Blue Note Heute
Vom Jazz-Label in die Norah Jones-Ära
Von den ersten Platten, die er produzierte, ließ Alfred Lion 50 Stück pressen. Selbst in der klassischen Blue-Note-Zeit wurden von einem durchschnittlichen Album – so schätzt Michael Cuscuna – „vielleicht 2 000 Exemplare“ verkauft. Bei den stärker gefragten Künstlern wie Jimmy Smith oder Lee Morgan konnte man sich auch mal Startauflagen von 5 000 Stück leisten. Und als Blue Note in den Achtzigern unterm Dach der EMI durchstartete, erreichten die Bestseller des Labels eine halbe oder auch mal eine ganze Million verkaufter Einheiten. Großartige Zahlen für die Jazzbranche, ohne Frage. Doch jetzt ist alles anders. Es gibt bei Blue Note eine Zeit vor Norah Jones und eine Zeit seit Norah Jones.
Es hatte sich angekündigt. Die Grenzen zwischen Jazz und Pop wurden immer durchlässiger, auch in den heiligen Hallen von Blue Note, dem Haus des Jazz-Grals. Cassandra Wilson klang zuweilen schon wie eine schwarze Joni Mitchell. HipHop-Remixer strickten Blue Note-Grooves um zu slicken Rap-Teppichen. Draußen in der Welt begann Erwachsenen-Pop gleichzeitig ein klein wenig nach Country und Jazz zu klingen. Warum also nicht eine Jazz-Platte machen, die eigentlich Songwriter-Stoff ist? Eine Platte, „die bei jedem modernen Pop-Label hätte erscheine können“, wie der Jazz-Kritiker Richard Cook schreibt. Eine Platte, an der „Fans von Sade, Charlie Rich und Nick Drake gleichermaßen Vergnügen finden“, wie es beim Label hieß. „Come Away With Me° erschien zwar auf Blue Note, es spielten auch Jazz-Musiker mit, aber das Album holte Pop-Grammys. Und verkaufte sich etwa 23 Millionen Mal. Und verkauft weiter. „Ich hatte höchstens 100000 Exemplare erwartet“, gibt Bruce Lundvall zu.
Wir befinden uns im Jahr 7 nach „Come Away With Me“. Inzwischen hat Geetali Norah Jones Shankar schon drei Alben auf Blue Note veröffentlicht. Sie hat außerdem einen Song mit Ray Charles aufgenommen, drei weitere Grammys gesammelt, ihr Kinodebüt als Schauspielerin hingelegt, mit Herbie Hancock gearbeitet und in Großbritannien insgesamt sechs Singles in den Top 100 platziert. In dieser Zeit wurden bei Blue Note unter anderem folgende Künstler gesignt: Al Green, Anita Baker, Van Morrison, Arnos Lee, Priscilla Ahn, Dr. John, Suzanne Vega, Floratone – auch nicht unbedingt Jazz-Acts. 2007 war dann Götz Aismann der erste deutsche Solokünstler, der auf dem Label Blue Note veröffentlichte. Wie er das geschafft hat, bleibt wohl „sein Geheimnis“, wie er einmal sagte.
Es war schließlich wenig überraschend, als Blue Note plötzlich auch Wynton Marsalis präsentierte, Sonys Jazz-Superstar der 90er Jahre. Oder dessen ebenso großen Trompeten-Kollegen Terence Blanchard. Oder auch Stacey Kent, Candids Erfolgs-Jazzvokalistin. Wahrscheinlich sind das jetzt, mit den Norah-Jones-Millionen im Rücken, ganz kleine Fische, denkt man, wahrscheinlich kann Blue Note jetzt jeden haben. Zum Beispiel den Country-Barden Willie Nelson für eine gemeinsame Platte mit dem Jazz-Sittenwächter Wynton Marsalis? Schon passiert!
Blue Note will und wird ein Jazz-Label bleiben. Die Verantwortlichen haben im Jazz-Bereich über die Jahre an Musikern festgehalten, an deren künstlerische Vision sie glaubten, auch wenn die Verkaufszahlen nicht stimmten. Vom genialen Trompeter Tim Hagans trennte man sich nur schwer. Der geniale Saxofonist Greg Osby ist noch immer dabei. Auch Jason Moran, Don Byron, Aaron Parks, Robert Glasper, Jacky Terrasson. Seit EMI einem Investment-Fonds gehört, werden die Bilanzen noch strenger kontrolliert. Da sind ein paar Pop-Künstler ein gutes Argument, um sich ambitionierten Jazz weiterhin leisten zu können. Jazz-Qualität als Luxus. Sei’s drum.