Bernd Gockel über den MACHTKAMPF BEI VIVA und die Verwerfungen in der Musikindustrie, die sich hinter diesem Nebenkriegsschauplatz auftun
Wenn dieses Heft am Kiosk liegt, sind die Würfel vermutlich schon gefallen: Bei VIVA in Köln wird es dann einen neuen Mehrheitsaktionär geben, der – glaubt man den branchen-internen Wetten eher Viacom denn AOL Time-Warner heißen wird. Beide US-Konzerne prügel(te)n sich um die zwei Aktienpakete (je 15,3 %), die von den heillos verschuldeten Gründungsmitgliedern EMI und Vivendi/Universal in die Arena geworfen wurden. Die britische EMI, die unlängst eine scharlachrote Bilanz vorlegte, soll von Grund auf saniert werden und stößt nicht nur Mariah Carey, sondern strategisch belanglosen Beteiligungs-Ballast ab; der französische Mischkonzern Vivendi, der sich mit einer beispiellosen Einkaufs- (und Verschuldungs)-Tour in die Top-Liga der Medien-Multis spielte, sitzt nun auf einem Schuldenberg von 19 Milliarden , der zügig abgetragen werden muss, will man nicht von ihm lebend begraben werden. Der „Economist“, die respektable Londoner Wirtschafts-Bibel, rechnete Vivendi-Lenker Jean-Marie Messier gar genüsslich vor, dass der Verschuldungsgrad seiner Firma auf einem Niveau liege, das gewöhnlich nur von de-facto-Bankrotteuren erreicht werde.
Was das für den gemeinen germanischen Musikfreund bedeutet, der die globalisierten Märkte eh für Teuf eiswerk hält? Nun, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass MTV-Mutter Viacom, sollte sie den Zuschlag bekommen, eher früher als später mit dem großen Kehraus beginnen wird: Warum sich die rückläufigen Einnahmen im TV-Werbemarkt mit VIVA teilen, wenn man als Musikclip-Monopolist doch freie Hand haben könnte?
Die Wehklagen, die ob des vermeintlichen Horror-Szenarios angestimmt wurden, kommen aus einer Ecke, aus der man sie nun wahrlich nicht erwartet hätte. Es sei ein „drohender Kulturverlust“, dräute Kultusminister Nida-Rümelin, wenn diese verdiente deutsche TV-Bastion im Meer der globalisierten Massenware untergehe. Wie wahr, wie wahr! Die Vorstellung, die No Angels künftig nur noch auf einem einzigen Clipkanal goutieren zu dürfen, treibt jedem kulturbeflissenen Connaisseur den kalten Schweiß auf die Stirn.
Es seien Krokodilstränen, die der Herr Minister da vergieße, höhnte sogar die deutsche Musikindustrie. Bei den wirklichen Problemen, mit denen die schwindsüchtige Branche zu kämpfen habe – primär dem längst überfälligen Copyright-Schutz -, blicke man in Berlin seit Jahren geflissentlich zur Seite.
In der Tat: Ob uns VIVA nun auch in Zukunft erhalten bleibt oder nicht, sollte die geringste Sorge der Musikbranche sein. Die raison d’etre, mit der VIVA 1993 an den Start ging, ist eh hinfällig geworden: Es war der Zorn auf die Londoner MTV-Zentrale (die doch die Chuzpe besaß, Clips von Grönemeyer und Westernhagen schnöde zu ignorieren!), der die deutschen Konzern-Oberen zur Gründung des deutschen Korrektivs trieb. Doch nachdem sich Gornys vollmundiges Versprechen, mindestens 40 Prozent deutsche Produkte in Umlauf zu bringen, umgehend als Makulatur erwies – und nachdem MTV, durch VIVA und andere nationale Clip-Kanäle aufgeschreckt, die paneuropäischen Vermarktungsträume sang- und klanglos beerdigte und lokale Dependancen eröffnete, ist von der damaligen Daseinsberechtigung nur noch ein Häuflein Asche geblieben. Requiescat in pace.
Hochgradig interessant ist der Ausgang des Wirtschaftskrimis trotzdem. Die Konzentration auf eine Handvoll Musik-Multis, die im Laufe der letzten Jahre ein erschreckend ungesundes Tempo erreichte, könnte möglicherweise schon bald in ihr Gegenteil umschlagen. Geschäftsbereiche, die nicht attraktive Zuwachsraten aufweisen, werden von Rendite-bewussten Industriekapitänen heutzutage eben ungerührt gleich wieder abgestoßen; der Aktienkurs, das goldene Kalb, hängt nun mal am Tropf der vierteljährlichen Bilanzen und Umsatz-Prognosen, die über Sein oder Nichtsein der Chefetage entscheiden. Und wenn das Geschäft mit der Musik, das im Zeitalter von Download und CD-Piraterie nicht gerade mit elektrisierenden growth margins glänzen kann, die Gesamtbilanz nur unnötig belastet, dann wird eben verkauft. Dann wird vielleicht Vivendi, das vor zehn Jahren noch als französischer Wasserversorger agierte, lieber auf die Pay-TV-Karte setzen. Oder auf Wireless. Oder Broadband. Oder lieber doch auf Biotechnologie.
Und dann könnte vielleicht sogar das eintreten, was in einem Roundtable-Gespräch des Branchenblattes „Musikwoche“ als durchaus denkbares Szenario der mittelfristigen Zukunft diskutiert wurde: dass es nämlich irgendwann – nachdem alle musikindustriellen Sumo-Ringer desillusioniert den Ring verlassen haben plötzlich wieder „einen gesunden Mittelstand im Musikgeschäft“ geben wird.