Birgit Fuß fragt sich durch: Wie schafft es Natalie Merchant, so alterslos zu bleiben?
Äußerlichkeiten haben sie nie interessiert. Wie gelingt es Natalie Merchant, so alterslos zu wirken – auch in ihrer Musik?
„Hey Jack Kerouac, I think of your mother/ And the tears she cried.“ Als Natalie Merchant das sang, war sie 23 Jahre alt. Welche 23-Jährige denkt bei Jack Kerouac nicht zuerst an „On The Road“ und all die Abenteuer, sondern an die verlassene Mutter? Auf eine zauberhaft unaufdringliche Art war die Sängerin schon immer alterslos. Sie wirkte damals nicht richtig jung und heute nicht alt – und das gilt auch für ihre Musik. Ein Sonderfall im Popgeschäft.
Das Lied, „Hey Jack Kerouac“, ist auf dem dritten Album der 10,000 Maniacs zu finden, „In My Tribe“ (1987). 1981, mit siebzehn, stieß Natalie zu der Band und übernahm bald den Großteil des Songwritings. Sie suchte nach Inspiration, fand in Upstate New York nicht allzu viel und sah sich in der weiteren Umgebung um. In den Linernotes der sehr guten Compilation „Campfire Songs: The Popular, Obscure And Unknown Recordings“ schreibt sie: „Ich wurde eine altkluge Rust-Belt-Poetin, die von Kleinstadtexistenzen, Familienliebe, Teenager-Schwangerschaften, alleinerziehenden Müttern, Alkoholismus, Kindesmissbrauch, Analphabetismus, gierigen Unternehmen und sogar vom Krieg erzählte.“
Zwischen dem zarten Folk und den aufgebrachten Lyrics bestand eine gewisse Diskrepanz, gibt sie zu – doch genau die machte die 10,000 Maniacs aus. Zumal in Merchants eindringlicher Stimme dazu noch eine sanfte Reinheit lag, die sie bis heute bewahrt hat. So machte sie sich auch Morrisseys „Everyday Is Like Sunday“ zu eigen oder John Prines „Hello In There“, und bei „To Sir With Love“ gelang es ihr problemlos, neben Michael Stipe zu bestehen.
1993 traten die 10,000 Maniacs bei „MTV Unplugged“ auf, ihre Coverversion von „Because The Night“ ging um die Welt – und noch bevor das dazugehörige Album veröffentlicht wurde, verließ Merchant die Band. Als sie 1995 ihr Solodebüt, „Tigerlily“, veröffentlichte, war die Plattenfirma nicht erfreut: Sie hatte die kargen Lieder ohne Produzenten aufgenommen, auf dem Cover trug sie kein Make-up – wer sollte das kaufen? Fünf Millionen Menschen, wie sich herausstellte. Merchant machte einfach all den Zirkus um Äußerlichkeiten nicht mit, die Fixierung auf jugendliche Schönheit ging ihr auf die Nerven.
Mit „Keep Your Courage“ hat sie gerade ihr neuntes Soloalbum veröffentlicht, sie singt von „Big Girls“ und von Aphrodite: „Goddess of beauty, take my hand.“ Und feiert dann mit „Sister Tilly“ die Generation ihrer Mutter. Auf dem Cover ist Jeanne d’Arc zu sehen. Weibliche Stärke, zeitlos.
Natalie Merchant wird im Oktober sechzig. Vor zehn Jahren hörte sie auf, ihre Haare zu färben, weil es nicht zu ihrem natürlichen Lebensstil passte. „Alt werden ist kein Spaß, doch der Verlust der Schönheit wird durch Weisheit ausgeglichen“, erzählte sie damals – und lachte bei dem Einwand, dass sie ja immer noch schön sei, laut auf. Wer sich in die Öffentlichkeit stellt, wird bewertet. Ständig. Wir können gar nicht anders. Vielleicht könnten wir uns aber etwas zurückhalten, was die Kritik angeht. Natürlich habe auch ich eine Meinung zu Madonnas operiertem Gesicht, aber ich behalte sie für mich. Weil Madonna machen kann, was sie will – sie soll so alt werden, wie sie es möchte. Genau wie Natalie Merchant und alle anderen. Es geht uns nichts an. Am besten hat es Billie Eilish auf den Punkt gebracht: „Your opinion of me: not my responsibility.“
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