Berlinale, Tag 8: Kino, das Gewissheiten infrage stellt
Die Berlinale stellt Frauenfiguren in den Mittelpunkt – wie besonders ein dänischer und ein tunesischer Beitrag zeigen
Der Wettbewerb der 74. Berlinale befindet sich auf der Zielgeraden, und auch in diesem Jahr ist er von starken Frauenfiguren geprägt. Das ändert sich auch mit den Filmen nicht, die am Donnerstag in die Konkurrenz um den Goldenen und die Silbernen Bären eingestiegen sind.
Der dänische Regisseur Gustav Möller, der mit seinem Langfilmdebüt „The Guilty“ in Sundance den Publikumspreis gewann, ist erstmals in Berlin zu Gast. Im Mittelpunkt seines Gefängnisdramas „Vogter“ steht Knastwärterin Eva (Sidse Babett Knudsen), die mit Yogastunden und Nachhilfeunterricht die Resozialisierung von Gefangenen unterstützt. Als eines Tages ein junger Mann auftaucht, mit dem sie eine gemeinsame Geschichte verbindet, lässt sie sich in den Hochsicherheitstrakt versetzen.
Möllers Film erzählt von den vielfältigen Formen der Gewalt, verschweigt weder die Brutalität der Häftlinge noch die Willkür der Sicherheitsbeamten. Als Eva unter Verschluss auf Mikkel (Sebastian Bull) trifft, entwickelt sich „Vogter“ zunächst wie ein Rachedrama. Wenngleich Mikkel nicht weiß, mit wem er es da zu tun hat, ist schnell klar, dass Eva noch eine offene Rechnung zu begleichen hat. Mit kleinen Schikanen und Manipulationen sorgt sie dafür, dass der aggressive Mikkel Demütigungen und Polizeigewalt ausgesetzt ist. Dass sie dabei nie erwischt wird, ist angesichts der allgegenwärtigen Kameraüberwachung allerdings wenig glaubwürdig. Der sporadische Einsatz der körnigen Bilder der Überwachungskameras wirkt vor dem Hintergrund wenig durchdacht.
Hauptdarstellerin Sidse Babett Knudsen verkörpert mit bestechender Mimik und Gestik die Verhärtungen einer Frau, die den Schmerz des Verlusts nur allzu zu gut kennt. In den Blicken ihrer unter Strom stehenden Figur mischt sich der Hass auf einen Täter mit dem Grauen über die eigene Skrupellosigkeit.
Im Laufe der Erzählung rückt das komplexe Verhältnis von Eva und Mikkel in den Vordergrund. Die Wärterin wird den jungen Gewalttäter bei einem Einsatz schwer verletzen und sich so angreifbar machen. Mikkel nutzt es eiskalt aus, bald ist sie ein Spielball seiner Macht. So spielt der Film auf interessante Weise mit Motiven wie Strafe und Verbrechen, Schuld und Sühne, ohne dass irgendeine der Figuren dabei wirklich etwas zu gewinnen hätte.
Im 4:3-Format gedreht, spiegelt sich auf der Leinwand die Enge der inneren und äußeren Räume, in denen Möllers Figuren verharren. „Manche Leute kann man nicht retten“, sagt am Ende ein Kollege zu Eva, nicht ahnend, dass er dabei auch über sie spricht.
Mit Gewissenskonflikten spielt auch das tunesische Familiendrama „Who do I belong to (Mé el Aïn)“, das vom Zerfall einer Gesellschaft und den Wunden des Extremismus erzählt. Aïcha (Salha Nasraoui) und Brahim (Mohamed Hassine Grayaa) leben mit ihren beiden älteren Söhnen Mehdi (Malek Mechergui) und Amine (Chaker Mechergui) sowie Nesthäkchen Adam (Rayen Mechergui) auf einem Hof im Norden Tunesiens. Eines Nachts machen sich Mehdi und Amine aus dem Staub und schließen sich dem Islamischen Staat an.
Über mögliche Motive wird gar nicht erst spekuliert, der bildgewaltige Film der tunesisch-kanadischen Regisseurin Meryam Joobeur konzentriert sich auf die schmerzhafte Lücke, die das Verschwinden der Brüder im Leben von Aïcha, Brahim und Adam reißt. Als Mehdi ohne seinen Bruder, dafür aber mit einer geheimnisvollen Frau mit stahlblauen Augen (Dea Liane) an seiner Seite wieder auftaucht, entfaltet sich ein vielschichtiges psychologisches Drama mit unerwartetem Ausgang.
Joobeurs Spielfilmdebüt basiert auf ihrem Kurzfilm „Brotherhood“, der 2020 für einen Oscar nominiert war. Mit identischer Besetzung legt sie nun ein beeindruckendes Drama vor, dessen Oberfläche sich permanent verändert. Die Annahmen, worum es in dieser Geistergeschichte im Kern geht, brechen ständig zusammen und stapeln sich zu neuen Möglichkeiten auf. Auch die Figuren unterlaufen in ihrer stillen Zärtlichkeit und Verletzlichkeit die Klischees.
Die junge Regisseurin vertraut in ihrer ebenso geheimnisvollen wie packenden Geschichte der Kraft der Bilder. In „Who do I belong to“ wird mehr geschwiegen als gesprochen, vieles bleibt unsagbar. Die Kamera von Vincent Gonneville tastet die beeindruckende Landschaft nach Antworten auf die vielen Rätsel ab, die der Film stellt. Dabei gleitet die filmische Handlung immer wieder in Traumsequenzen, in denen sich ein Schleier über die körnigen Bilder legt.
Nach Mehdis Rückkehr verschwinden in der Gegend mehrere Männer spurlos. Der junge Polizist Bilal (Adam Bessa), ein Freund der Familie, muss herausfinden, was hinter den mysteriösen Ereignissen steckt. Dabei stößt er auf eine schreckliche Geschichte der Gewalt, die andernorts ihren Ursprung hat und niemanden unbeschadet lässt. Joobeur zeigt am Beispiel einer einfachen Familie, wie die Grausamkeiten des Islamischen Staats die muslimischen Gesellschaften erfassen und alle Gewissheiten infrage stellen.
Außerhalb des Wettbewerbs um die Bären ist auf der Berlinale unter anderem Thomas Arslans Heist Movie „Verbrannte Erde“ zu sehen. Die ganz auf Action geschnittene Fortsetzung seiner Trilogie über den Berufsverbrecher Trojan (Mišel Matičević), die 2010 mit „Im Schatten“ begann, spielt zwar in Berlin, von der Stadt selbst ist aber kaum was zu sehen. Stattdessen bewegt man sich mit den Figuren an den Nicht-Orten der Stadt. Baumarktparkplätze, Ausfallstraßen und Stadtbrachen sind das Revier, wo der Puls der Welt des Verbrechens schlägt.
Die Story ist schnell erzählt. Der lange Zeit untergetauchte Trojan braucht dringend Geld und lässt sich darauf ein, mit dem Profidieb Luca (Tim Seyfi), der Erlkönig-Testfahrerin Diana (Marie Leuenberger) und dem Computerexperten Chris (Bilge Bingül) ein Gemälde aus einem Museum zu holen. Der Raub könnte besser nicht laufen, allerdings hakt es bei der Übergabe. Der Auftraggeber will die vereinbarten 1,4 Millionen Euro nicht mehr zahlen, sein Mittelsmann Victor (Alexander Fehling) soll das Gemälde an sich bringen. Trojans Trupp versucht derweil, das Gemälde an das Museum zu verkaufen, dem sie es entwendet haben. Und so beginnt ein ebenso temporeiches wie spannungsgeladenes Katz-und-Maus-Spiel. Ohne grob Worte, dafür aber perfekt für die große Leinwand.
Viel geredet wird hingegen in zwei kanadischen Filmen. Kazik Radwanskis Drama „Matt und Mara“ ist im literarischen Umfeld angesiedelt. Mara (Deragh Campbell) ist eine junge Professorin für Creative Writing, Matt (Matt Johnson) ihr ehemals bester Freund, der nach jahrelanger Abwesenheit plötzlich in ihrem Seminar auftaucht. Ihr Wiedersehen weckt nicht nur alte Erinnerungen, sondern wühlt auch verdrängte Gefühle auf. Als Maras Ehemann dann seine Begleitung zu einer Konferenz absagt, springt Matt ein und die Dinge nehmen ihren Lauf. Lohnenswert für Fans literarischer Metadebatten, eine Zumutung für Freunde guter Unterhaltung.
Ähnliches gilt für den neuen Film des zweifach Oscar-nominierten Regisseurs Atom Egoyan. Der in Ägypten geborene und in Kanada lebende Armenier, der 2003 als Jury-Präsident über die Vergabe der Berlinale-Bären mitentschied, ist mit seinem neuen Film „Seven Veils“ in Berlin zu Gast. Im Mittelpunkt steht die junge Regisseurin Jeanine (Amanda Seyfried), die mit der Oper „Salome“ eine der bekanntesten Arbeiten ihres ehemaligen Liebhabers und Mentors reinszenieren soll.
Die klassische Geschichte der Salome lässt schon darauf schließen, dass es hier um unwiderte Gefühle und Rachegelüste geht und dem ist auch so. Eifersucht, Neid und Missgunst greifen durch alle Ebenen dieser Geschichte, in der Jeanine nicht nur mit den Widrigkeiten in ihrem Ensemble, sondern auch mit ihrer Beziehung zu kämpfen hat. So richtig Drive will die Geschichte, die sich zwischen eitlen Kunstdebatten und hybrider Paartherapie bewegt, dennoch nicht aufnehmen.
Mit dem Versuch, ein Bühnenstück auf die Leinwand zu heben, ist Egoyan keineswegs allein. Der Israeli Amos Gitai hat für seinen Film „Shikun“ das Theaterstück „Die Nashörner“ von Eugene Ionesco adaptiert. Er verlegt es in die israelische Stadt Be’er Scheva, wo er in einem Wohnblock eine Art Kammerspiel zur Aufführung bringt. Dabei lässt er verschiedene Menschen aus der israelischen Gesellschaft zu Wort kommen, während sich einige in Nashörner verwandeln und auf der Straße die Macht an sich reißen. Mit wenig Fantasie kann man in diesen Nashörnern die israelische Rechte erkennen. Während es einige Menschen gibt, die Widerstand leisten, ignorieren andere die Existenz der Dickhäuter oder nehmen sie schulterzuckend hin.
Die wichtigste Aussage in „Shikun“ fällt gleich zu Beginn. „Wenn man plötzlich von der unmittelbaren Gewalt betroffen ist, kann man nicht anders, als betroffen reagieren.“ Diesen Satz kann man genau so auch über die Filme von Gustav Möller und Meryam Joobeur schreiben.