Birgit Fuß fragt sich durch: Wie fühlt sich das Musical „Hair“ heute an?

Warum sind wir eigentlich so wenig vorangekommen seit der Hippiezeit?

Als vor einigen Wochen der Schauspieler Treat Williams starb, sah ich sofort eine Szene vor mir: Williams als junger Mann mit langen Haaren, auf einem fein gedeckten Tisch tanzend, „I Got Life“ schmetternd. 1979 spielte er in Miloš Formans Verfilmung des Musicals „Hair“ den Hippie George Berger, und auch wenn er seitdem noch sehr viele sehr gute Rollen hatte, bleibt er – wahrscheinlich nicht nur für mich – doch immer dieser Berger: ein lebenslustiger, wilder Typ, der sich alle Konventionen weggrinst.

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Die Einwände gegen Formans Film sind bekannt und teilweise richtig: etwas zu klischeehaft und plakativ, und das Ende hat er auch noch geändert, damit es dramatischer wird. Und doch bleibt „Hair“ ein einzigartiges Dokument einer Ära, die 1979 ja längst vorbei war. Es gibt viele tolle Hippie-Dokumentationen („Woodstock“, „The Last Waltz“ und so weiter). Aber Spielfilme? „Easy Rider“ – und sonst? (Okay, „Alice’s Restaurant“ und „Zabriskie Point“.)

Kurz zur Erinnerung: „Hair“ spielt Mitte der 60er-Jahre, die Musik schrieb Galt MacDermot, die Texte stammen von Gerome Ragni und James Rado. Musical-Plots sind ja selten komplex, die Geschichte ist also schnell erzählt: Das Landei Claude Hooper Bukowski trifft in New York City auf eine Gruppe Hippies, bevor er zur Armee geht und schließlich nach Vietnam soll. Am Ende treffen sich alle auf einem Soldatenfriedhof wieder – und wenn dann „Let The Sunshine In“ erklingt, wird der Kloß im Hals sehr groß.

Antiquierte Klischees, aber lebendige Botschaft

Dazwischen erleben sie allerlei Abenteuer. Manche der Mann/Frau-Schwarz/Weiß-Stereotype wirken heute etwas antiquiert, auch wenn sie sich oft über sich selbst lustig machen, aber „Hair“ ist – ähnlich wie die „Rocky Horror Picture Show“ – nicht bieder, und das unterscheidet es schon mal von Andrew Lloyd Webber. Und natürlich die Musik! Auch wer pompöse Musicals verachtet und wenig mit Gruppenchoreografien anfangen kann, kommt gegen „Hair“ nicht an. Die Melodien sind einfach zu gewaltig, die Texte strotzen vor Ausgelassenheit bei gleichzeitiger Anerkennung des Horrors, den die kapitalistische Gesellschaft hervorbringt – Gewalt, Rassismus, generelle Spießigkeit, und dagegen helfen auch keine Drogen, manchmal sogar im Gegenteil.

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Was hilft, ist eine gewisse Demut – die ist in „I Got Life“ zu spüren: „I got life, mother/ I got laughs, sister/ I got freedom, brother/ I got good times, man!“ Das Aufzählen aller Körperteile und Organe, für die man viel zu selten dankbar ist, steht in einem entscheidenden Kontrast zu Nina Simones „Ain’t Got No“, das alle sozialen Bedürfnisse nennt, an denen es vielen fehlt (Zuhause, Geld, Arbeit, Kultur). Way to go!


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Wenn man „Hair“ heute sieht und hört, fragt man sich allerdings: Warum sind wir eigentlich so wenig vorangekommen seit der Hippiezeit? Wo ist denn das „Age Of Aquarius“, mit „Harmony and understanding/ Sympathy and trust abounding“? Alle Probleme, die vor Jahrzehnten thematisiert wurden, sind immer noch da – zum Teil sogar schlimmer. Und was wurde aus der Befreiung? Bei „Hair“ ging es um Lebensfreude und das Ausleben unserer Träume, aber es ging eben nicht nur um individuelle Wünsche, sondern um Werte wie Frieden, Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität, Empathie für alle – so altmodischer Kram halt, ohne den es keine echte Freiheit gibt.

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