazzpolizei lief prompt Amok. KVS
13. SOMETHIN‘ ELSE
Cannonball Adderley Blue Note, 1958
Julian Adderley, genannt Cannonball, der dicke Altist aus Florida, ist eine Ausnahme unter den New Yorker Hipstern: Sein Spiel verrät stets gute Laune, selbst wenn man auf „Somethin‘ Else“ oft Blues im Midtempo hört. Adderley bläst 1958 bereits bei Miles Davis, der hier den Titelsong sowie das Intro zu „Autumn Leaves“ beisteuert. Ein Jahr später nehmen sie gemeinsam „Kind of Blue“ auf. TM
14. MAIDEN VOYAGE
Herbie Hancock Blue Note, 1965
Atmosphär isch starker Pre-Funk-Herbie. Ein Konzeptalbum mit viel Raum für George Coleman, Ron Carter und Tony Williams, mit denen der gerade mal 24-Jährige schon in der Band von Miles Davis gespielt hatte. Hier stattdessen an der Trompete: Freddie Hubbard at his best. Der Titeltrack, der das Album eröffnet, und das abschließende „Dolphin Dance“ wurden zu Klassikern. KVS
15. GIANT STEPS
John Coltrane Atlantic, 1960
Tranes Atlantic-Debüt ist eine Studie des Machbaren, die die Grenzen des Hard Bop auslotet und doch dem Ohr schmeicheln will. Sein erstes Album ausschließlich mit Eigenkompositionen, darunter das verspielte, seiner Tochter gewidmete „Syeeda’s Song Flute“ und die unsterbliche Ballade „Naima“. Von „Countdown“ kann einem heute noch schwindelig werden. FC
16. BRILLIANT CORNERS
Thelonious Monk Riverside, 1957
Nach zwei LPs mit Standards nutzte Monk die Chance, seine Vision mit eigenen Kompositionen zu realisieren, selbst wenn sein Perfektionismus, seine exzentrische Rhythmik und die volatilen Tempi gestandene Größen wie Sonny Rollins, Max Roach und Oscar Pettiford an ihre Grenzen trieb. Auch vom Hörer fordert Monk unbedingte Konzentration, belohnt aber fürstlich. FC
17. WE INSIST! FREEDOM NOW SUITE
Max Roach Candid, 1960
Max Roach und sein Texter Oscar Brown Jr. hatten ein Oratorium über den Kampf der afroamerikanischen Bevölkerung um Gleichberechtigung schreiben wollen, doch sie zerstritten sich über die Inhalte. Roach nahm die bereits fertigen Songs mit seiner Combo auf. Ein formal und inhaltlich ambitioniertes Werk und der Grundstein des explizit politischen Jazz. MB
18. OLÉ COLTRANE
John Coltrane Atlantic, 1962
Der Impulse!-Vertrag ist längst unterschrieben, doch auch dieses Septett-Album für Atlantic, 1962, macht Geschichte. Durch die zunehmende Verlagerung auf horizontale Linien und eine immense Steigerung der Geschwindigkeit gelingt es Coltrane, den Eindruck zu erwecken, als würde er mehrere Töne zur gleichen Zeit spielen. Eine große Hymne des modalen Jazz: spirituell, dringlich. CB
19. ESCALATOR OVER THE HILL
Carla Bley ECM, 1971
Es dürfte das einzige Album sein, auf dem Don Cherry eine ebenso markante Rolle spielt wie das Country-Girl Linda Ronstadt und der Rockmusiker Jack Bruce: Diese dreistündige Oper zeigt eine schillernde Avantgarde, die Anklänge an Kurt Weill, indische Ragas und Minimal Music mit Paul Haines‘ zauberhaft verrätseltem Libretto verbindet. JZ
20. SKETCHES OF SPAIN
Miles Davis Columbia, 1960
Mit dem großartigen Arrangeur Gil Evans und einer riesigen Bläser-Besetzung kreiert Davis spanisch angehauchte Moods im Grenzbereich zum Easy Listening -und immer anrührend schön. Kernstück ist ihre Version des zweiten Satzes aus dem „Concierto de Aranjuez“ von Joaquín Rodrigo. Dafür gab es einen Grammy und den Applaus der (meist weißen) Musiktruhenbesitzer. SZ
21. MOANIN‘
Art Blakey &The Jazz Messengers
Blue Note, 1959
Das von Pianist Bobby Timmons geschriebene Titelstück wurde zum Klassiker, doch auch die anderen fünf, bis auf den Arlen/Mercer-Song „Come Rain Or Come Shine“ vom kurz nach den Aufnahmen bei den Jazz Messengers ausgeschiedenen Saxofonisten Benny Golson komponierten und in Gospel und Blues grundierten Stücke auf „Moanin'“ sind Sternstunden des Hard Bop. MB
22. GETZ/GILBERTO
Stan Getz &João Gilberto Verve, 1964
Als Antonio Carlos Jobim 1963 in New York am Piano sitzt, João Gilberto Gitarre spielt und singt und Stan Getz ins Alto haucht, passiert es: Europäische Harmonik, brasilianische Rhythmik und amerikanische Coolness fusionieren. Und wenn Astrud Gilberto singt, streckt jeder die Waffen. Die Welt will Bossa nova. „The Girl From Ipanema“ und „Desafinado“ definieren Brasilien neu. TM
23. TIME OUT
Dave Brubeck Columbia, 1959
Das wohl bekannteste Jazz-Stück überhaupt macht dieses Album zum Klassiker. Mit seinem federnden, endlos wiederholten Piano-Riff, dem gedämpften Saxofon und leicht fiebrig gestreichelten Becken war „Take Five“ Ende der Fünfziger eine Sensation jenseits des 4/4-Takts – und der Blueprint für den Pop-Jazz, der Jahrzehnte später aus dem HipHop erwuchs. SZ
24. MIDNIGHT BLUE
Kenny Burrell Blue Note, 1963
Der Gitarrist aus Detroit verrät die Prägung durch Wes Montgomery: Auch Burrell verlängert Rhythm’n’Blues in den Jazz. Doch wo Montgomery die Zügel loslässt, behält Burrell die Kontrolle. Sein berühmtestes Album zeigt Raffinesse und Gelassenheit, die an Duke Ellington erinnern. Die Congas und das markige Tenorsax von Stanley Turrentine erklären den Erfolg weit über die Jazzgemeinde hinaus. TM
25. JOURNEY IN SATCHIDANANDA
Alice Coltrane Impulse!, 1970
Dem Guru und Yogalehrer Satchidananda Saraswati ist es zu verdanken, dass Alice Coltrane den Jazz um eine besonders exotische Note bereichert hat: sehr spirituell, mit Harfe, Oud und Tambura, aber auch mit dem Saxofon des ebenfalls nach göttlicher Erkenntnis strebenden Pharoah Sanders. Bassist Charlie Haden erdet die kosmische Astralreise. JZ
26. LIBERATION MUSIC ORCHESTRA
Charlie Haden Impulse!, 1969
Der Geist von 1968 weht durch die oft ziemlich freien Bigband-Arrangements. Ausgangspunkt waren Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg und nicht zuletzt der Tod von Che Guevara. Damals in Charlie Hadens linksradikalem Blasorchester unter anderen dabei: der wunderbare Gato Barbieri, Michael Mantler, Paul Motian, Don Cherry und Carla Bley. JZ
27. STRAIGHT, NO CHASER
Thelonious Monk Columbia, 1967
Monk war bereits im Herbst seiner Kunst, als er diese in sich ruhende, lyrische und hochmelodiöse LP einspielte. Zwar wuchs sein Songbook in der gesamten Columbia-Zeit nur unwesentlich. Doch zählen etwa Ellingtons „I Didn’t Know About You“ und der „Japanese Folk Song“ zu den einnehmendsten Momenten unverstellter Schönheit in seinem reichen Œuvre. FC
28. SEXTANT
Herbie Hancock Columbia, 1973
Hancocks Debüt beim Columbia-Label, 1973, in Oktett-Besetzung und mit Elektronik vollgestopft, enthält lediglich drei lange Stücke. Dieses Werk des von Sly Stone schwärmenden Hancock ist Fusion pur, sperrig, avantgardistisch, komplex. Die Zeitenwende folgt: Noch im Veröffentlichungsjahr gründet Hancock die Head Hunters und erntet größte kommerzielle Erfolge. CB
29. ASCENSION
John Coltrane Impulse!, 1965
Mit seinem Quartett hatte John Coltrane Mitte der Sechziger alle möglichen musikalischen Formen ausgelotet und erweiterte das Ensemble um zwei Tenor-und zwei Altsaxofonisten, zwei Trompeter und einen Bass. „Ascension“ ist die physische und metaphysische Steigerung von Ornette Colemans „Free Jazz“. Oder, wie Joachim Ernst Berendt schrieb: „ein 40-minütiger Orgasmus“. MB
30. FREE JAZZ
Ornette Coleman Atlantic, 1961
Der Mann mit dem Plastiksaxofon hat damit eine ganzes Genre benannt. Mit allen Missverständnissen, die große Momente nach sich ziehen. Denn auf „Free Jazz“ spielen zwar zwei Quartette gleichzeitig -eines auf dem linken, das andere auf dem rechten Kanal -, doch man hört nach wie vor viel Komposition, Melodie und Form. Eine bis heute irre Mixtur aus Volksmusik und Avantgarde-Jazz. TM
31. AT NEWPORT
Duke Ellington Columbia, 1956
Die große Zeit der Big Bands war Mitte der Fünfziger vorbei. Selbst Duke Ellington musste mit seinem Orchestra auf Volksfesten und Eislaufbahnen spielen. Doch der Auftritt beim Newport Jazz Festival am 7. Juli 1956 wurde zum großen Comeback. Das Solo von Tenorsaxofonist Paul Gonsalves in „Diminuendo And Crescendo In Blue“ riss die Menge sogar kurzzeitig von den Stühlen MB
32. LADY IN SATIN
Billie Holiday Columbia, 1958
Das letzte Album, dessen Veröffentlichung Lady Day noch erlebte, ist der berührende Schwanengesang einer der größten Stimmen des 20. Jahrhunderts. Stimmlich nicht mehr auf der Höhe, ist es die dramatische Ehrlichkeit und spirituelle Stärke, die „Lady In Satin“ besonders macht. Der vom Heroin gezeichnete Blues, umhüllt von den samtenen Klängen des Orchesters von Ray Ellis. JZ
33. MACHINE GUN
Peter Brötzmann FMP, 1968
Als wahrlich transnationale Kollaboration ist „Machine Gun“ nicht nur ein Monument des europäischen Free Jazz aus der Frühphase seiner Emanzipation vom afroamerikanischen Vorbild. Aufgenommen im Mai 1968, steigert die Platte vor allem die Gewalt in den Strukturen, Kämpfen und Aktionen jener Zeit ins Unermessliche. Jeder Ton schreit: Vietnam! Polizeigewalt!! Aufstand!!! OK
34. UNDERCURRENT
Bill Evans & Jim Hall United Artists, 1962
Das Cover -ein Frauenkörper im weißen Kleid, der im Wasser schwebt – vermittelt schwerelose Eleganz, aber auch Melancholie und dunkle Ahnung. Dies alles lässt sich auch im unendlich verständigen Dialog von Evans‘ Piano und Halls Gitarre finden. Akkorde sprudeln ineinander wie kühle Bäche, Motive umtanzen sich wie Schlittschuhläufer im Central Park. FC
35. SPACE IS THE PLACE
Sun Ra Blue Thumb Records, 1973
Der Soundtrack zu dem wunderbar psychedelischen Film „Space Is The Place“ ist der perfekte Einstieg in die Welt von Sun Ra und seinem vielköpfigen Arkestra. Der selbsternannte Sonnengott und Saturn-Bewohner ist einer der wichtigsten Wegbereiter des Free Jazz, hatte aber mit Alben wie diesem auch einen enormen Einfluss auf Pop-und Rockbands wie Yo La Tengo und MC5. JZ
Chet Baker Pacific Jazz, 1956
„A somewhat timeconsuming habit he has indulged in for several years“, ätzte Jazzkritiker Alun Morgan einst über Bakers Gesang. Dabei bereichern seine unnahbar schwermütigen Deutungen von Standards wie „My Funny Valentine“ den West Coast Jazz ebenso wie sein Trompetenspiel. Bei ihm klingt sogar „your looks are laughable/Unphotographable“ irgendwie charmant. FC
37. HEAD HUNTERS
Herbie Hancock Columbia, 1973
Das erste Jazzalbum überhaupt, das mit Platin bedacht wurde und den Fusion-Jazz ungeheuer popularisierte. Groovy, funky, jazzrockig, featuring Umschnallkeyboard. Der Weg führte Hancock schließlich zu „Rockit“, während seine Head Hunters mehr und mehr zur straighten Funk-Band mutierten und mit „Survival Of The Fittest“ 1975 ein tolles, viel gesampletes Genrealbum aufnahmen. SZ
38. ROUND ABOUT MIDNIGHT
Miles Davis Columbia, 1957
Davis‘ Debütalbum für das jazzhistorisch bedeutende Columbia-Label. Mit dieser Version wird 1957 die Komposition des Pianisten Thelonious Monk als Meilenstein des modernen Jazz definiert. Miles Davis paart die sparsame Melodieführung mit großer Virtuosität und Einfühlungskraft, John Coltrane interpretiert das harmonische Gerüst in einem rastlosen Solo. CB
39. JUJU
Wayne Shorter Blue Note, 1964
Auf dem Album von 1964 vereint Wayne Shorter Wille und Fähigkeit als bedeutender Tenorsaxofonist, Komponist und Bandleader neben John Coltrane. Mit der Rhythmusgruppe des Coltrane-Albums „Africa/Brass“, Elvin Jones, Reggie Workman und McCoy Tyner, entwickelt Shorter seinen Code: brodelnde Improvisationen und melancholisch anmutende Melodiefragmente. CB
40. THE BLUES AND THE ABSTRACT TRUTH
Oliver Nelson Impulse!, 1961
Sechs Meditationen über den Blues schrieb der Saxofonist, Big-Band-Leader, Arrangeur und Soundforscher Oliver Nelson für sein Debüt auf Impulse!. Gleich die erste, „Stolen Moments“, wurde zum Klassiker. Freddie Hubbard (tp) ist hier auf der Höhe seiner Kunst, Eric Dolphy (as, fl) und Bill Evans (p) gehen gewohnt subtil zu Werke. MB
41. MONK‘ S MUSIC
Thelonious Monk Riverside, 1957
1957 kehrte Monk nach sechs Jahren Zwangspause (man hatte ihm die Lizenz entzogen) auf die Bühnen der New Yorker Clubs zurück. Die Studiosession vom 26. Juni 1957 scheint eine persönliche Feierstunde. Mit seinem großartig besetzten Septett um John Coltrane und Coleman Hawkins an den Tenorsaxofonen und Art Blakey am Schlagzeug spielte er einige seiner größten Kompositionen. MB
42. BLUES &ROOTS
Charles Mingus Atlantic, 1959
Einige Kritiker hätten ihm vorgeworfen, seine Musik sei zu kopfgesteuert und swinge nicht genug, schreibt Charles Mingus in den Linernotes zu „Blues And Roots“ und liefert die musikalische Antwort gleich mit: Das, wie der Titel schon nahelegt, tief in Blues und Gospel gründende Werk ist sein lebendigstes, wildestes und mitreißendstes Album, ein spiritueller Rausch. MB
43. THE INDIVIDUALISM OF GIL EVANS
Gil Evans Verve, 1964
Zwischen 1963 und 1964 aufgenommen, zeigt dieses Album den großen Arrangeur als Bandleader und Komponisten in eigener Sache. Virtuose Ensemblesprache, die sich keinem musikalischen Idiom direkt verpflichtet fühlt und zeitgenössische Individualisten wie Johnny Coles oder Wayne Shorter in einem orchestralen Setting glänzen lässt. Visionäre Klangkunst. CB
44. ATTICA BLUES
Archie Shepp Impulse!, 1972
Der im September 1971 blutig niedergeschlagene Gefängnisaufstand in der Attica Correctional Facility inspirierte nicht nur Bob Dylan und John Lennon zu neuen Songs, Archie Shepp reagierte, indem er vom radikalen Free Jazz zu einer mitreißenden Mischung aus Funk, Soul, Gospel und Blues schwenkte. Der Titelsong wurde während des Acid-Jazz-Revivals zum Hit. MB
45. SAXOPHONE COLOSSUS
Sonny Rollins Prestige, 1956
„St. Thomas“, ein Traditional im Calypso-Feel, ist die berühmteste Nummer des in der Tat kolossalen Tenoristen aus New York. Ein Ton mit breiten Schultern, eine Phrasierung, die weder Eleganz noch Kraft scheut. Angst vor scheinbar einfachen Nummern hatte Rollins sowieso nie: Hier spielt er mit „Moritat“ nichts anderes als Brecht/Weills Klassiker „Mackie Messer“. TM
46. FUSION
The Jimmy Giuffre 3 Verve, 1961
„Blues-based folk jazz“ nannte der Saxofonist und Klarinettist seinen Schlagzeug-freien Stil, den er mit seinem ersten Trio in den Fünfzigern verfolgte. Auf „Fusion“ brach er mit der zweiten Inkarnation der Jimmy Giuffre 3, begleitet von dem Pianisten Paul Bley und dem Bassisten Steve Swallow, Richtung Minimalismus und Avantgarde auf. Eher Debussy als Dizzy Gillespie. MB
47. MUSIC IS THE HEALING FORCE OF THE UNIVERSE
Albert Ayler Impulse!, 1969
Albert Aylers Stil war frei und archaisch zugleich, er berief sich auf Folksongs und Marschmusik, New-Orleans-Jazz und Rhythm’n’Blues, ließ sein Saxofon bis an die Schmerzgrenze quietschen und entlockte ihm mehrere Töne zugleich. Seine Freundin Mary Parks schrieb die esoterischen Stücke und sang, Henry Vestine von Canned Heat spielt Gitarre. MB
48. COIN COIN CHAPTER ONE: GENS DE COULEUR LIBRES
Matana Roberts Constellation, 2011
Die Vorbilder dieses ambitionierten Albums sind die großen, aus der Bürgerrechtsbewegung entstandenen Suiten von Sonny Rollins, Max Roach und Charlie Mingus. Die Verbindung zwischen Jazz und afroamerikanischer Geschichte steht im Mittelpunkt dieses groovenden, ritualistischen Opus der Saxofonistin und Sängerin Matana Roberts. MB
49. BLACKNUSS
Rahsaan Roland Kirk Atlantic, 1971
Wahrscheinlich gibt es kaum ein Jazz-Album, das mehr funky Furor verbreitet als dieses. Der blinde Saxofonist und sein riesiges Ensemble covern Soulsongs von Bill Withers, Marvin Gaye und Johnny Bristol, hingebungsvoll und deep. In der titelgebenden Eigenkomposition, einem dampfenden Stück politischer awareness, singt Whitneys Mutter Cissy Houston im Hintergrund. SZ
50. EASTERN SOUNDS
Yusef Lateef Moodsville, 1961
Er kam vom Hard Bop, und sein Klang war seelenvoller als der anderer Saxofonisten -von Lateefs Oboen-und Flötentönen ganz zu schweigen. Schon in den Fünfzigern öffnete er seine Musik für fernöstliche Klänge. „Eastern Sounds“ ist sein schönstes Album, Alex Norths „Love Theme From ‚Spartacus'“ wird in Lateefs ungemein zarter Interpretation zu einem ergreifenden Kleinod. SZ
51. NEFERTITI
Miles Davis Columbia, 1967
Das zweite große Quintett auf dem Höhepunkt.
52. MONK‘ S DREAM
Thelonious Monk Columbia, 1963
Monk mit seinem tightesten Quartett.
53. NIGHT TRAIN
Oscar Petersen Trio Verve, 1962
Ein brillanter Techniker auf dem Höhepunkt seiner Popularität.
54. COUNTRY PREACHER
Cannonball Adderley Quintet
Capitol, 1969
Hard Bop zu Ehren von Reverend Jesse Jackson.
55. JAZZ AT ANN ARBOR
Chet Baker Quartet Pacific 1955
Klassisches Live-Set des Trompeters von 1954.
56. CONCERT BY THE SEA
Erroll Garner Columbia, 1956
Klavier verstimmt, Aufnahme suboptimal und doch Garners bestes Werk.
57. JAZZ PÅ SVENSKA
Jan Johansson Megafon, 1964
Schwedische Folksongs im Jazz-Arrangement.
58. BODY AND SOUL
Billie Holiday Verve, 1957
Lady Day kurz vor Einbruch der Nacht. Beseelt.
59. PRESENTS CHARLIE MINGUS
Charlie Mingus Candid, 1960
Wild und kompakt.
60. LIVE AT THE VILLAGE VANGUARD
John Coltrane Impulse!, 1962
Coltrane erweitete sein Quartet für dieses intensive Set um Eric Dolphy.
61. SONNY MEETS HAWK!
Sonny Rollins &Coleman Hawkins
RCA Victor, 1963
Gipfel der Tenorsaxofonisten.
62. AFRICA/BRASS
John Coltrane Impulse!, 1961
Coltrane mit großen Ensemble, Dolphy und Tyner orchestrieren.
63. SIN & SOUL AND THEN SOME
Oscar Brown Jr. Columbia, 1960
Der große Songlyriker als toller Soul-Sänger.
64. ONCE UPON A
SUMMERTIME
Blossom Deary Verve, 1959
Die Sängerin mit der mädchenhaften Stimme.
65. SUNDAY AT THE VILLAGE VANGUARD
Bill Evans Trio Riverside, 1961
Letzte Performance von Evans‘ bestem Trio vor Scott LaFaros (b) Tod.
66. SONGS FOR DISTINGUÉ LOVERS
Billie Holiday Verve, 1957
Stimme und Herz gebrochen, führt Lady Day durchs American Songbook.
67. LET MY CHILDREN HEAR MUSIC
Charles Mingus Columbia, 1972
Für Mingus war diese ambitionierte Suite schlicht „the best album I have ever made“.
68. LANQUIDITY
Sun Ra Philly, 1978
Funk from outer space.
69. LADY SINGS THE BLUES
Billie Holiday Clef, 1956
Holiday singt drei Jahre vor ihrem Tod um ihr Leben.
70. AFRO-EURASIAN ECLIPSE
Duke Ellington Fantasy, 1971
Exotisch, deep und immer noch furios. Der Duke im Herbst seiner Karriere.
71. VOLUNTEERED SLAVERY
Rahsaan Roland Kirk Atlantic, 1969
Jazz-Poetry-Gottesdienst.
72. WALTZ FOR DEBBY
Bill Evans Trio Riverside, 1961
Die Zugabe von „Sunday At The Village Vanguard“.
73. RIP, RIG AND PANIC
Rahsaan Roland Kirk Limelight, 1965
Furiose Session mit Elvin Jones (d), Jaki Byard (p) und Richard Davis (b).
74. SOMETHING ELSE!!!!
Ornette Coleman Contemporary, 1958
Das kontroverse Debüt des radikalen Neuerers.
75. THE INNER MOUN-
TING FLAME
Mahavishnu Orchestra CBS, 1971
Das erste Album von John McLaughlins Fusion-Band.
76. BIG SWING FACE
Buddy Rich Pacific, 1967
Richs Big Band in früher Blüte eröffnet mit „Norwegian Wood“.
77. BLACK, BROWN AND BEIGE
Duke Ellington Columbia, 1958
Kritiker verrissen die ambitionierte Suite bei der Uraufführung 1943,15 Jahre später arrangierte der Duke sie für diese Aufnahme um. Mahalia Jackson singt.
78. DANCING IN YOUR HEADS
Ornette Coleman Horizon, 1977
Der Innovator inspiriert von Funk und marokkanischer Musik.
79. FAR EAST SUITE
Duke Ellington Bluebird, 1967
Ellington und Billy Strayhorn komponierten die Suite nach einer Tour durch den Nahen (!) Osten.
80. MINGUS, MINGUS MINGUS, MINGUS, MINGUS
Charles Mingus Impulse!, 1964
Inspirierte, neu arrangierte Versionen einige seiner größten Erfolge.
81. SPIRITUAL UNITY
Albert Ayler Trio ESP, 1965
Ayler setzt sich an die Spitze der Avantgarde.
82. THE BRIGHT MISSISSIPPI
Allen Toussaint Nonesuch, 2009
Der Arrangeur und Songwriter setzt dem New-Orleans-Jazz ein Denkmal.
83. THESIS
The Jimmy Giuffre 3 Verve, 1961
Minimalistischer, fast skizzenhafter Nachklapp zu „Fusion“.
84. THE SERMON!
Jimmy Smith Blue Note, 1959
Der junge Wilde an der Orgel.
85. THE KÖLN CONCERT
Keith Jarrett ECM, 1975
Legendäre, WG-erprobte Piano-Improvisationen.
86. MEMPHIS UNDERGROUND
Herbie Mann Atlantic, 1969
Der Flötist geht nach Memphis und spielt mit der Muscle Shoals Rhythm Section.
87. SINGS THE COLE PORTER SONGBOOK
Ella Fitzgerald Verve, 1956
Ella adelt Cole.
88. THE OLATUNJI CONCERT
John Coltrane Impulse!, 2001
Tranes vorletzter Gig.
89. TAUHID
Pharoah Sanders Impulse!, 1966
Pharoahs minimalistisches Impulse!-Debüt.
90. OM WITH DOM UM ROMAO
OM Japo, 1978
Die Schweizer Jazzrocker mit dem brasilianischen Perkussionisten Romao.
91. SAME
Frank Sinatra &Antonio Carlos Jobim
Reprise, 1967
Ol‘ Blue Eyes goes Bossa nova.
92. KHMER
Nils Petter Molvær ECM, 1998
Jazz trifft House und Drum’n’Bass.
93. FREE FALL
Jimmy Giuffre Columbia, 1963
Folk-Jazz abstrakt.
94. MU, FIRST PART
Don Cherry BYG, 1969
Cherrys weltmusikalische Erkundungen.
95. QUIET KENNY
Kenny Dorham New Jazz, 1959
Cooles, melodiöses, unprätentiöses Set des Trompeters.
96. TUTU
Miles Davis Warner, 1986
Miles spielt Pop-Funk und Scritti Politti.
97. SUN SHIP
John Coltrane Impulse!, 1971
Das klassische Quartett in voller freier Pracht.
98. IN NEW YORK
Cannonball Adderley Sextet
Riverside, 1962
Yusef Lateef und Joe Zawinul frischen das Sextet auf.
99. THE CLOWN
Charles Mingus Atlantic, 1957
Blues, Jazz und Storytelling.
100. SAME
Duke Ellington &John Coltrane
Impulse!, 1963
Giganten sentimental.
DIE JURY
MICHA ACHER Musiker (The Notwist, Tied & Tickled Trio, 13&God) JENS BALZER Berliner Zeitung, ROLLING STONE CHRISTIAN BROECKING Journalist und Buchautor PETER BRÖTZMANN Musiker MAIK BRÜGGEMEYER ROLLING STONE THIEMO BRÜLL Ludwig Beck München HANNS PETER BUSHOFF Sony FRANK CASTENHOLZ Get Happy!? RALPH CHRISTOPH c/o pop CHRISTOPH DALLACH Der Spiegel DETLEF DIEDERICHSEN Haus der Kulturen der Welt, Berlin WOLFGANG DOEBELING Radio Eins, ROLLING STONE LARS DORSCH Musiker und Produzent KATARINA EHMKI Nightclub München JONATHAN FISCHER Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung MAX GÖSCHE ROLLING STONE JOACHIM HENTSCHEL Süddeutsche Zeitung, ROLLING STONE OLAF KARNIK Autor ALBERT KOCH Musikexpress HANNES KRAUS Kulturkaufhaus Dussmann, Berlin CARSTEN KREY & FRANK SCHINKEL Mr. Music, Bonn GEORG KRUSE CD Lounge, Darmstadt TOBI MÜLLER Volksbühne Berlin, Neue Zürcher Zeitung PETER RADSZUHN Musikchef Radio Eins BOGISLAV REICH Deutsche Welle HELGE SCHNEIDER Entertainer MARKUS SCHNEIDER Zürcher Tagesanzeiger, ROLLING STONE KLAUS VON SECKENDORFF Journalist PETER THIESSEN Musiker (Kante) JÖRG TOLLKÖTTER CD-Forum, Münster UWE WELTER Groove Attack PETE YORK Musiker SEBASTIAN ZABEL ROLLING STONE JÜRGEN ZIEMER ROLLING STONE JENNI ZYLKA WDR, taz, ROLLING STONE
KANN MAN HEUTE NOCH JAZZ VE RKAUFE N?
Am ersten Tag der Plattenladenwoche des vergangenen Jahres eröffnete in Berlin- Charlottenburg „Oldschool“, ein Musikladen, der sich auf Vinyl und Jazz spezialisiert hat. Das klingt mehr als 20 Jahre nach dem Tod von Miles Davis, in Zeiten rückgängiger Tonträgerverkäufe und eines boomenden Digital-Markts herrlich aus der Zeit gefallen. Aber kann das auch funktionieren? Ja, sagt der Geschäftsinhaber Clemens Schröer: „Wir sind antizyklisch aufgestellt. Genau das ist unsere Philosophie.“
Jazz ist Musik für wenige, aber die sind oft genug mit gut gefüllter Geldbörse dabei. Dementsprechend muss natürlich das Sortiment aussehen. Neben Klassikern von Armstrong, Baker, Coltrane und Davis sollte man dort auch Abseitiges finden, das den Experten erfreut -alt und neu, gebraucht und originalverschweißt, „very good+“ und „mint“. Ein guter Plattenladen muss immer Gourmettempel und Trödelmarkt zugleich sein. Die Kunden sollen stöbern können und entdecken, anschauen und anfassen, prüfen und probehören.
Im Oldschool-Regal stehen natürlich die großen Alben der 50er-und 60er-Jahre wie „Kind Of Blue“ und „A Love Supreme“, zwei Meter weiter stößt man auf „All Or Nothing At All“ von Alexander Stewart und „Lento“ von der südkoreanischen Jazzsängerin Youn Sun Nah -Erscheinungsjahr übrigens 2013. Ein echter Avantgardist, und so sehen sich nicht wenige Jazzkäufer immer noch, ist nämlich auch offen für Innovation. Und obwohl es der Jazz-Nachwuchs heute nicht leicht hat, gibt es ihn doch -unter Künstlern und unter Käufern.
Für den Plattenladenbesitzer von heute müssen „Individualität und Passion im Umgang mit Musik“ im Mittelpunkt stehen, sagt Schröer. Exklusivität heißt das Erfolgsrezept gegen Elektromarktkette und Online-Börse. Denn Jazz ist Musik für Liebhaber. Und ein richtiger Liebhaber ist leidenschaftlich. Und „überall, wo Leidenschaft ist, ist auch Vinyl stark“, erklärt Schröer.
So einfach ist das also. Und daher ist das Geschäftsmodell hinter „Oldschool“, Nischen-Musik auf einem Nischen-Medium zu verkaufen, gar nicht so altmodisch, sondern für die Branche vermutlich sogar wegweisend. MARTIN WIENS