Big Bang in die Postmoderne
Die neunziger Jahre begannen mit einer kompakten Explosion namens Grunge - um sich anschließend in ein zunehmend digitalisiertes Strahlenmeer aus atomisierten Genres, Subgenres und Nanogenres zu ergießen, aus dem nur hier und da einzelne Planeten hervorragten.
Auf den ersten Blick sah es tatsächlich so aus, als würde sich die Geschichte wieder einmal wiederholen. Das Wetter war leicht bewölkt an diesem Tag in Deutschland, ein wenig zu warm vielleicht für einen Dienstag im September, als in den Plattenläden ein neues Album schon allein mit seinem ungewöhnlich originellen Cover auf sich aufmerksam machte. Es zeigte einen tauchenden Säugling, der unter Wasser einen Dollarschein fixiert, der vor seiner Nase an einem Angelhaken im transzendenten Blau schwebt. Ein kongenialer Schnappschuss von der „„conditio humana“, der Bedingung des Menschseins, wie Kurt Cobain von Nirvana sie sah. Dieses Bild enthält schon alles, was auch die eigentliche Anziehungskraft der Musik ausmachen sollte: Das unschuldige Subjekt im flüssigen Milieu seiner noch unbegrenzten Möglichkeiten im letzten Moment, bevor es dem Kapitalismus mit all seinen Versuchungen an den Haken gehen wird.
Doch nicht nur der Titel von „Nevermind“ erinnerte an „„Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols“ von 1977, das Trio aus Seattle entfaltete auch in kultureller Hinsicht eine ähnlich verheerende und erneuernde Wirkung wie einst die Punk-Explosion. Diese Musik klang neu, und die Single „„Smells Like Teen Spirit“ war ihre beste Botschafterin. Hier verschmolz die Wut des Punk mit der Liebe zum Pop, hier wurde eine völlig neue Haltung hörbar, in der das triumphale Aufbegehren gegen die Welt und die leidende Zuneigung zum Dasein plötzlich keinen Widerspruch mehr darstellten – solange die Einstellung, die Grundhaltung, die Gesinnung, die Attitüde stimmte. Im Fall von Kurt Cobain war das die „„attitude“ des Slackers (von „slack“, lustlos, schlaff), der sich einen feuchten Kehricht um die Karriere schert und sich statt dessen der Selbstverwirklichung widmet, die gerne auch nur aus antriebslosem Ruinhängen bestehen kann. Äußere Attribute waren bekritzelte Converse-Turnschuhe, verschlissene Jeans und Holzfällerhemden von der Stange. Frühere Generationen mochten noch rebellisch „Keine Macht für niemand“ fordern oder deprimiert „no future“ erkennen. Cobain dagegen brachte das ewige Dilemma einer zwischen Idealen und Marktgesetzen eingeklemmten Jugend auf eine bittere, aufreizend ironische Formel: „Here we are now, entertain us“.
Nirvana, Pearl Jam und vergleichbare Gruppen freilich lösten dieses Dilemma nicht auf, sondern lieferten nur den zunehmend selbstmitleidigen Soundtrack dazu. Am Widerspruch, über den Protest gegen die Unterhaltungsindustrie selbst zum Unterhaltungsindustriellen zu werden, ging der Grunge schließlich zugrunde. Aber da war schon alles, was vorher Geltung hatte und noch aus den achtziger Jahren herüberragte, wie weggefegt: „Nevermind“ wischte nicht nur Michael Jacksons „„Dangerous“ von der Spitze der Charts, es entzog auch alternden Superstars wie Bon Jovi oder Guns N‘ Roses die Geschäftsgrundlage – sie wirkten plötzlich wie die Clowns, die sie waren. Dass Cobain sich dessen bewusst war, zeigte ein Vorfall bei der Verleihung des „MTV Video Award“ an Nirvana: Beim Verlassen der Bühne spuckte er auf das Klavier von Axl Rose. Wer von dieser kurzlebigen Renaissance der Ehrlichkeit übrigens nachhaltig profitierte, das waren alte Holzfäller wie Neil Young.
Und so blieb, selbst als Nirvana irgendwann ihren Status als wichtigste Band dieses Jahrzehnts an Radiohead abgeben mussten, die jeweils richtige „„attitude“ der Schlüssel zu all den musikalischen Bewegungen, die da noch kommen sollten – sei’s HipHop, Techno, Postpunk, Hardcore, Emo, Indierock, Drum’n’Bass oder Death Metal. In einem Maße verkauft, das der Angelsachse recht treffend mit „shitloads“ bezeichnet, wurde vor allem konfektionierter und gecasteter Trash für ein jüngeres Publikum. New Kids On The Block, Backstreet Boys, En Vogue, Destiny’s Child oder Take That tanzten sich mit ihrem R’n’B- und Soulgeschmiere nicht nur in die Herzen der Kids, sondern bescherten den Plattenfirmen auch eine letzte Blüte, von der auch „ehrliche Arbeiter im „Steinbruch des Rock“ etwas abbekamen: „„Wir lieben die Spice Girls“, gab unlängst Brian Molko von Placebo zu Protokoll, „sie bezahlten für alles, was wir machten“.
Daneben sollte sich vor allem der HipHop zu einer echten Marktmacht entwickeln, in der zunächst die schwarze Mittelschicht der USA – und dann erst Jugendliche in aller Welt – einen Ausdruck ihres Lebensgefühls erkannten. Dass sich in einem absurden „Krieg“ zwischen Ost- und Westküste die größten Stars (wie The Notorious B.I.G. oder Tupac Shakur) gegenseitig ins Jenseits ballerten, tat der Sache keinen Abbruch: HipHop emanzipierte sich mit Alben wie „„The Chronic“ von Dr. Dre, „„Doggystyle“ von Snoop Dogg oder „„Enter The Wu-Tang“ vom Wu-Tang Clan zur Kunstform. Allerdings blieb es den Fugees vorbehalten, mit „„The Score“ den HipHop einem echten Massenpublikum schmackhaft zu machen, während die Fantastischen Vier oder Fettes Brot das Genre ins Deutsche übersetzten und sich so einen eigenen Markt schufen.
Während ein kaufkräftiges bürgerliches Publikum sich an der nostalgischen Exotik des „„Buena Vista Social Club“ berauschte oder auf ihren High-End-Anlagen klassische Einspielungen von Nigel Kennedy und Anne-Sophie Mutter genoss, hörte die Jugend auf dem Discman das exakte Gegenteil. Es schlug die Stunde des Techno mit all seinen Spielarten. Die entsprechende Bewegung dazu war der Rave, war die „„Loveparade“ mit ihrer denkbar simplen Botschaft: „„Party!“ Zwar hatte es elektronische Musik schon vorher gegeben, von Oskar Sala bis Kraftwerk, aber erst in den neunziger Jahren erfuhr sie ihre totale Kommerzialisierung – wobei erstmals nicht das Album auf CD im Mittelpunkt stand, sondern der Track und mit ihm ein alter Bekannter: die Vinyl-Schallplatte.
Bedeutend in dieser Szene waren nicht mehr die Künstler, sondern die Clubs, in denen sie auflegten oder aufgelegt wurden. Nur wenigen sollte es gelingen, mit Konzessionen an den Rock oder den HipHop auf Albumlänge zu überzeugen. Der Big Beat genannte Hauruck-Technorock von The Prodigy oder Fatboy Slim, aber auch Aphex Twin und Underworld sind dafür die besten Beispiele. In die Zukunft wies DJ Shadow mit seinem epochalen Album „„Endtroducing“, das er ausschließlich aus den Samples von mehr als 500 verschiedenen Platten zusammenschraubte: Die Vergangenheit war kein Monolith mehr, sondern zu einem Steinbruch geworden, aus dem man sich seine eigenen Blöcke meißeln konnte. Selbst die alte Tante „„Zeit“ erkannte in „„Endtroducing“ damals sehr richtig einen „„ersten Gehversuch“ in eine neue Welt, „„in der Musik im hergebrachten, handwerklichen Sinne nichts mehr gilt“. Umso kurioser, dass sich zeitgleich im Vereinigten Königreich das Hergebrachte, Handwerkliche zur letzten Schlacht rüstete. Mit Oasis, Blur und The Verve eroberte der Britpop die Welt – und wurde noch im selben Augenblick von Radioheads Meilenstein „OK Computer“ obsolet gemacht. Wobei „„OK Computer“ eine der wenigen wirklich großen Rockplatten der neunziger Jahre war, die die technisch mögliche und allzu oft ausgeschöpfte Spieldauer von fast 80 Minuten ignorierte, um auch wirklich keine Sekunde mit Überflüssigem zu langweilen.
Am Preis eines Tonträgers änderte sich während der ganzen Dekade kaum etwas. Die Kosten für das reichlich überteuerte Stück Kunststoff setzten sich nach wie vor aus 13 Prozent für die Künstler, 26 Prozent für Label und Werbung – sowie satten 61 Prozent für den Vertrieb zusammen. Und weil die Industrie daran nichts zu ändern gedachte, änderte eben ein 18-Jähriger die Industrie: 1998 entwickelte Shawn Fanning das Programm der ersten populären Peer-to-Peer-Filesharing-Plattform. Napster war geboren – und damit das Ende gekommen für die Plattenindustrie und das Album „„as we know it“.