Bis an die Grenze
Ein ungewöhnlich schönes Stück Geschichtsfernsehen: Hartmut Schoens packender Film "Die Mauer - Berlin '61"
Wenn plötzlich nichts mehr ist, wie es war… Wenn alles anders gekommen ist als geahnt… Wenn die Welt aus den Fugen gerät… An genau diesen Punkten setzen gute Filme an und erzählen, wie es ist, wenn man als Fisch plötzlich ans Land geworfen wird, nur weil man kurz mal eben schnuppern wollte an dem, was sich über der Wasseroberfläche tut. Plötzlich ist man Grenzverletzer und befindet sich auf der anderen Seite. So wie es Hans Kuhlke und seiner Frau Katharina ergangen ist im August 1961. Da wollten die beiden Ostberliner nur mal eben die Verwandten besuchen im Westen. Das ging damals noch. Aber während sie noch feierten, wurde ihnen der Rückweg versperrt in ihre Heimat, zu ihrem Kind. Plötzlich war da die Mauer. „Alle spannenden Geschichten gehen nun mal an Grenzen“, sagt Hartmut Schoen. Der Regisseur hat das schon bewiesen mit dem herausragenden Fernsehstück „Der Grenzer und das Mädchen“, in dem der wunderbar wandelbare Axel Prahl einen Beamten spielt, den ein junges Mädchen an der EU-Ostgrenze in einen Zwiespalt zwischen Gesetz und Emotion stürzt. Nun ist Schoen wieder an einer Grenze gelandet, wieder an einer realen, und wieder hat er der realen Grenze eine fiktive Geschichte verpasst, die sehr schön zeigt, was ein paar Rollen Stacheldraht und ein paar Ladungen Beton auslösen können.
Eigentlich sollte sich ja jemand anderes des Themas Mauer 1961 annehmen. Aber es gab Schwierigkeiten mit dem Personal, die dazu führten, dass Hartmut Schoen drei Monate vor Drehbeginn mit der Geschichte betraut wurde. Innerhalb von 90 Tagen musste er ein Drehbuch schreiben und sich ausdenken, wie man die Sache mit der Grenze angemessen inszeniert.
Schoen konnte dabei auch auf eigene Erfahrung aus dem Jahr des Mauerbaus, auf die Tage nachdem 13. August 1961, zurückgreifen. „Ich weiß noch, wie mein Vater gesagt hat: Das ist nur eine Geste“, berichtet er. Dass es mehr war, mussten er und die ganze Republik danach lange erfahren. Im Nachhinein hat es sich als sehr positiv erweisen, dass Schoen so wenig Zeit fürs Buch hatte, denn sonst wäre möglicherweise der Einfluss der Auftrag gebenden Produktionsfirma teamworx größer geworden, was in der Regel dazu führt, dass sich die zentrale Geschichte um eine Frau dreht, die sich zwischen zwei Männern entscheiden muss. Das war bei „Die Luftbrücke“ so, bei „Die Sturmflut“ auch und bei „Dresden“ sowieso. Immer dieselbe Konstellation. Schoen hat sich solchen Gedanken verweigert und nicht auf Spektakuläres gesetzt, sondern auf eine schöne Geschichte. In der spielen Heino Ferch und Inka Friedrich das Ehepaar Kuhlke, das plötzlich nicht mehr zum Sohn darf, das aufgenommen wird von einem schmierigen West-Unternehmer, der sofort nach dem Rock der Flüchtlingsfrau giert und ihn auch bekommt. Axel Prahl spielt diesen Schmierlapp in ganzer Vollendung, so dass man sich freut, dass seine Figur irgendwann von Hans Kuhlke richtig eins auf die Zwölf bekommt.
In der Mitte des Films stehen allerdings jene Szenen, in denen Mutter Kalupke im Westen zusehen muss, wie der Stacheldraht gezogen wird, wie Soldaten die Arbeiten überwachen und darauf achten, dass nur ja niemand die Flucht ergreift. Dass damals ein Soldat wirklich die Flucht ergriff und dabei ein historisches Foto entstand, ist wahre Geschichte. Und weil man weiß, wie gerne die Firma teamworx wahre Geschichte in ihren Produktionen nebenbei verwurstet, wartet man darauf, dass :1er Soldat auch in diesem Film springt. Aber er springt nicht. Da war der aufrechte Regisseur vor. „So etwas mache ich nicht“, sagt Schoen, und es ist ihm zu danken.
So darf „Die Mauer – Berlin ’61“ (29. September, 20.45 Arte / 4. Oktober, 20.15 Uhr ARD) allein von den Seelenqualen der Menschen erzählen, von den Kuhlkes, aber auch von der alkoholabhängigen Musiklehrerin Lavinia Kellermann, der Iris Berben eine ganz besondere Note verleiht. Eine, die weit über das hinausgeht, was man ansonsten von dieser Vorzeigefrau des deutschen Fernsehens gewohnt ist.
Aus dem hervorragenden Ensemble fällt letztlich dann doch nur Heino Ferch heraus. Der bleibt durchweg Heino Ferch, wie eigentlich immer in seinen Filmen, nur dass er ausnahmsweise mal nicht den coolen Gewinner gibt, sondern einen echten Loser darstellen soll. „Er hat sich getraut, gegen sein öffentliches Bild zu arbeiten“, sagt Regisseur Schoen diplomatisch. Ja, getraut hat er sich, der Herr Ferch.
Es spricht für den WDR-Film, dass der Fast-Ausfall Ferchs der Produktion nicht schadet. „Die Mauer – Berlin ’61“ ist ein außergewöhnliches, sehr schön ausgestattetes Stück Geschichtsfernsehen, das ohne das übliche Pathos auskommt und ohne allzu spektakuläre Effekte. Selbst der Versuchung, aus der Story einen Event-Zweiteiler zu zimmern, wurde widerstanden zugunsten eines Films, der erlebbar macht, wie es ist, wenn nichts mehr ist, wie es war.