„Black Mirror“-Kritik: „Bandersnatch“ auf Netflix
Mit „Bandersnatch“ gibt es einen „Black Mirror“-Film, in dem der Zuschauer selbst die Handlung vorantreibt. Das Cleverste an dieser Interaktivität ist jedoch, dass es uns an Netflix bindet – auf illegalen Streaming-Plattformen zu schauen, ergibt hier keinen Sinn. Gut gemacht.
Die Rezension enthält Spoiler.
Als Zuschauer aus Perspektiven auszuwählen, das gab es zwar schon in den Nullerjahren bis heute, im Öffentlich-Rechtlichen. Als Zuschauer aber als Gott adressiert zu werden, weil man über komplette Biografien, Kindheitstraumata, Familientragödien und den Tod entscheiden kann, das gab es wohl noch nicht.
Per Mausklick wurden vom Autoren dieser Zeilen im „Black Mirror“-Film „Bandersnatch“ u.a. folgende Entscheidungen getroffen, für den Protagonisten Stefan, einem jungen, neurotischen Spiele-Programmierer im Jahr 1984, der „Bandersnatch“ kreieren will – eine Variante des Intellivision-Konsolenspiels „Treasure of Tarmin“:
- „Sugar Puffs“ statt „Frosties“ zum Essen
- Thompson Twins statt Now auf dem Walkman hören
- Band-Album im Laden gekauft: The Bermuda Triangle statt Phaedra
- Job bei Tuckersoft ablehnen
Danach die erste fatale Entscheidung „Gottes“, dem Zuschauer, zurück also auf Start: „Tee über den Computer schütten“ statt „Dad anschreien“. Netflix, lernen wir, ist ein mächtigerer Gott als der Zuschauer-Gott: Der Rechner darf nicht zerstört werden. Schade! Ein Film-Ende nach ca. 45 Minuten.
Alternative: „Bei Tuckersoft arbeiten“ oder „Zurückgehen“? Zurückgehen! „Dad anschreien“ also statt „Tee verschütten“. Stefan folgt dann seinem Kollegen, dem genialen Entwickler Colin, in dessen Wohnung. Der Erfolgsschlager „Pac-Man“, so Colin, sei in Wirklichkeit ein Ausdruck zynischer Betrachtung dessen dumpfer Konsumenten: stets am Fressen und sich verfolgt fühlen, eingeschlossen in einem Labyrinth, von einem ins andere flüchtend, verfolgt von Monstern, die nur er sieht, so sind die Gamer, so ist der Pac-Man.
„PAC“ stehe für „Program and Control“: die totale Überwachung. Und alles findet immer und immer wieder statt. Colin fragt: „Wie oft hast Du Pac-Man sterben sehen?“ An dem Gedanken ist was dran.
Der LSD-Trip der beiden Männer hat fatale Folgen (man entscheidet sich für „Colin springt“ statt „Stefan springt“ vom Balkon des Hochhauses), und „Bandersnatch“ ist nun schon sehr weit fortgeschritten in der – durchaus konventionellen, häufig erzählten – Geschichte des Computer-Genies, dessen Paranoia seine Intelligenz noch übersteigt. Die 1980er-Kulissen, mit krisseligen Bildschirm-Darstellungen, klobigen Video-Rekordern und seitenweise Codes in dicken Büchern, wahnhaft eingetippt, erinnern an Hans Christian Schmids unterschätzten, auch schon 20 Jahre alten Hacker-Thriller „23“.
Gott Netflix
Colin, eine Art Reisender zwischen den Dimensionen, spricht von mehreren Realitätsebenen. Erst beim zweiten „Bandersnatch“-Durchgang kommt einem der Hund an Anfang des Films verdächtig vor: Wonach buddelt er in der Gartenerde? Wer könnte dort begraben worden sein, innerhalb welchen Zeitstrahls?
Sind die „Metl Hedds“ alias „Metalheads“ (Platz 5 im „Black Mirror“-Ranking), als Spiel von Tuckersoft im Programm, längst todbringende Wirklichkeit? Lernen Computer also von den Menschen, wie sich die Welt kontrollieren lässt?
https://www.youtube.com/watch?v=ShOA57gW0pI
Es gibt ablenkende, womöglich Konsequenz-freie Entscheidungen („Am Ohr ziehen“ oder „An den Fingernägeln kauen“), und zum Finale einen etwas zu deutlichen Bezug zu unserer Realität, als Stefan an seinem Heimbildschirm mit Netflix an sich konfrontiert wird: „I am watching you on Netflix, I make decisions for you“. Zu seiner Psychiaterin sagt Stefan: „Jemand aus der Zukunft kontrolliert mich!“ – Sie antwortet: „Was ist Netflix – ein Planet?“ Dass der Streamingdienst zur Selbstironie fähig ist, zeigt die Auswahlmöglichkeit zwischen „ihm mehr erzählen“ und „Erklärungsversuch“ – läuft beides auf dasselbe hinaus. Netflix lässt sich nicht erklären.
Kurios auch die Entscheidung Stefans, sich einem Befehl des Zuschauer-Gottes zu verweigern: Die Weisung an die TV-Figur, ein zweites Mal „Tee über den Computer auszuschütten“, wird von ihm glatt verweigert.
Dem Zuschauer den Spiegel vorhalten
Der Serientitel „Black Mirror“ bezieht sich auf das unangenehme Gefühl, auf den schwarzen Bildschirm eines ausgeschalteten Fernsehers zu schauen: Was wir darin sehen, ist nicht wirklich unser Spiegelbild, sondern die dunkle Landschaft einer Parallelwelt, die noch unerschlossen scheint. Aber natürlich will „Black Mirror“ auch die Bedrohung, die Prognose, die Dystopie aufzeigen: indem es eben spiegelt, wie wir werden können. Die Schattenwelt, das, was in uns lauert.
Im besten Fall sind solche Folgen einfach nur gnadenlos, wie „Metalhead“ oder „The National Anthem“; in anderen, wie „Arkangel“, sind sie schulmeisterlich. Auch „Bandersnatch“ will manchmal etwas zu drastisch sein: Als wir Zuschauer dazu eingeladen werden, eine völlig deplatzierte Karate-Actionszene zwischen Stefan und seiner Psychotherapeutin zu inszenieren, verschriftlicht das Auswahl-Menü die Sprache des typischen Popcorn-Zuschauers – „Ja!“ oder „mehr Action!“
Es soll zeigen, dass wir zwar Gott spielen können. Aber auch, dass wir selbst vor affektgesteuerten, Gelüste befriedigenden, dramaturgisch idiotischen Entscheidungen nicht gefeit sind. Die Einführung einer – konsequent als falsche Auswahl bezeichneten – Meta-Ebene, das so genannte „Durchbrechen der vierten Wand“, die Offenbarung von „Bandersnatch“ als Filmset, wirkt dann wie der eine Gag zu viel.
Am Ende der bittere Twist: Es spielt keine Rolle, ob das mit dem Kindheitstrauma verbundene Objekt, hier ein Stoffhase, eine positivere Besetzung erfährt, ob der Umgang damit gar dazu beiträgt, den Lauf der Familiengeschichte zu ändern. Das Schicksal Stefans bahnt sich auch so seinen Weg. Wer innerhalb einer Dimension eine tödliche Entscheidung trifft, stirbt auch in der anderen. Der Film hat dazu eine klare Haltung. Hier ist der Zuschauer weit unfreier, als er glaubt: Ohne Mutter geht nichts. „Über Mum sprechen“ wird zur einzigen Menü-Option, das große Ganze zu erkennen. Immer wieder landet man dort.
Oder doch nicht? Gleich mal von vorne mit „Bandersnatch“ beginnen – und den Job bei Tuckersoft annehmen. Vielleicht hätte es bereits einen Unterschied gemacht, wenn ich in den ersten Minuten zu Frosties gegriffen hätte …
Cleverer Zug von Netflix
Gut möglich jedenfalls, dass es wenige aktuelle Filme gibt, die derart heiß erwartet wurden und in Zukunft doch so selten auf illegalen Streaming-Plattformen gesehen werden, wie dieser. Sie möchten „Bandersnatch“ dennoch nicht auf Netflix anschauen, sondern illegal? Davon können wir nur abraten. Nicht nur, weil es selbstverständlich verboten ist und von uns nicht empfohlen wird.
Aber selbst, wenn Sie nicht auf uns hören wollen: Das Cleverste an diesem Film ist die Tatsache, dass es keinen Sinn gibt, ihn auf Kinox und Co zu gucken. Dort böte sich ja keine Interaktivität mehr an – man würde dort lediglich die Abspielung der Auswahl desjenigen Zuschauers sehen, der für uns Entscheidungen getroffen und seinen Film zum Upload zur Verfügung gestellt hat.
Und dass uns jemand kontrolliert, das wollen wir doch wirklich nicht.