Blinde Passagiere auf der Andrea Doria
Die Plattenfirma will es natürlich gewußt haben: Sie ließ flache Päckchen mit einer Single verschicken und sofort nachkobern, wie man das Stück denn finde: „Gut? Das wird ein Hit!“, wurde man am Telefon belehrt ob der Antwort, es sei nicht übel. „Narcotic“, auf Rang 87 der deutschen Charts eingestiegen, erreichte nach drei Monaten den zweiten Platz. Platin.
Der Erfolg von Liquido aus Heidelberg erinnert an Fool’s Garden, deren „Lemon Tree“ vor einigen Jahren kurz blühte, an das „Brand New Toy“ von Hamburgs The Jeremy Days oder den „Blueprint“ der Berliner Rainbirds periodische Sturmläufe hiesiger Musiker, in Text und Klang an den Mustern angloamerikanischer Attitüde entlang zur Pop-Hochkultur aufzuschließen.
Das anglophile Narkotikum wird derzeit von den Buschtrommeln der Plattenbranche besonders heftig begleitet: Die Magdeburger Band Scycs verfehlte im letzten Herbst mit ihrer Single „Next November“ nur knapp eine TopTen-Plazierung – und darf deshalb nun mit dem Album „Pay TV“ an den Start. Bei BMG sind Glow mit ihrem Album „Superclass“ dabei – sowie der gerade erst volljährige Vierer No Sex Until Marriage, dessen Single „You Will Be Late“ anscheinend zuerst das Klassenziel erreichen muß, bevor es ein Album gibt. Die PickelundPetting-Postille „Bravo“, der seit geraumer Zeit die Boygroups entwachsen, sieht – den englischen Texten zum Trotz – eine „Neue Deutsche Rockwelle“ anrollen, und die Plattenfirma Edel gebiert im CD-Info zu Scycs gar eine „frische, neue Rockgeneration“.
Geklont von der Musikindustrie indes sind diese Bands nicht, wie Kritiker oft argwöhnen; eher industriell geförderte Mucker-Talente, die nun aus dem Proberaum heraus jenen nachfolgen, die zuvor gegen den Trend und doch in der Zeit überraschend den Weg ebneten. Der Hit „Rescue Me“ von Bell, Book & Candle etwa begann beim Label Amiga, das ab Verweser des VEB-Liedguts in der BMG aufgegangen ist. Dort wurden Andy Birr und Hendrik Röder, Söhne zweier Puhdys-Musiker, mit der Sängerin Jana Groß vorstellig. Entgegen der gängigen Vorgabe, sie sollten doch deutsch singen, reüssierten die Ostberliner dann triumphal mit einer Art Cranberries-Reprise. Zeitgleich erspielten sich die Guano Apes von Göttingen aus mit dynamischen Gitarrenmelodien eine Fan-Gemeinde, dann die Rotation auf VIVA und das Radio, schließlich Platin für ihr Album „Proud Like A Goud“ sowie den Musikpreis „Echo“, der seit einigen Jahren das kommerzielle Selbstbewußtsein heimischer Produkte auszeichnet und stärken solL ‚ 7 in Jahr später scheint die Frist verstt chen, in der die Pfadfinder der Plattei firmen das Terrain sondiert haben, beginnt der Zug der Lemminge: Merci^y hat kürzlich die Mellow Sirens aus h nnover an den Start gebracht, Motor Music folgte mit den Hamburgern Motorsheep, EMI jetzt mit Frankfurts Fruit, auch die Berlinerin Dan samt Band hat nach ihrem Flop vor zwei Jahren in dieser Atmosphäre eine zweite Chance erhalten. Mehr oder weniger spielen alle mit den Melodien des Poparchivs, bringen sämige Gitarren, elektronisches Gewitter und zarten Gesang zusammen. „Auf deutsch klang ich zu schlagermäßig“, meint Catenia Quentin von Fruit, die sich dafür nun Vergleiche mit Shirley Manson oder Björk anhören muß. Das Gruppenbild mit Dame, das Assoziationen zum Appeal von No Doubt, Skunk Anansie oder Garbage abruft, hat Konjunktur. Eine Faustregel besage, eine Band brauche „fünf bis acht Jahre, bis sie einen Plattenvertrag bei einer Major Company kriegt“, hat Sängerin Nina Grötschel von den Mellow Sirens gehört. „Daran gemessen ging es bei uns ziemlich rasant.“ Sound und Stimme hätten ihm gefallen, sagt A&R-Mann Clemens Fachinger, der das Quintett aufgetan hat, aber auch weiß: „Vor drei, vier Jahren hätte ich die nicht untergekriegt.“
Da galt das deutschsprachige Diktat, ausgegeben von den Major-Plattenfirmen, befeuert von Quotenrufern wie dem korrekten Kunze und angeschoben von intellektuellen
Diskurs-Bands wie Blumfeld, Tocotronic, Die Sterne. Als The Jeremy Days kurz vor Ende der Achtziger anfingen, so erinnert sich Sänger Dirk Darmstaedter, „da mußte man englisch singen, sonst lief bei den Plattenfirmen gar nichts“. Mitte der Neunziger dann jammerten viele Rockbands darüber, für einen Plattenvertrag das gewohnte Dictionary gegen den Synonym-Duden eintauschen zu müssen während die deutsche Lied-Lyrik eine trügerische Blütezeit erfuhr. Dem Mißverständnis, der Siegeszug Seligs und der deutsch rappenden Sprechsänger sowie das Schlager-Trash-Revival ließe auf eine renditeträchtige Reim-Jugend schließen, verdankten Bands wie Samba, Das Auge Gottes, Heinz aus Wien, Sorgenbrecher und zahlreiche Andere hoffnungsfrohe Chancen und kurze Karrieren.
Die Prognosen, wann denn das Triumvirat Westernhagen, Niedecken, Grönemeyer nun abtrete, sind zum runninggag geronnen. Nachfolger sind nicht in Sicht, wenn man es nicht altbacken Pur oder pubertär Echt mag. Die deutsche Sprache bleibt ein Witz, wenn Verona Feldbusch Karriere macht, weil ihr das Dativ ins üppige Dekollete rutscht „Ich bin hier, in mein‘ Revier“, röhrte Westernhagen den Abzählreim noch mal zum Doppel-Platin.
„Es gibt halt wenige, die deutsche Texte in einem klassischen Popsong einsetzen können, so wie Blumfeld mit .Tausend Tränen tief „, sagt Richard Wernicke, Betreiber des EMI-Labels Monitor. „Deutschsprachige Musik ist zwar immer noch angesagter, hat aber keinen Bonus mehr gegenüber englischem Gesang.“
Wernicke betreut Fruit, die als sechsköpfige Formation in Alter, Besetzung und Musikgeschmack die neue musikalische Mitte repräsentieren. Zur klassischen Rock-Instrumentierung wurden zwei Elektroniker in die Band integriert, ihr Debüt JixposuresLeft“besticht durch ein professionelles sowie klares popmusikalisches Verständnis. „Es sind die Neunziger“, so ihr 26jähriger Geräuschebastler Christian Walter, der mit 18 seine erste „Snap-mäßige“ Platte gemacht hat, „und wir kommen aus der City of Europe.“
Es ist die Generation der 20- bis 30jährigen, die hier selbstverständlich mit dem popkulturellen Erbe puzzelt und den globalen Jugend-Codes jongliert, mal sublim das Vorbild umgarnt oder auch plumpem Plagiat verfallt Jedenfalls sei „mehr Selbstbewußtsein da, ist die Welt für uns viel kleiner“, bemerkt Catenia. „Seit zehn Jahren gibt’s MTV auch bei uns zu sehen“, sagt Wernicke. „Mittlerweile hat jeder begriffen, wie’s geht.“ Und der letzte weltumspannende Hype, den der Clip-Kanal seither in die Wohnstuben funkte, war Grunge. Die Folgen, eine pauschale Umpolung des Glaubwürdigkeits-Zertifikats „Indie“ zum neuen Mainstream-Etikett, sind bekannt, gären noch immer und fruchten nun auch hierzulande. Nina Grötschel sieht sich als „Grunge-Kid“, Fruits Gitarrist Frank Rill sowie sein Bruder Mark am Baß verhehlen nicht ihre Verehrung der einstigen Seattle-Szene, Liquido schwören auf eels und Weezer und begreifen sich ebenso wie Scycs als „Alternative-Bands“. Es sei zwar nicht „pc“, wie der Scycs-Sänger VOLKS MUSIK Stephan Michme eifrig eingesteht, daß man sich zwecks Popularitätsschub in der RTL-Soap „Unter uns“ selbst dargestellt habe, „aber wir haben wirklich alles getan, um dieses Album aufnehmen zu können“.
Neben dem urbanen Kultur-Clash ist es oft die provinzielle Unschuld in einem „musikalischen Brachland“, wie Michme Magdeburg nennt, die instinktiv zum Hauptstrom drängt Natürlich sagt er, „unsere Musik kommt aus dem Bauch“, proklamiert „Schweiß und Rock’n’Roll“ und schätzt Kollegen wie Sharon Stoned und Miles. Mag die Perspektive auch verschwommen sein und zu rührenden Allgemeinplätzen fuhren – die Inbrust ist echt Derart sozialisiert und spezifisch via VIVA und MTV immer perfekter an den Ausdrucksformen des Populären geschult, haben es die medialen Mechanismen und das elektronische Equipment einheimischen Musikern nie leichter gemacht als heute, nicht mehr verkrampft gegen die angloamerikanischen Traditionen anspielen zu müssen. Nicht nur ihnen ist das englische Vokabular so selbstverständlich geworden, daß regelmäßig Apostel der deutschen Linguistik über zuviele Anglizismen wettern – während zur gleichen Zeit MTV mit seinem deutschsprachigen Fenster verlorene Marktanteile zurückgewinnen will. Motorsheeps Sängerin Birgit Fischer hat lange Jahre in London verbracht und dort die Musik aufgesogen. Und qua Historie hält sich ohnehin die Gewißheit, Englisch sei ja die „Sprache des Rock“, sagt Michme. Scycs-Gitarrtst Mario Swigulski etwa schwört auf Neil bung, was zwar nicht rauszuhören ist, aber auch nicht klingt wie bei Kunze. Das genuin Deutsche, das stets mitschwang, ist abgeschliffen. Die globale Zeichensprache im Zeitalter visueller und virtueller Sperrfeuer verwischt die letzten Verweise auf nationale Identitäten. Wer die Crossover-Combo H-BlockX durch ihren Computer-generierten Video-Clip hopsen sah, konnte die Münsteraner auch für eine Band aus Miami halten.
Jana Groß ist es schon passiert, daß sie von Journalisten auf Englisch angesprochen wurde – und jene enttäuscht waren, ab sie sich als Deutsche zu erkennen gab. Anders als in Schweden, deren Bands seit Abba den Pop verinnerlicht haben, wo Roxette, Clawfinger, Ace Of Base, die Wannadies und Cardigans, selbst die sperrige Songwriterin Stina Nordenstam trotz Mißachtung ihrer Muttersprache geachtet werden, ist hierzulande die Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit von Bands mit englischen Texten noch immer immens. Obgleich das Video von Fruit auf VTVA heftig rotierte, wurde ihr Song „Firewalker“ vom Radio geschmäht „Wir haben nie den schnellen Hit beabsichtigt“, sagt Catenia Quentin, „sondern wollen langfristig etwas aufbauen.“ Gelungen ist das zuletzt den Scorpions und Modern Talking.
Es ist eine Binsenweisheit, die dennoch stimmt: Als amerikanische Band würden Fruit in Deutschland mehr beachtet werden – während Rammstein in Amerika zündeln und auch zünden, weil sie so schön streng teutonisch das R rollen. Trotz aller globalen Vernetzungen funktionieren weiterhin die Klischees in den Köpfen.
Die Verhältnisse auf den Kopf stellen wollen Chester aus Köln, die sich dem Britpop verpflichtet fühlen und dem britischen Single-Hype gleich dazu. Beim Label Day-Glo haben sie bislang einige süperbe Songs veröffentlicht, um vorerst das Radio zu erobern. Die bemerkenswerteste Übertragung amerikanischer Rock-Idiome indes ist der Band Jonas aus Bad Bentheim gelungen, die auf „Sony, I’m Sony, Sorrf beseelt der Melodramatik der Smashing Pumpkins nachspürt Die jungen Niedersachsen sind in Hamburg bei LXge D’Or untergekommen, dem Label von Tocotronic, von denen sie unaufdringlich protegiert werden.
Die Guano Apes, Scycs und Motorsheep sind erfolgreich gestählt durch Bandwettbewerbe, vor nicht allzu langer Zeit noch Pyrrus-Siege für blauäugige Karriereträume, einige Mitglieder der Mellow Sirens sind zuletzt in Top-40-Bands über die Dorf feste und durch Diskotheken getingelt Scycs hatten bereits ein Angebot aus Amerika, wenn auch lediglich von der dortigen Edel-Dependence, was die Band jedoch ablehnte. Und während Stephan Michme noch in heimischer Mundart von „Rotkraut“ spricht, spürt er hier den Aufbruch- das mache ihn „so froh“.