besinnungstage
Köln, Karsamstag. Gestern der Kreuzestod, morgen die Auferstehung, und mittendrin macht sich Mary J. Blige bereit für einen Tag der internationalen Pressegespräche. Die spontan gewährten Audienzen scheinen ungewöhnlich; abgesehen vom leicht modifizierten Re-Release ihres aktuellen Albums „No More Drama“, hat Blige keine neue Musik vorzustellen, und überhaupt fallt die R&B-Szene nicht gerade mit übertriebener europäischer Präsenz auf. Eben da liegt der Grund für die Gesprächsbereitschaft: In den USA ist man lang schon vergrätzt über den unterentwickelten Black-Music-Standort Europa, und da scheinen kleinere Anlässe Grund genug, ein bisschen Holz ins Promo-Feuer nachzulegen.
„Es ist ein guter Tag für Mary“, sagt die Betreuerin auf dem Weg zu den Gemächern des Stars und berichtet von anstrengenden Radio- und TV-Terminen am Vortag, „heute ist nur Print, da kann sie ganz sie selbst sein, ohne Schminke und so.“
Ganz sie selbst zu sein, das war nun immer eine Fähigkeit, über die Mary J. Blige in großem Maße zu verfügen schien. Drogensucht, Beziehungstrauma, generell der elende Kampf mit sich selbst – all das hat die nun schon seit einer Dekade um ihr Leben singende Frau immer ungewöhnlich rückhaltlos thematisiert. Während nun die Risse in den mit allen Mitteln aufrecht erhaltenen Fassaden noch größerer Kolleginnen wie Houston und Carey immer deutlicher werden, lässt MaryJ. Blige ihre Zuhörer entsprechend auch am vorläufigen Happy End ihrer Leidensbiographie teilhaben. Auf „No More Drama“ ist Schluss mit der Selbstverdammnis, Schluss mit der Verneinung als Lebensmotto. „Es ist tatsächlich etwas passiert“, nickt Mary, „ich hatte eine Wahl zu treffen zwischen Leben und Sterben. Ich habe das Leben gewählt. Du entscheidest dich in einem einzigen Moment im Angesicht des Todes, doch dann beginnt die Arbeit. Du musst loslassen, was dich und andere zerstört, du musst mit jedem Missbrauch aufhören und dich endlich selbst lieben lernen.“
Einmal nach ihrem Leben befragt, bemüht sich Mary, ihr Credo unmissverständlich zu formulieren. „Ich bin in erster Linie Geist, nicht bloß Fleisch und Knochen“, erklärt sie, „also muss ich meinen Geist mindestens genauso sorgfaltig ernähren wie meinen Körper.“ Für die gläubige Christin Blige heißt das: tägliches Gebet, Bibellektüre, verbindliches Leben in einer Gemeinde gleicher Überzeugung. „Ehrlich: Wie ich rumgehurt habe und mit wieviel Drogen ich mich fast umgebracht habe, geht dich natürlich rein gar nichts an“, konstatiert sie richtig, „aber ich glaube, dass ich nicht für nichts und wieder nichts durch all den Schmerz und die Tränen gegangen bin. Wenn ich so, wie ich in musikalischer Hinsicht für viele Frauen Türen ins Business geöffnet habe, auch in geisdicher Hinsicht der nachkommenden Generation ein gutes Vorbild sein kann, dann werde ich wohl oder übel von mir erzählen müssen.“ Die persönlichen Veränderungen, die gewandelten Perspektiven, schließlich die voranschreitenden Jahre, all das mag in Zukunft auch das musikalische Bekenntnis der Mary J. Blige ändern: Schon das nächste Album soll ganz ohne Samples und Programmierungen auskommen. So würde ein bisschen mehr sichtbar werden vom Soul-Background, der das Werk der Mary J. Blige jenseits der Jugend vermutlich prägen wird. „Auf der anderen Seite“, lächelt sie, „gibt es so viele tolle alte Platten, die man wiederverwenden kann, da ist es schwer zu widerstehen.“
Auf dem Rückweg über den Rhein gehen zwei halbwüchsige Punks neben mir, die sich offenbar ob des nahen Osterfestes genötigt fühlen, ihre Spiritualität zu erörtern. „Gott, das bist du selbst“, sagt der eine, und der andere stimmt zu. „Ich peil das eh nicht“, sagt er kopfschüttelnd, „was soll dir denn so’n Gott-Typ bringen, der ewig weit weg im Himmel sitzt und Däumchen dreht?“ Fragt Mary!